Psychische Gewalt

von Nora Wohlfarth

Keine Rücksicht auf die Intimsphäre und Lieblosigkeit prägten häufig auch die Körperhygiene [Quelle: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L 1 Nr. 5013] . Zum Vergrößern bitte klicken.
Keine Rücksicht auf die Intimsphäre und Lieblosigkeit prägten häufig auch die Körperhygiene [Quelle: Landeskirchliches Archiv Stuttgart, L 1 Nr. 5013]. Aus rechtlichen Gründen wurden die Gesichtszüge der abgebildeten Personen anonymisiert. Zum Vergrößern bitte klicken.

Neben Formen körperlicher Gewalt beschreiben viele Betroffene Vorfälle und auch Strukturen, die sich als psychische Gewalt beschreiben lassen. Im Abschlussbericht der Stiftung Anerkennung und Hilfe ist auch von pädagogischer Gewalt die Rede. Das meint Handlungen, die in einem pädagogischen Kontext stattfinden, also mit der Absicht, die Kinder und Jugendlichen zu fördern. Da es dem pädagogischen Selbstverständnis dieser Zeit aber grundlegend an Wertschätzung für ihre Zielgruppe fehlte, litten die Kinder unter einem strikten Alltag voller Regeln, der ihre individuelle Entwicklung nach heutigem Wissensstand eben nicht förderte, sondern hemmte. Den Kindern wurden keine Rückzugsmöglichkeiten geboten, ständig wurde in ihre Intimsphäre eingegriffen. Erziehung stand ganz unter dem Vorzeichen der Disziplinierung, nicht der Entwicklung der Kinder. Auch Strafen, die heute als kindeswohlgefährdend bis strafrechtlich relevant eingeordnet und bewertet werden, fielen in den Bereich des als pädagogische Arbeit akzeptierten Vorgehens.

Eine pädagogische Zuwendung im Sinne des Kindeswohls dagegen bestärkt und ermutigt Kinder, berücksichtigt ihre Bedürfnisse und Wünsche und ermöglicht ihnen, sich und ihre Umwelt zu reflektieren und sich mitzuteilen. Aus diesem Grund war der Zwang für gehörlose Kinder, die Lautsprache um jeden Preis zu erlernen und als einzige Kommunikationsmöglichkeit zu nutzen, so gewaltvoll, da es ihnen nahe liegendere Kommunikationsmittel wie die Gebärdensprache und auch Mimik und Gestik nahm.

Im Folgenden soll es daher um nicht-körperliche Formen der Gewalt gehen, die in vielen Fällen, wenn auch nicht in allen, im Sinne der damaligen Vorstellungen pädagogisch motiviert waren, für Betroffene aber zu Erfahrungen von Leid und Unrecht führten.

Ein von vielen Betroffenen berichtetes Beispiel von psychischer Gewalt ist der Umgang mit Kindern, die unfreiwillig ins Bett gemacht haben („Enuresis nocturna“). Obwohl schon lange bekannt ist, dass die Kinder darauf keinen Einfluss haben, wurden Kinder für das Einnässen schwer bestraft. Viele Betroffene berichten übereinstimmend von beschämenden Ritualen, indem sie z.B. mit dem nassen Betttuch vor den anderen Kindern bloßgestellt wurden, in einer Art Spießrutenlauf durch eine Reihe anderer Kinder durchlaufen mussten oder mit eiskaltem Wasser abgespritzt wurden. Die – teils erwünschte, teils erzwungene, teils tolerierte – Beteiligung von Kindern an der Bestrafung anderer Kinder stellt ebenfalls eine Form der psychischen Gewalt dar. Das Bettnässen prägte den Alltag der Kinder umfassend: In vielen Erfassungsbögen von Einrichtungen, also schon bei Aufnahme in die Einrichtung, wird explizit abgefragt, ob ein Kind „Bettnässer“ ist und auch im Alltag ging es über Strafen für das konkrete Einnässen hinaus, wenn die Kinder ab nachmittags trotz Durst nicht mehr trinken durften, ohne Matratze schlafen oder an einem eigenen Tisch essen mussten.

Überhaupt spielten Beschämung und Abwertung im Alltag vieler Heimkinder eine große Rolle. Über die Hälfte der für die Erhebung des Runden Tischs Heimerziehung befragten Betroffenen berichten von Demütigungen in den Heimen. Die Kommunikation war häufig grundlegend von Lieblosigkeit und fehlender Wertschätzung geprägt. Viele Betroffene beschreiben, dass man ihnen im Heim das Gefühl vermittelt hat, nichts wert zu sein. Neben dem Bettnässen ist der Essenszwang ein Thema, das in den Berichten ehemaliger Heimkinder eine ganz zentrale Rolle spielt. Von Essenszwang – trotz Ekel und in vielen Fällen auch nach dem Erbrechen des Essens – berichten sehr viele Betroffene, ebenso wie von schlechtem Essen, von dem fehlenden Einfluss darauf, was man essen mag und was nicht, von langem Sitzen am Essenstisch, bis der Teller leer war und auch davon, dass zu wenig Essen da war.

Manche Betroffene litten unter dem religiösen Zwang, der in den meisten Einrichtungen lange üblich war, auch wenn sie nicht in christlicher Trägerschaft waren. Strenge Moralvorstellungen konnten auch verwendet werden, um die Kinder zu beschämen, z.B. wenn ihre Eltern nicht verheiratet waren – „Bastarde“, „Kinder der Sünde“, „uneheliche Kinder“ – oder um sie zu ängstigen mit der Vorstellung, Gott würde alle ihre Sünden sehen und bestrafen. Andere wiederum berichten von dem Trost, den ihnen der Glaube bot oder der Freude an kirchlichen Festen.

An der Grenze zur körperlichen Gewalt steht die für viele Kliniken, aber auch Kinderheime dokumentierte Isolierung von Kindern. Die Isolierung von Kindern war eine Praxis, die nicht auf die psychiatrischen Kliniken beschränkt war, sondern auch in Einrichtungen der Jugend- und der Behindertenhilfe üblich war. Diese wird im Text über medizinische Gewalt vertieft. Auch die Verlegung von Kindern und Jugendlichen auf psychiatrische Erwachsenenstationen stellt eine Form der psychischen Gewalt dar.

 

Literatur

 

Zitierhinweis: Nora Wohlfarth, Psychische Gewalt, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 22.03.2022.

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