Aus der Geschichte lernen

Seminare zur „Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1979“ im Studium der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Stuttgart, Fakultät Sozialwesen, Studienrichtung Erziehungshilfen

von Margarete Finkel

Studierende der DHBW in der Ausstellung des Projekts. Vorlage: Nora Wohlfarth
Studierende der DHBW in der Ausstellung des Projekts. [Vorlage: Nora Wohlfarth]

Im Studium der Sozialen Arbeit in der Studienrichtung Erziehungshilfen sollen sich die Studierenden unter anderem mit Fragen des sozialpädagogischen Handelns in der Heimerziehung beschäftigen und zu einer fachlichen Positionierung gelangen. Diese muss sich notwendigerweise auf die geschichtlichen Traditionen beziehen, damit daraus gelernt und das daraus Gelernte in die heutige Praxis der Erziehungshilfen eingeordnet werden kann.

„Aus der Geschichte der Heimerziehung lernen“ bedeutet, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die über lange Zeit tabuisiert oder verschwiegen wurden. Es verlangt, sich mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Menschen zu konfrontieren, denen in jungen Jahren großes Unrecht, Demütigungen und Gewalt in den Einrichtungen zugefügt wurden. Der 2009 von der Bundesregierung eingesetzte Runde Tisch „Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren“ hat für diesen Lernprozess einen wichtigen Anfang geleistet. In Baden- Württemberg folgte die Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung u.a. durch das Landesarchiv Baden-Württemberg.

Das Seminar an der Dualen Hochschule Stuttgart, Fakultät Sozialwesen baut auf den Erkenntnissen des Projekts Heimerziehung des Landesarchivs Baden-Württemberg auf. Mit den Studierenden wird ein Blick auf den Alltag in den Einrichtungen und die Zuständigkeiten der jeweiligen Akteure geworfen. Es wird die Funktion von Gewalt und Missbrauch reflektiert sowie der Frage nachgegangen, wie es in dieser Breite möglich war, dass Kinder in den Einrichtungen derartiges Leid erfahren mussten. Kernstück des Seminars ist die Beteiligung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Studierenden von den eigenen Erfahrungen berichten und für die Fragen der Studierenden zur Verfügung stehen. Diese persönlichen Eindrücke „berühren“ anders als Zahlen und Fakten und machen die individuellen Lebensgeschichten für die Studierenden direkt erfahrbar.

Folgende Ziele sind mit dem Seminar verbunden:

  • Wissensvermittlung zur Heimerziehung ab den 1950er Jahren
  • Analyse und Reflexion der Ursachen, die zu Machtmissbrauch in den Institutionen geführt haben bzw. führen können
  • Sensibilisierung für nach wie vor bestehende Machtquellen in Einrichtungen der Erziehungshilfe inkl. Reflexion der eigenen Rolle
  • Reflexion der heutigen Praxis der Heimerziehung, insbesondere der Bedeutung von Kinderrechten und Partizipation, vor dem historischen Hintergrund
  • Beschäftigung mit der Historie der jeweiligen Praxiseinrichtung der Studierenden
  • Kennenlernen individueller Lebensgeschichten sowie Anerkennung des erfahrenen Leides in den Einrichtungen

Das Seminar wird seit 2015 jährlich von Mitarbeiterinnen des Landesarchivs Baden- Württemberg für alle Studierenden der Studienrichtung Erziehungshilfen angeboten. Die Rückmeldungen der Studierenden zum Seminar und zu den eigenen Lerneffekten fallen jedes Mal außerordentlich positiv aus. Exemplarisch bringen dies die folgenden Statements von Studierenden zum Seminar in 2022 zum Ausdruck.

„Es ist erschreckend und unvorstellbar, wie die damaligen „Erziehenden“ so sein konnten.“

„Und dann wurde immer betont: man habe keine andere Wahl gehabt, als mit den Kindern so umzugehen. Das stimmt doch nicht. “

„Das war das eindrucksvollste Seminar im gesamten Studium.“

„Das Seminar hat mich für die Frage der Gewaltausübung in meiner eigenen Einrichtung sensibilisiert. Kinder ständig anschreien, das ist auch Gewalt.“

„Ich habe mich immer wieder gefragt: Führt unser heutiges Handeln womöglich auch zu solchen Schäden und Ängsten bei den Betroffenen?“

„Ich will dieses Thema in meinem Team diskutieren, damit auch dort diese Auseinandersetzung möglich wird.“

Solche Rückmeldungen sowie die Fachkompetenz der Mitarbeiterinnen des Landesarchivs und ihre Begleitung der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen bestärken mich als zuständige Studiengangsleitung immer wieder von Neuem, das Seminar im Studium der Studienrichtung Erziehungshilfen auch zukünftig anzubieten.

 

Die Autorin ist Professorin für Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung und Studiengangsleiterin für Erziehungshilfen/Kinder- und Jugendhilfe 2 an der Dualen Hochschule Stuttgart

 

Zitierhinweis: Margarete Finkel, Aus der Geschichte lernen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 31.08.2022

 

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