Die Diakonie Stetten von 1849 bis Mitte der 1970er Jahre
von Gudrun Silberzahn-Jandt
Die Anfänge der Diakonie Stetten gehen auf eine Initiative des Arztes Dr. Georg Friedrich Müller zurück. Mit Unterstützung von Vertretern der evangelischen Kirche und der Inneren Mission eröffnete er 1849 in Riet bei Vaihingen/Enz mit zunächst zwei Kindern eine „Heil- und Pflegeanstalt“. Nach zwei Jahren war das Heim mit 37 Kindern bereits überbelegt, so dass sich die Verantwortlichen entschlossen, in Winterbach ein größeres Anwesen zu erwerben und umzuziehen. Im Jahr 1859 übernahm Müllers Schwager Johannes Landenberger die Leitung der Einrichtung und sorgte für ihr weiteres Wachstum. Er setzte zudem durch den Ausbau von Lehrwerkstätten wegweisende pädagogische Akzente.
Erneuter Platzmangel führte im Jahr 1863 zum Kauf des ehemaligen Schlosses in Stetten im Remstal und 1864 zum Umzug und zu einer Gründung einer zunächst eigegenständigen Abteilung für an Epilepsie erkrankte Menschen. Die beiden Bereiche, für sogenannte „schwachsinnige Kinder“ und „Epileptiker“, wurden jedoch bald zusammengeführt.
Das Leitungsgremium hatte erkannt, dass eine nicht unerhebliche Zahl dauerhaft Pflegebedürftiger hier langfristig untergebracht werden müsste. Dem wachsenden Bedarf an langfristigen Pflegeplätzen kam die Einrichtung nach, indem sie weitere Gebäude erwarb und bezog: Beispielsweise nutzte sie 1872 ein stattliches Gebäude außerhalb der Schlossparkmauer für „bildungsunfähige“ Männer als sogenanntes „Männerhaus“. Als „bildungsunfähig“ klassifizierte Frauen wurden im Gärtnerhaus untergebracht. Im benachbarten Rommelshausen fanden Menschen mit hohem Pflegebedarf Aufnahme. Dieses Haus nahm den Charakter einer „Verwahranstalt“ an. Somit entwickelte sich die Anstalt Stetten zu einer Einrichtung, die neben der Aufgabe der Bildung auch die der dauerhaften Pflege verfolgte. Zudem wurden aus ökonomischen und pädagogischen Gründen für die dauerhaft dort untergebrachten Männer und Frauen Werkstätten eingerichtet, wie eine Schuhmacherei, Bürstenbinderei, Bäckerei und – durch den Ankauf von Ländereien – eine Gärtnerei. Der stetige Ausbau der Einrichtung, der sich in dem Erwerb einzelner Gebäude, dem Bau des Schulhauses für 129 Schülerinnen und Schüler im Jahr 1900 und der Zunahme der Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern zeigte, wurde mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und den sich daran anschließenden Jahren der Not unterbrochen. In einer später verfassten Chronik heißt es dazu: es wurde “weitergefroren und gehungert“. Ende der 1920er Jahre besserten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse und erneut konnten Gebäude errichtet oder erworben werden, wie 1929 das „neue Krankenhaus“, das ehemalige Gasthaus Rößle und Wohnungen für Beschäftigte.
Als Ludwig Schlaich im Jahr 1930 die Funktion des Inspektors im dreiköpfigen Leitungsteam übernahm, konnten weitere Ideen verwirklicht werden. So wurde 1936 auf der Hangweide in Rommelshausen ein altes Fabrik- und Wohngebäude gekauft und dort arbeitsfähige, aber „anstaltsbedürftige“ Männer untergebracht. Auch legte Ludwig Schlaich sehr innovativ und beispielhaft sein Augenmerk auf die notwendige Qualifikation des meist ungelernten Personals und bot heilpflegerische Kurse an.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 31. Januar 1933 wurde von der Leitung freudig begrüßt. Auch das am 14. Juli 1933 verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in dem Menschen mit Behinderung das Recht abgesprochen wurde, sich fortzupflanzen, befürwortete die Einrichtung. Ludwig Schlaich unterstützte das nationalsozialistische Sterilisationsprogramm und drängte viele Bewohnerinnen und Bewohner zu dieser einschneidenden Maßnahme und arbeitete dabei eng mit den staatlichen Instanzen zusammen. Anders verhielt er sich bei dem „Euthanasie“-programm. Hier versuchte Ludwig Schlaich die Zahl der nach Grafeneck transportierten und dort ermordeten Menschen zu verringern, indem er Angehörige informierte und sie bat, ihre Pflegebedürftigen nach Hause zu holen. Dies gelang jedoch kaum: 70 aus der Anstalt Kork nach Stetten evakuierte Frauen und weitere 301 in der Anstalt Stetten versorgte Kranke oder als behindert etikettierte Männer, Frauen und Kinder wurden in der Zeit vom 10. September 1940 bis 12. November 1940 von Stetten nach Grafeneck transportiert und dort ermordet. Weitere 22 zuvor in Stetten lebende Menschen wurden zunächst nach Winnental und von dort aus nach Grafeneck deportiert und elf weitere in Hadamar ermordet. Kreisleiter Richard Drautz beschlagnahmte Ende 1940 die Anstalt. Die dort untergebrachten Frauen, Männer und Kinder wurden in anderen Anstalten wie Winnental, Mariaberg und Wilhelmsdorf untergebracht.
Nach Kriegsende bemühte sich Ludwig Schlaich um eine rasche Rückgabe der Gebäude und Einrichtungsgegenstände, um unverzüglich die Arbeit wieder aufnehmen zu können. Bereits im Mai 1946 konnte die Anstalt wieder Gebäude auf der Hangweide beziehen. Ein großer Teil der Bevölkerung wollte aber die Wiederaufnahme der Arbeit der Anstalt verhindern: In einer Bürgerversammlung im Dezember 1948 sprach sich die Mehrheit gegen eine Anstalt für Menschen mit Behinderung im Ort aus und hoffte vielmehr auf Ansiedlung von Industrie oder Fremdenverkehr. Die Einrichtung setzte sich jedoch durch. Nach und nach gelang es, bis 1959 die einzelnen Gebäude zurückzuerhalten und nach zum Teil aufwendigen Instandsetzungsarbeiten den Betrieb wieder aufzunehmen. In der ökonomisch schwierigen Situation bildete die Landwirtschaft eine bedeutende Grundlage der Versorgung. Die Nachfrage nach Plätzen für die Heimunterbringung war immens. 1956 lebten in den verschiedenen Häusern und Zweigstellen der Anstalt 822 Männer, Frauen und Kinder, die von 88 Pflegerinnen und Pflegern mit unterschiedlicher Qualifikation sowie drei Fachärztinnen und -ärzten versorgt wurden.
Die Menschen mit Behinderungen, die in die Anstalt aufgenommen wurden, bildeten keine einheitliche Gruppe. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie je nach dem jeweiligen Sprachgebrauch als „Pfleglinge“, „Behinderte“. „Kranke“ oder „Menschen mit Behinderung“ tituliert und somit als nicht „normal“ stigmatisiert wurden. Die Anstalt bezeichnete sich als Einrichtung für „Schwachsinnige und Epileptiker“, doch wurden hier neben den Kindern, Männern und Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen auch andere aufgenommen und versorgt: Menschen mit körperlichen Behinderungen sowie alte, pflegebedürftige Menschen. Dazu kamen Männer und Frauen, die eine psychiatrische Erkrankung hatten sowie Jugendliche, sogenannte „Fürsorgezöglinge“.
Die nächsten Jahre waren abermals geprägt von weiterem Aufbau und Vergrößerung. Dieser war begleitet von ständigem Personalmangel, auch verschärft durch veränderte Arbeitszeitrichtlinien und neu hinzugekommenen Aufgaben. So erforderte die 1952 eröffnete Berufssonderschule mit 14 Werkstätten weiteres qualifiziertes Personal. Der Personalnot wurde begegnet, indem auch vermehrt Ehrenamtliche, Praktikanten und Praktikantinnen und Zivildienstleistende eingesetzt wurden. Die Bemühungen, beispielsweise mit ehrenamtlich tätigen Sonntagshelferinnen und –helfern, und weiteren Aushilfskräften Lücken zu schließen, gelang jedoch nur bedingt.
Bewusst waren in den Gruppen Menschen mit unterschiedlich großem Hilfebedarf gemeinsam untergebracht, denn man setzte die mobilen und weniger Hilfebedürftigen als Arbeitskräfte für einfache Aufgaben ein. Pädagogisch wurde argumentiert, dass die Menschen mit schweren Behinderungen auch von den Menschen mit weniger ausgeprägten Behinderungen lernen könnten. Dass dadurch auch Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb der Gruppen entstanden, wurde nicht thematisiert und problematisiert. Neben dem Mangel an Personal war auch deren oft unzureichende Qualifikation ein drängendes Problem. Im Jahr 1958 konnte innerhalb der Anstalt für das dort eingesetzte Personal eine Schule für Heilerziehungspflege eröffnet werden. Drei Jahre später erhielt sie die staatliche Anerkennung, die Ausbildung selbst erst 1970.
Schon 1954 begannen Planungen für eine großen Neubaukomplex und damit eine Erweiterung der Einrichtung mit dem Charakter eines eigenen Dorfes auf der Hangweide. Es ging bei der Konzeption um das Zusammenwohnen und -leben von Menschen mit Behinderungen, die zu dieser Zeit als nicht ausbildungsfähig oder nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig galten. Daher war dort weder eine Schule noch eine Ausbildungsstätte vorgesehen. Lediglich die Korbmacherei sollte wieder im alten Fabrikgebäude eingerichtet werden. Im Jahr 1958 konnte die Eröffnung der Zweiganstalt und der Bezug mit insgesamt 320 Bewohnerinnen und Bewohnern als „ein Dorf Hilfloser“ gefeiert werden. Es gab dort jeweils Häuser für Frauen und Männer, die so angeordnet waren, dass je ein eigener Männer- und Frauenbereich entstand. Diese waren durch einen Zaun voneinander getrennt. Die dortigen Neubauten hatten zwar keine großen Schlafsäle, Individualität war in den beengten Räumen dennoch nicht möglich. Das Schlafzimmer für sechs Personen hatte 24 Quadratmeter, das für drei Personen zwölf. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohnten, ebenfalls auf dem mit einem Zaun von der Außenwelt abgeschlossenen Gelände, in eigens gebauten Häusern. Eine räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsort war in Stetten für die dort Beschäftigten ebenfalls unüblich.
Auch durch Zäune, Mauern, Türen und Tore, Einlass- und Ausgangskarten war diese Welt als eine ganz eigene gekennzeichnet. Sie öffnete sich, verstärkt durch gesellschaftliche Impulse, die sich für eine Normalisierung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen einsetzten, mit Beginn der 1960er Jahre nach und nach. In Stetten zeigte sich dies auf vielfältige Weise: in einem Akzentwechsel vom Bewahren hin zum Therapieren und dem Zulassen neuer Methoden, wie dem therapeutischen Reiten, dem Einsatz von Rhythmik zur Bewegungsförderung oder dem künstlerischen Gestalten in der Kreativwerkstatt. Mit der Übergabe der Leitung von Ludwig Schlaich an seinen Sohn Peter im Jahr 1967 gelang es, mehr auf den Einzelnen ausgerichtete Förderung zu etablieren. Peter Schlaich maß den modernen therapeutischen Methoden große Bedeutung zu und formulierte: „Auch der schwerst-behinderte Mitmensch wird als bildungsfähig betrachtet.“ Das bedeutete auch, dass das Konzept der Hangweide eine Veränderung erfahren musste: So wurde dort 1973 ein Therapiezentrum errichtet und die dort untergebrachten jungen Menschen beschult. Bereits zuvor war der Zaun zwischen Männer- und Frauenhäusern entfernt worden.
Der Arbeitsförderung kam neben der schulischen Bildung mehr Bedeutung zu. Arbeit sollte nicht mehr vorrangig nach den Bedarfen der Einrichtung organisiert und als Beschäftigung gesehen werden, sondern sich an den Fähigkeiten und der Förderungsmöglichkeit des Einzelnen orientieren. So wurden Testverfahren etabliert, die die Berufswahl erleichtern sollten und 1971 eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung außerhalb der Einrichtung, in Waiblingen, eröffnet.
Der Wandel in diesen Jahren offenbarte sich zudem in äußeren Zeichen, zum Beispiel darin, dass die Einrichtung ihren Namen änderte. 1969/70 wurde aus „Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische in Stetten im Remstal Anstalt der Inneren Mission“ die „Anstalt für geistig Behinderte und Anfallskranke Stetten im Remstal Werk der Diakonie“. Kurze Zeit später, um 1971/72, wurde sie abermals umbenannt in „Anstalt Stetten Heime und Ausbildungsstätten für Behinderte Stetten im Remstal Werk der Diakonie“.
Trotz der eingeleiteten Veränderungen blieben jedoch viele Strukturen unverändert. So lebten die Menschen weiterhin nach Geschlechtern getrennt, die Gestaltung des Alltags und der Freizeit wurde durch die Einrichtung vorgenommen und von einer selbstgewählten Lebensform außerhalb dieser großen Einrichtung war man ebenfalls noch weit entfernt.
Literatur
- Kalusche, Martin, „Das Schloß an der Grenze.“ Kooperation und Konfrontation mit dem Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische Stetten, Hamburg 2011.
- Silberzahn-Jandt, Gudrun, “…und da gab´s noch ein Tor, das geschlossen war“. Alltag und Entwicklung in der Anstalt Stetten 1945 bis 1975, Stetten 2018.
Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, Die Diakonie Stetten von 1849 bis Mitte der 1970er Jahre, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.