Anmerkungen zur historischen Aufarbeitung der Heimerziehung

Von Christian Keitel
 

Fragebogen zur Vaterschaft, Jugendamt der Stadt Stuttgart, 1978 [Quelle: Landesarchiv BW, Projekt Heimerziehung 1949–1975]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Fragebogen zur Vaterschaft, Jugendamt der Stadt Stuttgart, 1978 [Quelle: Landesarchiv BW, Projekt Heimerziehung 1949–1975]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Die Ergebnisse des 2010 vorgelegten Abschlussberichts des Runden Tischs Heimerziehung wurden von zahlreichen Arbeiten aufgegriffen und vertieft. Der gemeinsame Ausgangspunkt führte zu einer weitgehend einheitlichen Perspektive, auch wurden so weitergehende Vergleiche erst möglich gemacht. In der Rückschau werden aber auch die Themen deutlich, die bislang nicht ganz so stark im Mittelpunkt standen und bei einer künftigen Beschäftigung mit dem Themenfeld berücksichtigt werden sollten.

 

Heime

Für die in den Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen war die Einrichtung selbst der zentrale Bezugsrahmen. Dieser Rahmen setzte die Regeln, ihm verdanken wir auch die meisten Quellen aus dieser Zeit. Aus diesem Grund muss die Geschichte der Heimerziehung zunächst bei der Erforschung der Heime ansetzen. Tatsächlich stellen vermutlich die meisten Arbeiten die Geschichte eines Heims in den Mittelpunkt. Darüber hinaus sind zwei Ausbaustufen erkennbar. Hier sind zunächst die Berichte über alle Heime eines Trägers zu nennen. Erschienen sind Berichte zu den Einrichtungen der beiden großen Kirchen oder auch zu anderen Trägern, wie zum Beispiel zum SOS-Kinderdorf e.V. Der Vorteil dieses Ansatzes ist es, dass die Heime durch den gemeinsamen Bezug auf den Träger als einheitliche Gruppe erscheinen und deshalb gut miteinander verglichen werden können.

Zu einer zweiten Ausbaustufe zählen Untersuchungen zur Geschichte einzelner Regionen und Länder. Bereits früh wurde der Band „Zwischen Verwahrung und Förderung zur Geschichte der Heimerziehung in Niedersachsen“ vorgelegt. Im Rheinland wurde die Nachkriegszeit als verspätete Modernisierung beschrieben. Untersucht wurden auch die staatliche Heimerziehung in Rheinland-Pfalz und die Heimerziehung in Baden-Württemberg. Noch mehr als bei den Forschungen zu den Heimen einzelner Träger treten hier die verschiedenen Sachthemen in den Vordergrund.

Beide Ausbaustufen bedürfen vorausgehender Untersuchungen zu den einzelnen Heimen. Für die weitere Erforschung der Heimerziehung stellt somit die detaillierte Untersuchung einzelner Heime den unverzichtbaren Ausgangspunkt dar. Es ist daher wichtig, dass auch die Geschichte der bislang noch nicht untersuchten Heime aufgearbeitet wird.

 

Themen

Bereits die Kapitelüberschriften des Abschlussberichts des Runden Tisches zeigen, welche Themen für die Erforschung der Heimerziehung zentral sind: Die Durchführung der Heimerziehung, das erlittene Unrecht (Strafen, sexuelle Gewalt, religiöser Zwang, Medikamentenversuche, Arbeitszwang), die oft zu geringe schulische und berufliche Förderung und die unzureichende oder fehlende Heimaufsicht. Über diese Schwerpunktsetzungen haben die Autorinnen und Autoren des Abschlussberichts das unübersichtliche Gelände der Heimerziehung kartiert und der nachfolgenden Forschung den Weg gewiesen. Es sind diese Themen, die in den Arbeiten zu einzelnen Heimen, Trägern und Regionen fast immer im Mittelpunkt stehen. Die Schwerpunktsetzung des Runden Tisches hat so die Grundlage für künftige Vergleiche gelegt.

Einen anderen Ansatz hat die Schweiz gewählt. Dort hat die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen am 26. Mai 2015 ein Forschungsdesign verabschiedet, das zwar in vielen Punkten demjenigen des Runden Tisches ähnelt, zugleich aber auch markante Unterschiede aufweist. Das von diesem Großprojekt untersuchte Feld wird letztlich weiter gefasst, um das ganze Spektrum fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen zu untersuchen.

In Deutschland setzte der Abschlussbericht neben der Konzentration auf die Heime und auf einzelne Sachthemen auch hinsichtlich der zu untersuchenden Personengruppen Schwerpunkte. Als erste Personengruppe nennt er die ehemaligen Heimkinder. Sicherlich war es richtig, sich zunächst vor allem auf sie zu konzentrieren. Nun wäre es naheliegend, daneben auch eigenständige Studien zu den anderen Gruppen der im Heim tätigen Personen und insbesondere zu den Tätern vorzunehmen. Zwar haben einige Arbeiten neben den ehemaligen Heimkindern auch ehemalige Mitarbeitende interviewt und dadurch wichtige Pionierarbeit geleistet. Die Annahme dürfte aber nicht fehlgehen, dass diejenigen der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich gravierender Vergehen schuldig gemacht haben, keine ausgeprägten Interviewneigungen besaßen. In diesen Kontext gehört die Frage, in welchem Umfang wir auch von Täterinnen sprechen müssen. Darüber hinaus wäre eine eingehende Untersuchung interessant, wo sich ein kompletter Rollentausch zwischen Heimpersonal und Heimkindern ergeben hat. Beispielsweise hören wir aus Niedersachsen von Gewalt gegen Erziehende. Nun ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei zumeist um Einzelfälle handeln dürfte. Gerade dann aber, wenn wir nähere qualifizierte Aussagen dazu machen können, erscheint auch der normale Alltag der Heimerziehung in einem klareren Licht.

 

Quellen

Die untersuchten Arbeiten zur Heimerziehung in Deutschland basieren auf drei Quellenarten: Statistiken, Interviews und Akten. Alle drei Quellengruppen sollten in eingehenden Untersuchungen systematisch auf ihre Aussagemöglichkeiten und -grenzen hin befragt werden. Im angelsächsischen Raum wurden bereits entsprechende Arbeiten vorgelegt.

Ein erster Komplex betrifft Arbeiten, in denen die Entstehung, Erhaltung und archivische Bewertung von Records (dt.: Unterlagen) im Mittelpunkt stehen. In Schottland untersuchte Tom Shaw im Auftrag des Parlaments den Missbrauch von Kindern in Erziehungsheimen zwischen 1950 und 1995. In einem langen und grundsätzlichen Kapitel ging dieser sogenannte Shaw-Report auf die überlieferten Akten ein: Akten seien für die ehemaligen Heimkinder selbst, für die Heime und auch für die Sozialgeschichte von zentraler Bedeutung. Dennoch waren die Akten ehemaliger Heimkinder oft verloren, kaum auffindbar oder mit nur wenigen Informationen versehen. Infolgedessen sei das gesamte Records Management in Schottland eingehend zu ändern. Eine andere Untersuchung eines von Heather MacNeil und Wendy Duff geführten Teams betont, dass ehemalige Heimkinder als „historians of the self“ (dt.: Historiker des Selbst) und ohne intakte Familientradition existentiell darauf angewiesen seien, die eigene Lebenserzählung aufgrund der Akten zumindest ansatzweise zu rekonstruieren. Daran anschließend wurde 2015 in Australien empfohlen, dass ehemalige Heimkinder das Recht haben sollten, ihre eigene, von ihnen selbst verfasste Lebensgeschichte den Akten hinzufügen zu können. Vergleichbare Passagen finden sich bereits heute in den meisten deutschen Archivgesetzen. Es ist aber nicht bekannt, dass davon bislang in größerem Umfang Gebrauch gemacht wurde.

Eine ganz andere Fragestellung verfolgen Arbeiten, die sich speziell mit der Quellenkritik der Akten beschäftigen. Matthias Zaft hat versucht, die in den Heimkinderakten enthaltenen Narrative in Anlehnung an Überlegungen von Hayden White näher zu beschreiben. Ganz allgemein ist zu überlegen, welche Sachverhalte aus den Lücken und einseitigen Darstellungen in den Akten abgeleitet werden können.

Neben den bereits genannten Ansätzen sollten auch Interviews und Statistiken sowie deren Verwendung im Kontext der Heimerziehungsforschung quellenkritisch näher untersucht werden, ein Feld, das nach bisherigem Kenntnisstand den zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleiben muss.

 

Fazit

Das bisher im Feld der Heimerziehung verfolgte und vom Abschlussbericht des Runden Tischs zugrunde gelegte Forschungsdesign hat sich vielfach bewährt. Es sollte zur Untersuchung der bislang noch nicht erforschten Heime, Träger und Regionen fortgeführt werden. Darüber hinaus bietet dieses Design bereits heute die Möglichkeit, einzelne Sachthemen zum Hauptthema künftiger Untersuchungen zu machen. Denkbar wäre beispielsweise eine vergleichend angelegte Studie zum Arbeitszwang. In gewisser Weise würde dadurch die Priorisierung der bisherigen Themen umgedreht: Während bislang das einzelne Heim die verbindende Klammer um verschiedene Themen war, würde dann das eine Thema die Darstellung aus verschiedenen Heimen integrieren. Weitere Forschungsfragen könnten sein:

Gibt es in der bislang weitgehend als homogen beschriebenen Gruppe der Heimkinder einzelne Gruppen, die sich deutlich abheben?
Sollten neben den ehemaligen Heimkindern nicht auch die Mitarbeitenden näher untersucht werden?
Können die bislang vor allem auf die Nachkriegszeit konzentrierten Forschungen in die vorangehenden und nachfolgenden Jahre ausgeweitet werden?
Können Übergänge in das weitere Feld staatlicher Fürsorgemaßnahmen und entsprechende Brüche dargestellt werden?
Wie stellt sich die in Deutschland praktizierte Heimerziehung im internationalen Vergleich dar?

Bei den bereits für die Forschung zugänglichen und auf den ersten Blick oft nur wenig aussagenkräftigen Akten erscheinen systematische Tiefenbohrungen besonders wichtig, denn von den Ergebnissen dieser Arbeiten könnten alle anderen, inhaltlich ausgerichteten Arbeiten profitieren. Eigenständige Arbeiten sollten sich sowohl den Narrativen der ehemaligen Heimkinder in den Interviews als auch den Narrativen der Akten widmen. Vor einer Umsetzung müssten erhebliche methodische Probleme gelöst werden. Dennoch wäre es ein schönes Ziel, wenn das selektive Schweigen einzelner Akten als Hinweis auf ganz bestimmte Sachverhalte interpretiert werden könnte.

Eine ausführlichere Version des Beitrags erschien in Keitel, Christian/Pilz, Nastasja und Wohlfarth, Nora (Hrsg.), Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit, Stuttgart 2018, S. 140-147.

 

Literatur:

  • Kraul, Margret/Schumann, Dirk/Eulzer, Rebecca/Kirchberg, Anne, Zwischen Verwahrung und Förderung: Heimerziehung in Niedersachsen 1949–1975, Leverkusen 2012.
  • MacNeil, Heather/Duff, Wendy/Dotiwalla, Alicia/Zuchniak, Karolina, If there are no records, there is no narrative: the social justice impact of records of Scottish care-leavers, in: Archival Science 18 (2018), S. 1 – 28.
  • Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen: Forschungsdesign, URL: https://www.uekadministrative-versorgungen.ch/de/Startseite.1.html (aufgerufen am 12. 06. 2018).
  • Zaft, Matthias, Der erzählte Zögling. Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung, Bielefeld 2011.

 

ZitierhinweisChristian Keitel, Anmerkungen zur historischen Aufarbeitung der Heimerziehung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 22.03.2022.

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