Die Dokumentation zum Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Baden, Württemberg und Hohenzollern während der Zeit des Nationalsozialismus im Hauptstaatsarchiv Stuttgart 1962-1968

»Geistige Wiedergutmachung« als Ziel

 

Das sechsbändige Dokumentationswerk enthält die umfangreichen Forschungsergebnisse der Dokumentationsstelle. Aufnahme: LABW, HStAS, Marcella Müller.
Das sechsbändige Dokumentationswerk enthält die umfangreichen Forschungsergebnisse der Dokumentationsstelle. Aufnahme: LABW, HStAS, Marcella Müller.

Fünfzehn Jahre nach Kriegsende wurde man sich der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen mehr und mehr bewusst. Erste Forschungen zur Verfolgung und Ermordung der südwestdeutschen Juden in der NS-Zeit setzten ein. Am Anfang standen vor allem lokalhistorische Studien. Hervorzuheben ist eine von Heinz Keil im Jahr 1961 publizierte Dokumentation über die Schicksale der jüdischen Bürger von Ulm zwischen 1933 und 1945. Regionalgeschichtlich angelegt waren die Forschungen des Pfarrers Fritz Majer-Leonhard, des Leiters der Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart. Majer-Leonhard führte bei den baden-württembergischen Gemeinden statistische Erhebungen über die jüdischen Bewohner während der Herrschaft des Nationalsozialismus durch.

Die Anfänge der wissenschaftlichen Erforschung der Judenverfolgung schlossen an eine Phase des Verdrängens und Vergessens an. In der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik, mit der Diskriminierung jüdischer Mitbürger im »Dritten Reich« und mit ihrer Ermordung in den Gaskammern der Vernichtungslager weitgehend tabu. Die deutsche Politik war allerdings in den 1950er Jahren um eine Wiedergutmachung des materiellen Schadens bemüht, den die überlebenden Opfer des NS-Regimes erlitten hatten.

Nachdem um 1960 das wissenschaftliche Interesse an der nationalsozialistischen Judenverfolgung eingesetzt hatte, lag ein regionalgeschichtliches Forschungsprojekt nahe, das die Schicksale der jüdischen Bevölkerung in den drei Vorgängerstaaten Baden-Württembergs – Baden, Württemberg und Hohenzollern – zwischen 1933 und 1945 systematisch in den Blick nehmen sollte. Die Presse, vor allem die Stuttgarter Zeitung, setzte sich für ein derartiges Projekt ein. Die Nachkriegsgesellschaft wollte dadurch einen Beitrag zur geistigen Wiedergutmachung leisten. Auf Initiative der Abgeordneten Paul Hofstetter (SPD) und Dr. Johann Peter Brandenburg (FDP/DVP) sowie unterstützt von Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) wurde schließlich 1962 beim Hauptstaatsarchiv Stuttgart eine Stelle zur Dokumentation der Judenverfolgung in Südwestdeutschland eingerichtet. Die Leitung des Forschungsprojekts übernahm der damals 31-jährige Dr. Paul Sauer.

Die Dokumentationsstelle, in der bis zu zwölf Personen arbeiteten, erhob in den sechs Jahren ihres Bestehens Daten zu ca. 40.000 jüdischen Einzelschicksalen während der NS-Zeit. Ausgewertet wurden die Unterlagen einer Vielzahl von Behördenregistraturen, Archiven und Bibliotheken. Von besonderer Bedeutung waren die kommunale Überlieferung sowie die Akten der Landesämter für die Wiedergutmachung. Die Dokumentationsstelle stand auch im Kontakt mit jüdischen Emigranten aus dem deutschen Südwesten und mit internationalen Organisationen.

Zur Erfassung der Einzelschicksale wurden standardisierte Verfahren, insbesondere Erhebungsbogen, eingesetzt. Die Auswertung der ermittelten Daten musste in den 1960er Jahren noch ohne die Unterstützung der EDV erfolgen.

Die Dokumentationsstelle konnte bis 1968 die Schicksale von über 35.000 Personen aufklären, die nach 1933 als Juden verfolgt worden waren. Dies entsprach etwa 90 Prozent der gesamten jüdischen Wohnbevölkerung in Baden, Württemberg und Hohenzollern in den Jahren 1933 bis 1945. Ermittelt wurde, dass knapp 8.500 jüdische Männer und Frauen aus Südwestdeutschland während der NS-Zeit einen gewaltsamen Tod gefunden hatten.

Die Ergebnisse des Projekts wurden in einer sechsbändigen Publikation präsentiert, die zwischen 1966 und 1969 erschien. Bleibendes Resultat der geleisteten Forschungen war darüber hinaus eine ca. 2.200 Fotografien umfassende, heute im Hauptstaatsarchiv verwahrte Bildsammlung. Die Forschungsergebnisse der Dokumentationsstelle bilden bis in die Gegenwart einen wesentlichen Grundstein für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust im deutschen Südwesten.

Wolfgang Mährle

Quelle: Archivnachrichten 62 (2021), Seite 42–43.

Die Unterlagen der Dokumentationsstelle zur Erforschung der Schicksale der jüdischen Bürger Baden­Württembergs während der NS­Zeit 1933–1945 können online im Bestand LABW, HStAS EA 99/001 recherchiert werden.