“Kartoffelkrieg“ in Wolmirstedt

Matthäus Betz an das Oberamt Tübingen, 30. Oktober 1916. Vorlage: Landesarchiv BW, StAS Wü 65/36 T 1-2 Nr. 510
Matthäus Betz an das Oberamt Tübingen, 30. Oktober 1916. Vorlage: Landesarchiv BW, StAS Wü 65/36 T 1-2 Nr. 510

Das Deutsche Reich war zu Beginn des Ersten Weltkrieges ernährungswirtschaftlich nicht auf einen längeren Kampf vorbereitet. So führten die vorrangige Versorgung der Truppen, die englische Seeblockade und Missernten schnell zu dramatischen Ernährungsengpässen bei der Zivilbevölkerung. Die deshalb seit 1915 forcierte staatliche Lebensmittelbewirtschaftung verschärfte mit ihrer Überreglementierung und einer Vielzahl zuständiger Stellen den Mangel.

Auf kommunaler Ebene hatten Städte und Gemeinden 1915 Versorgungsverbände gebildet. 1916 war abzusehen, dass der Versorgungsverband Tübingen seinen Kartoffelbedarf nicht decken konnte. Also wies ihm die Reichskartoffelstelle 58.000 Zentner aus dem Überschussbezirk Wolmirstedt im Regierungsbezirk Magdeburg zu. Dann aber machte Kartoffelfäule alle Ernteberechnungen zunichte. Wolmirstedt kürzte die Lieferung um 97 Prozent. Nach der Verknappung von Getreide und Fleisch bestand nun auch noch dringlichste Kartoffelnot.

Aufgeschreckt übertrug Tübingen am 21. Oktober 1916 dem Landesproduktenhändler Matthäus Betz aus Gönningen die Verschickung der zugesagten sächsischen Kartoffeln. Von seinem zermürbenden Kartoffelkrieg berichtete Betz nach Hause und verdeutlicht uns die damalige Notlage. Seine Briefe haben sich im Staatsarchiv Sigmaringen in der Überlieferung des Oberamtes Tübingen erhalten. Am 27. Oktober lautete sein Tagesfazit: wann ich gewußt hätte, daß ich die Kartoffel so zusammentreiben müßte und eine solche Jagd hätte, wäre ich zu Hause geblieben. Beim Kreiswirtschaftsamt in Wolmirstedt hatte er morgens nach hartnäckigem Insistieren eine Kartoffelzuweisung in Mahlwinkel erhalten. Rennend wie ein Dieb erreichte er den Zug dorthin. Kurz nach der Ankunft fand er bei schon einsetzendem Frost offene Waggons aus Eisen vor. Per Telefon machte er einen gedeckten, aber noch beladenen Waggon in Tangermünde ausfindig. Mit einem Rad pendelte er bis zum Abend die 30 Kilometer zwischen den beiden Verladestationen mehrmals hin und her. Angefrorene Kartoffeln eines Ritterguts wies Betz zurück. Die dort zur Ernte eingesetzten, schlecht ernährten Soldaten hatten verdorbene Knollen nicht aussortiert. Diese Kartoffeln gingen nach Magdeburg, wo ein Streik der hungernden Arbeiter drohte. Auch über die schlechte Kost beklagte sich Betz, auf dem Land geben die Leute einfach gar nichts, weil sie sehr erbost sind über uns, weil sie die Kartoffel abgeben müssen.

Interessant fand er Klatsch zu einer Sitzung im Landratsamt Wolmirstedt: Landjägermannschaften seien aufs Strengste angewiesen worden, was immer möglich bei Kleinbauern zu konfiszieren. Die großen Güter hielten mit politischer Rückendeckung ihre Vorräte zurück und spekulierten auf höhere Preise für Saatkartoffeln. Auf die Einwendung eines Landjägers, das gebe aber böses Blut, habe der Landrat erwidert, er komme sonst um sein Amt. Der zusammenfassende Kommentar von Betz lautete: ganz trostlose Verhältnisse. Am 12. November begab sich Betz auf die Heimreise. Bereits wenige Tage später kümmerte er sich um Ersatzkartoffeln aus Nagold.

Der Mangel an Brot und Kartoffeln führte in den Wintermonaten 1916/17 zu einer Hungerkrise, die uns heute noch als Steckrübenwinter geläufig ist. Bis zum Kriegsende starben an der Heimatfront geschätzte 700.000 Menschen infolge von Hunger und Unterernährung.

 Sibylle Brühl

Quelle: Archivnachrichten 53 (2016), S.19.

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