„Ich bin Betroffene, kein Opfer“

Die Partizipation der Betroffenen am Aufarbeitungsprozess der Kinderverschickung

von Sina Fritsche

Repros von Postkarten, die von Verschickungskindern nach Hause geschickt wurden. Detail der im November 2023 auf dem Kongress in Bad Salzdetfurth vom Verein „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.“ präsentierten Ausstellung. [Quelle: LABW, Corinna Keunecke]
Repros von Postkarten, die von Verschickungskindern nach Hause geschickt wurden. Detail der im November 2023 auf dem Kongress in Bad Salzdetfurth vom Verein „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.“ präsentierten Ausstellung. [Quelle: LABW, Corinna Keunecke] Zum Vergrößern bitte klicken.

In den Nachkriegsjahrzehnten prägten etliche Kinderkur- und Kindererholungsheime das Bild der jungen Bundesrepublik. Exakte Zahlen gibt es nicht, sicher ist aber, dass zwischen den 50er- und 80er-Jahren mehrere Millionen Kinder in eben diese Kinderkur- und Erholungseinrichtungen verschickt wurden. Viele Betroffene berichten von Missständen, an ihnen verübte Gewalt in verschiedenen Formen und davon herrührenden Traumata.

Während die Geschichte der Heimerziehung und ihre Erforschung die zeitgeschichtliche Forschung bereits seit dem späten 20. Jahrhundert beschäftigt, rückte das Thema der Kinderverschickung in der deutschen Nachkriegszeit erst vor wenigen Jahren in das öffentliche Bewusstsein und die Auseinandersetzung mit der Thematik setzte erst in den letzten Jahren langsam ein.

Den Anstoß zu eben jenem Aufarbeitungsprozess hat die Geschichtswissenschaft den Betroffenen zu verdanken. Wie es der Historiker Hans-Walter Schmuhl treffend ausgedrückt hat, musste „der Hund zur Jagd getragen werden.“[1]

Eine der Betroffenen, die maßgeblich für den angestoßenen Aufarbeitungsprozess verantwortlich ist, ist Anja Röhl. „Die Politik und die Träger müssen sich ihrer Verantwortung stellen“, fordert Röhl.[2] Sie ist eine der Initiatorinnen und Initiatoren der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder“, einer Selbsthilfebewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, bundesweit die “Interessen aller Verschickungskinder“[3] zu vertreten, das Thema Verschickung stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, Betroffenen Gehör zu verschaffen und sie aktiv dabei zu unterstützen, das Unrecht aufzuarbeiten.

In Zusammenarbeit mit anderen Betroffenen wurde 2019 der „Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.“ (AEKV e. V.) gegründet, der sich als „wissenschaftliche Begleitung“[4] der Selbsthilfebewegung sieht. Neben dem Bundesverein haben sich auch Betroffenenvereine der einzelnen Bundesländer gebildet: In Baden-Württemberg ist das der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg e. V.“ Unter anderem durch eigene Nachforschung in Archiven, der Unterstützung von Heimortgruppen, dem Auf- und Ausbau von Selbsthilfegruppen und dem Aufbau eines eigenen Archivs beteiligen sich die Vereine aktiv an der Aufarbeitung.

Die Reaktionen auf die Initiative der Betroffenen ließen nicht lange auf sich warten. Bereits 2019 beziehungsweise Anfang 2020 griff die Presse das Thema verstärkt auf, wie beispielsweise Artikel aus der Stuttgarter Zeitung belegen.

Auf politischer Ebene führte die Initiative der Betroffenen auch zu ersten Erfolgen. Das Land Baden-Württemberg hat etwa als erstes Bundesland bereits im Februar 2020 einen Runden Tisch zum Thema Verschickungskinder in Baden-Württemberg eingerichtet, bei dem Betroffene, das Sozialministerium, das Landesarchiv Baden-Württemberg und Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Trägerinstitutionen über den Aufarbeitungsprozess diskutieren. Beim Landesarchiv finanziert die Baden-Württemberg Stiftung ein zweieinhalbjähriges Projekt zur Aufarbeitung der Kinderverschickung. Der Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg e. V.“ wird vom Sozialministerium jährlich finanziell unterstützt, befindet sich aber zurzeit im Auflösungsprozess. Andere Bundesländer richteten seitdem ebenfalls Runde Tische ein. Auf der Jugend- und Familienministerkonferenz 2022 wurde außerdem ein Antrag Baden-Württembergs für eine weitere Aufarbeitung der damaligen Ereignisse von den Ländern einstimmig angenommen.[5] 2024 folgte eine kleine Anhörung im Familienausschuss des Deutschen Bundestags. Auch die Träger der Einrichtungen geben immer mehr eigene Studien zur Erforschung der Verschickung in ihren Einrichtungen in Auftrag. „Wir sehen uns in der Verantwortung, Licht ins Dunkel zu bringen“[6], so Anette Langner, Vorstand des DRK-Landesverbandes Schleswig-Holstein.

Die wissenschaftliche Partizipation der Betroffenen am Aufarbeitungsprozess wird hauptsächlich durch den AEKV e. V. gefördert. Dieser verfügt über eine große Sammlung von Daten und Berichten Betroffener und lädt zur Mitarbeit am Aufarbeitungsprozess durch die Bürgerforschung, auch Citizen Science genannt, ein. Diese kann – beispielsweise durch Archivbesuche von Betroffenen – dazu beitragen, „einen größeren Umfang wissenschaftlich validierter Daten zu erheben“.[7] Sie ist beim Thema Kinderverschickung ein wichtiges Partizipationswerkzeug der Betroffenen und wird auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als „eine große Chance für die Wissenschaft und eine Bereicherung für die Gesellschaft“[8] gesehen. Selbstverständlich müssen dabei festgelegte wissenschaftliche Standards erfüllt beziehungsweise garantiert werden, weshalb sie nicht unumstritten ist.

Liest oder hört man von Betroffenen, wird meist schnell klar: Die Richtung des Aufarbeitungsprozesses ist gut, es gibt allerdings aus Sicht der Betroffenen noch viel zu tun und die Initiative, der Verein und alle engagierten Betroffenen wollen sich weiter mit eigener Forschung und Gesprächen mit der Politik dafür einsetzen, den Aufarbeitungsprozess voranzutreiben und auszubauen.

Beim Phänomen Kinderverschickung sind heute tatsächlich immer noch viele Fragen offen. Dass der Aufarbeitungsprozess angestoßen und fortgeführt wird, ist auf jeden Fall ein Fortschritt und Gewinn – für die Betroffenen und für die Wissenschaft. Die Partizipation der Betroffenen auf politischer und auf wissenschaftlicher Ebene war und ist aus dem Aufarbeitungsprozess nicht mehr wegzudenken.

Zur Autorin: Sina Fritsche, M.A., ist Historikerin und schloss ihr Masterstudium mit einer Arbeit zur Lebenssituation der Heimkinder in einer baden-württembergischen Einrichtung ab. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit und der Sozialgeschichte. Neben ihrer Tätigkeit als Projektmitarbeiterin beim Landesarchiv Baden-Württemberg promoviert sie an der Universität Stuttgart zur Jugendpflege- und Jugendfürsorgepolitik in Baden-Württemberg am Beispiel der Kinder- und Jugenderholung.

Anmerkungen

[1] Schmuhl, Hans-Walter, Wissenschaft und Öffentlichkeit – ein Spannungsfeld und seine Auswirkungen auf Forschungsfragen und Forschungsperspektiven, Rede auf der Abschlusstagung des Projekts Aufarbeitung Kinderverschickung in Baden-Württemberg, Stuttgart 2024.

[2] Röhl, Anja, Verschickungskinder, https://anjaroehl.de/verschickungskind/ (aufgerufen am 15.10.2024).

[3] https://verschickungsheime.de/initiative-verschickungskinder-e-v/ (aufgerufen am 10.01.2024).

[4] https://verschickungsheime.de/aekv-e-v-wissenschaftliche-begleitung/ (aufgerufen am 10.01.2024).

[5] https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/aufarbeitung-des-leids-der-verschickungskinder/ (aufgerufen am 27.06.2024).

[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/drk-zu-verschickungskindern-wir-sehen-uns-in-der-100.html (aufgerufen am 27.06.2024).

[7] https://www.bmbf.de/bmbf/de/ueber-uns/wissenschaftskommunikation-und-buergerbeteiligung/buergerbeteiligung/buergerbeteiligung_node.html (aufgerufen am 11.09.2024).

[8] Ebenda.

 

Zitierhinweis: Sina Fritsche, „Ich bin Betroffene, kein Opfer“, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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