Vom Hausierer zum Paketlieferdienst
Zur Entwicklung mobiler Berufe vom 18. Jahrhundert bis heute

Von Tim Schaffarczik

 Hausierwaren
Kurzwaren eines Hausierers [Quelle: Landesmuseum Württemberg, Stuttgart. Foto: Dirk Kittelberger]

Wenn heutzutage etwas im Haushalt fehlt, bestellen wir es im Internet. Liefer­dienste bringen die verschiedensten Waren direkt zu uns nach Hause, von der Pizza bis zur Waschmaschine. Sogenannte digitale Nomaden können mit Hilfe des Laptops in jedem Winkel der Welt arbeiten – vorausgesetzt es gibt einen Internetanschluss. Aus der heutigen Perspektive scheinen das Informa­tionszeitalter und seine Arbeitswelt mobiler zu sein als die Jahrhunderte zuvor. Ist Mobilität also eine Erfindung der Digitalisierung?

Mit der Abwanderung vom Land in die Städte zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann die zunehmende Trennung von Wohn- und Arbeitsort und die Menschen mussten täglich längere Wege zur Arbeit zurücklegen. Allerdings war die Gesell­schaft vorher keineswegs statisch: Mobile Berufe existieren schon seitdem es Arbeit gibt und einige davon gibt es noch heute. Allerdings waren sie von An­fang an stark von Männern dominiert, Frauen sind in diesen Berufsfeldern eine Ausnahme.

Vor allem in ländlichen Gebieten gab es zahlreiche mobile Berufe. Diese las­sen sich in die drei Zweige Warenverkauf, Dienstleistung und Unterhaltung ein­teilen. Hausierer boten Waren an, Störgeher Dienstleistungen und Schausteller Unterhaltung auf Jahrmärkten oder privaten Festen. Die beiden erstgenannten Berufe haben sich in den vergangenen Jahrhunderten stark verändert.

Das Hausieren: Von Colporteurs, Strenzierern und Eisverkäufern

 Verbotsschild
Betteln und Hausieren strengstens verboten“ [Quelle: Landesmuseum Württemberg, Stuttgart. Foto: Dirk Kittelberger]

Im 18. Jahrhundert lebte etwa Dreiviertel der Bevölkerung auf dem Land, wo sie sich größtenteils versorgten. Auch die Stadtbewohner bauten ihre Lebensmittel meist im eigenen Garten an. Hausierer boten vor allem Nahrungs­mittel an, die nicht selbst erzeugt wurden, wie Feinkost oder Kolonialwaren. Sie trugen ihre Waren anfangs in großen Holzkisten, später in Ledertaschen von Dorf zu Dorf und verkauften sie an der Haustür. Zeitgleich mit ihren Waren brachten sie Nachrichten mit ins Dorf, weswegen sie auch Colporteurs genannt wurden. Weil sie zu sozial benachteiligten Minderheiten gehörten, schlug ihnen auf ihrem Weg durch die Dörfer viel Misstrauen entgegen. Die Zünfte fürchteten die Konkurrenz zu den ansässigen Krämern. Den Händlern wurde oft Diebstahl und Betrug unterstellt.

Die Einführung der Eisenbahn und die darauffolgende industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entzogen den Hausierern ihre Lebensgrundlage. Waren konnten nun viel schneller über weite Strecken hinweg transportiert werden. Die Menschen zogen vom Land in die Städte. Als die Gewerbefreiheit in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts im gesamten Deutschen Reich eingeführt wurde, teilten sich die Läden in einzelne Sparten auf, neue Vertriebswege und Produkte entstanden und das Geschäft mit Gütern aller Art boomte – zumindest in der Stadt. Auf dem Land brachten Hausierer diese neuartigen Waren in die Dörfer. Sie verkauften nun vor allem Kurzwaren, Haushaltsgegenstände und Spielzeug. Dinge, die man immer brauchen kann, aber meist nicht zur Hand hat.

Ein umfangreiches Konvolut solcher Waren findet sich in der Sammlung des Museums der Alltagskultur. Es enthält eine repräsentative Auswahl von Kosme­tikartikeln, Kurz- und Schreibwaren aus den 30er- bis hin zu den 50er-Jah­ren, die Hausierer verkauften. Sie stammen aus einer Lagerauflösung des Großhändlers Friedrich Plocher aus Albstadt-Ebingen. Zunächst selbst als Hau­sierer tätig, ließ er sich 1921 mit seiner Familie in Ebingen nieder und eröffnete einen Großhandel für „Kurzwaren, Tabakwaren, Faden, Spezerei-Lebensmittel, ferner Wollwaren“. Dort konnten die ausschließlich männlichen Hausierer, die er Strenzierer nannte, ihre Waren kaufen oder gegen Pfand leihen. Daneben betrieb er ein Männerheim, in dem seine Strenzierer für 1,- bis 1,50 Mark pro Nacht schlafen konnten. Das Konvolut wurde 1998 vom Museum erworben und stellt einen wichtigen Zuwachs der Sammlung dar. Thomas Brune, der damalige Kurator der volkskundlichen Sammlung, schrieb im Jahresbericht:

Dieses umfangreiche Konvolut an Hausiererwaren gibt uns einen kost­baren, weil im authentischen Zusammenhang einzigartigen Einblick in ein zeittypisches Warensortiment mit der Chance sozialhistorischer Rekon­struktion eines besonderen Lebens- und Wirtschaftszusammenhangs.“

Zehn Objekte bieten einen Querschnitt des umfangreichen Warensortiments: eine Spielzeugpistole, eine Taschen­lampe, ein Federhalter mit Federn, ein Nadelsortiment, eine Zahncreme, eine Seife, ein Rasierer mit Klingen, Kinderschuhe, eine Schaumkelle und Essgabeln.

Die Strenzierer bekamen außerdem von Friedrich Plocher einen Personal­ausweis, aus dem hervorging, dass sie die Waren „auf seine Rechnung“ ver­kauften. Die Kundschaft bittet er höflichst, „den Mann tatkräftig durch Kauf zu unterstützen, damit derselbe seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise ver­dienen kann“. Auch hier wird das Misstrauen deutlich, das den Strenzierern nach wie vor entgegengebracht wurde. Dafür spricht auch ein Schild mit der Aufschrift „Hausieren verboten“.

Im 21. Jahrhundert wurden Haustürgeschäfte gesetzlich stark reglementiert. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern steht seit 2014 bei Abschluss eines Geschäftes au­ßerhalb der geschäftlichen Räume eines Unternehmens ein 14-tägiges Wider­rufsrecht ohne Angabe von Gründen zu. Diese neue Regelung, die einfache Erreichbarkeit von Waren und der Vormarsch des Internets haben dazu geführt, dass es heutzutage immer weniger Hausierer im klassischen Sinne gibt. Aller­dings haben sich aus den Hausierern andere Berufe entwickelt: Vertreter, die Waren im Auftrag eines Unternehmens an der Haustür verkaufen. Eisverkäufer, die mit dem Wagen durch die Straßen fahren. Und im wei­teren Sinne auch die Veranstalter von speziellen Partyschneeballsyste­men, die Waren während einer Zusammenkunft von Menschen im Wohnzimmer verkaufen.

Der größte Gegner der Hausierer war also stets die Mobilität der Waren selbst. Gelangten sie schneller als die Hausierer zu den Menschen, waren erstere arbeitslos.

Das Störgehen: Von Scherenschleifern, Näherinnen, Friseurinnen und Friseuren

Nähzeugtasche
Tasche einer Störschneiderin, 1900-1969 [Quelle: Landesmuseum Württemberg, Stuttgart. Foto: Dirk Kittelberger]

Der Großteil der auf dem Land lebenden Menschen im 18. Jahrhundert war arm. Was übrig blieb, verkauften oder tauschten sie. Weil das meist nicht viel war, ließ man viele Dinge reparieren. Störgeher zogen von Hof zu Hof und boten Re­paraturarbeiten an. Sie waren Handwerker auf Reisen, die ihre Arbeit im Haus des Kunden ausführten. Im Gegenzug erhielten sie dafür neben Geld auch Kost und Logis. Typische störhandwerkliche Berufe waren Kesselflicker, Scheren­schleifer, Schuster und Zimmerer. Im Gegensatz zu Handwerkern auf der Walz waren Störgeher nicht zünftisch organisiert und damit sozusagen freiberuflich tätig, weshalb sie mit Vorurteilen zu kämpfen hatten. Ihnen wurde oft vorge­worfen, qualitativ schlechtere Arbeit zu leisten, was aufgrund der erschwerten Arbeitsbedingungen und den schlechteren, mobilen Werkstätten teilweise auch zutraf. Da sie immer wieder in Konflikt mit den ansässigen Handwerkerzünften gerieten, mussten sie ihrer Arbeit meist illegal nachgehen.

Die industrielle Revolution machte auch den Störgehern zu schaffen. Mit dem Wegzug der Landbevölkerung verloren sie nach und nach ihre Arbeits­grundlage. Die eingeführte Gewerbefreiheit wiederum führte dazu, dass die Störgehertätigkeit nicht mehr illegal war. Das Misstrauen allerdings blieb. Noch heute meint „Schäraschleifr“ im schwäbischen Dialekt so viel wie Taugenichts. Trotzdem hielt sich der Beruf des Störgehens; und in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs führten ihn oft auch Frauen aus, wie das Arbeitswerkzeug einer Näherin auf der Stör zeigt. In der Sammlung des Museums der Alltagskultur befindet sich eine Nähzeugtasche mit Nadeln, Fäden, Fingerhüten und anderen Arbeitswerkzeugen einer Näherin aus den 30er- bis 50er-Jahren. Kleine Flick- und Näharbeiten waren wichtige Einkommensquellen für Frauen auf dem Land.

Eine richtige Berufsausbildung besaßen sie im Gegensatz zu Schneider­innen meist nicht, trotzdem setzte sich die Berufsbezeichnung Störschneiderin durch. Die Störschneiderin Marie Boos war in den Dörfern rund um Aulendorf unterwegs. Ihr Wirkungskreis ist auf einer Karte dokumentiert. Meist besuchte sie Dörfer im Umkreis von bis zu vier Kilometern, seltener schaffte sie es bis nach Ulm. In ihrer Nähzeugtasche befanden sich eine Blechdose mit Garn, Knöpfen und Ösen sowie eine Zigarettenschachtel mit Sicherheitsnadeln, einem Nadeletui und Farbstiften; außerdem eine Faden­rolle mit türkisfarbenem Garn, vier Fingerhüte, verschiedene Stoffreste und eine Nähfibel.

Erst in der Zeit des Wirtschaftswunders im Laufe der 50er-Jahre ver­schwand der Beruf des Störgehens. Aufgrund des gestiegenen Lebensstandards und immer günstiger werdender Produkte kaufen Menschen eher neuwertige Waren, anstatt etwas reparieren zu lassen. Deshalb existieren heute kaum noch Störgeher im klassischen Sinne. Ein anderer Umgang mit und eine veränderte Wertschätzung von Dingen hat dazu geführt, dass Störgeher arbeitslos wurden. Als moderne Störgeher könnte man mobile Friseurinnen und Friseure be­trachten, die der Familie zu Hause die Haare schneiden und für die Zeit des Aufenthalts Kaffee und Kuchen bekommen.

Mobile Berufe heute

Die mobilen Berufe der vorindustriellen Zeit sind fast aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Heute werden die wenigen übrig gebliebenen Hau­sierer und Störgeher zusammen mit den modernen Vertretern, Schaustellern, mobilen Friseuren und Imbissbetreibern unter dem Begriff Reisegewerbetreibende zusammengefasst.

Mobilität ist also keine Erfindung der Digitalisierung, aber hat mit dieser stark zugenommen. Währenddessen verlor das Hausieren und Störgehen nach und nach seine Bedeutung. Eine Entwicklung, die logisch erscheint: Eine gut ausgebaute, digitale Infrastruktur sorgt dafür, dass man Waren überall kaufen kann. Die fortlaufende Technisierung lässt uns diese bis in die letzte Ecke der Welt bestellen. Ein höherer Lebensstandard und ein verändertes Konsumver­halten sorgen dafür, dass Waren nicht repariert, sondern bevorzugt neu gekauft werden. Von Haus zu Haus geht heute nur noch der Paketbote.

Literatur

  • Lipphart, Anna/ Joos, Anja, Projektbeschreibung “Moving Targets” and Mobile Life-Worlds: The Minority of the Yeniche and the Circus in the context of regimes of mobility and residency, URL: https://www.come.uni-freiburg.de/projekte-en-en/moving-targets/ (aufgerufen am 03.08.2020).
  • Teuteberg, Hans Jürgen, Vom Hausierer und Höker zum Lebensmittelkaufmann, in: Hans Jürgen Teuteberg/Günther Wiegelmann (Hg.), Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung, Münster 1988, S. 281-289.

 

Zitierhinweis: Tim Schaffarczik, Vom Hausierer zum Paketlieferdienst. Zur Entwicklung mobiler Berufe vom 18. Jahrhundert bis heute, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

 

Hinweis: Dieser Beitrag von Tim Schaffarczik erschien unter dem Titel „Vom Hausierer zum Paketlieferdienst. Zur Entwicklung mobiler Berufe vom 18. Jahrhundert bis heute“ in der Publikation: Karin Bürkert und Matthias Möller (Hg.): Arbeit ist Arbeit ist Arbeit ist … gesammelt, bewahrt und neu betrachtet. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2019, S. 217-224.

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