Vom Antijudaismus zum Antisemitismus

von Uri R. Kaufmann

"Hepp! Hepp!", 1819. In Baden kam es 1819 in Karlsruhe, Mannheim, Pforzheim, Bühl und anderen Orten zu Ausschreitungen gegen Juden. Hintergrund war die Diskussion um Gleichberechtigung. Ein Klima der sozialen Unrast hatte sich nach Missernten im Jahr 1817 ausgebreitet. Der kolorierte Stich zeigt die Vörgänge in Frankfurt. (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, J-D-J Nr. 1.)

„Hepp! Hepp!", Kolorierter Stich der Vörgänge in Frankfurt 1819 [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, J-D-J Nr. 1.]

Die Kirche sah sich seit der Antike selbst als das neue „wahre Israel“ an. Das Judentum hatte ihrer Auffassung nach theologisch keine Existenzberechtigung mehr. An den deutschen Universitäten wurde im Gegensatz zu Frankreich jüdische Kultur nach Jesus bis ins 20. Jahrhundert nicht gelehrt. Diese negative Grundeinstellung leistete feindseligen Auffassungen Vorschub.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg sahen viele National-Konservative die Juden als Kriegsgewinnler an. Bauern waren erbost, dass nicht sie, sondern erfahrene jüdische Geschäftsleute als Kommissare zum Ankauf von Lebensmitteln angestellt wurden. In den Städten agitierte der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“, der später in der NSDAP aufging.

Nach einer Hungerkrise im Jahr 1817 brachen im August 1819 judenfeindliche Unruhen aus. Dass ein Würzburger Landtagsabgeordneter es gewagt hatte, die rechtliche Gleichstellung vorzuschlagen, beantworteten Teile der christlichen Bevölkerung mit Aggressionen, auch in Baden. Am 16. Februar 1848 hatte der Liberale Lorenz Brentano aus Bruchsal die Gleichstellung der badischen Juden beantragt. An über dreißig Orten in Baden – im Taubergrund, im Odenwald und im Kraichgau – kam es im März und April zu schweren Ausschreitungen gegen Juden. In Rust hieß die Parole „Freiheit und Gleichheit, aber d’Jude min ombracht si“. Vordergründig ging es um den Anteil von Juden am Gemeindeeigentum („Allmende“ oder „Bürgerholz“). Doch es ist nicht zu erklären, weshalb sich zugewanderte Christen einkaufen durften, Juden hingegen nach Ansicht vieler prinzipiell nicht. Juden wurden gezwungen, auf zuvor erworbene (und bezahlte) Ortsbürgerrechte oder die Ausübung amtlicher Funktionen zu verzichten.

Ein freundlicher Text und böse Bilder, 1844. Nach dem Tod von Johann Peter Hebel wurden seine Erzählungen mit judenfeindlichen Karikaturen von Fambacher (1798-1868) illustriert. Ob ein Zusammenhang mit den Emanzipationsdebatten existiert? Karikatur, Lithographie. In: Johann Peter Hebel: „Glimpf geht über Schimpf", aus: „Die Schwänke des Rheinländischen Hausfreundes", Ausgabe 1844. (Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, CX 5402.)
Nach dem Tod von Johann Peter Hebel wurden seine Erzählungen mit judenfeindlichen Karikaturen von Fambacher (1798-1868) illustriert. Karikatur, Lithographie. In: Johann Peter Hebel: „Glimpf geht über Schimpf", aus: „Die Schwänke des Rheinländischen Hausfreundes", Ausgabe 1844. [Quelle: Landesarchiv BW, GLAK, CX 5402.]

Populäre Darstellungen, etwa Terrakotta-Figuren nach Zeichnungen von Hieronimus Hess (1799–1850) aus Basel, stellten die Juden als un- oder unterbürgerlich dar. Im katholischen südbadischen Milieu organisierte sich 1862 eine Protestbewegung gegen die von der Regierung geplante Gleichstellung. Die katholische Hierarchie sah sich in die Defensive gedrängt und betrachtete die Juden als Speerspitze der abgelehnten Moderne. Die katholische und die konservativ-lutherische Presse veröffentlichten oft judenfeindliche Angriffe. In den 1880er- und 1890er-Jahren fanden antisemitische Parteien Anhänger.

Die Verarmung des Mittelstandes, die chauvinistische Propaganda gegen den „Versailler Schandfrieden“ und die Unsicherheit auf den Straßen, wo sich bewaffnete Gruppen Scharmützel lieferten, sowie die hohe Arbeitslosigkeit führten zur Ablehnung der Demokratie durch breite Bevölkerungskreise. Viele Beamte in Justiz, Verwaltung, Polizei, Armee und an Hochschulen waren demokratiefeindlich eingestellt. Der Ruf nach einem „Führer“ wurde laut. In diesem Vakuum erzielte die NSDAP schon 1930 einen erschreckenden Wahlerfolg, trotz oder wegen ihres offen erklärten Antisemitismus.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Ausstellungskatalog Gleiche Rechte für alle? Zweihundert Jahre jüdische Religionsgemeinschaft in Baden 1809-2009, hg. von Landesarchiv Baden-Württemberg, Ostfildern 2009, auf S. 120 veröffentlicht.

Zitierhinweis: Uri R. Kaufmann, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 03.09.2021.

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