Vielfalt und Gemeinsamkeiten in der Heimlandschaft Baden-Württembergs
von Nora Wohlfarth
Zwischen 1949 und 1975 kennen wir in Baden-Württemberg etwa 650 verschiedene Erziehungseinrichtungen für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Diese Heime unterschieden sich voneinander in vielerlei Hinsicht, wie etwa in Bezug auf Größe, Geschlecht und Alter der Zöglinge, pädagogische Ausrichtung und konfessionellen Hintergrund. Von diesen Einrichtungen waren etwa 130 katholisch und 170 evangelisch; nur etwas mehr als zehn Einrichtungen unterstanden dem Land Baden-Württemberg. Außerdem gab es knapp 100 kommunale Einrichtungen und etwa 150 Einrichtungen, die von Privatpersonen, privaten Vereinen und Stiftungen getragen wurden. Kommunale Einrichtungen schließen hier auch Einrichtungen ein, die von öffentlichen Trägern wie der Arbeiterwohlfahrt, dem Deutschen Roten Kreuz oder dem Paritätischen Wohlfahrtsverband unterhalten wurden.[1] Konfessionelle Träger konnten von einer
Diese Heime können als
Über die Gesamtzahl der Kinder und Jugendlichen, die zwischen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg in Heimen untergebracht war, gibt es noch keine Zahlen, für einzelne Jahre hingegen schon. So standen im März 1958 19.262 Kinder unter Pflegeaufsicht der Jugendämter und 107.569 Minderjährige unter Amtsvormundschaft.[5] Ein Blick auf die regionale Verteilung der Einrichtungen zeigt, dass sich eine große Zahl der Heime in städtischen Ballungsgebieten befand. Von den 647 Einrichtungen, die bisher in der
Säuglingsheime – zu wenig Platz für zu viele Kinder
Im Jahr 1913 erbaute der Stuttgarter Rettungsverein vom Guten Hirten (seit 1979: Katholischer Sozialdienst e.V. Stuttgart) das Säuglings- und Kleinkinderheim St. Josef, heute die Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen.[7] Die Pflege der Kinder übernahm der Orden der Franziskanerinnen von Heiligenbronn. Das Heim sollte uneheliche Kinder im Alter von unter sechs Jahren aufnehmen, die von ihren Müttern nicht versorgt werden konnten. Bei einer Besichtigung durch das Gesundheitsamt im Jahr 1962 wurden zahlreiche Mängel festgestellt. In dem Bericht hieß es, dass die bleibenden Entwicklungsrückstände von Kleinkindern, die im Säuglingsheim St. Josef in Neuhausen waren, in den jeweilig nachfolgenden Einrichtungen wahrgenommen wurden und zu der – korrekten – Vermutung führten, dass es sich in Neuhausen um ein „personalmäßig ganz unzureichend besetztes Heim handelten muss.“[8] An diesem Beispiel wird deutlich, dass solche strukturellen Mängel, wie sie in Säuglingsheimen häufig vorkamen, auch durch engagiertes Personal nicht auszugleichen waren, da die Schwestern allein mit der rein pflegerischen Minimalversorgung überfordert waren. Der Bericht des Gesundheitsamts macht deutlich, dass in diesem Heim die Gefahr bestand, dass die grundlegendsten körperlichen Bedürfnisse der Kinder nur eingeschränkt erfüllt wurden.
Kinderheime – "das vorhandene Unkraut ausjäten .“[9]
Kinderheime und Erziehungsheime unterschieden sich merkbar. Während Kinderheime mehr oder weniger erfolgreich den Versuch wagten, einen Familienersatz und eine tatsächliche Heimat für die Kinder darzustellen, dienten Erziehungsheime der Disziplinierung von als schwer erziehbar geltenden Jugendlichen und waren bekanntermaßen deutlich strenger. Ein Auszug aus einer Zöglingsakte des Ev. Kinderheims Calw-Stammheim von 1956 macht dies ganz deutlich:
Das Evangelische Kinderheim in Calw-Stammheim wurde 1826 gegründet und ist der so genannten evangelischen Rettungshausbewegung zuzuordnen.[12] Dieser fühlte sich auch Pfarrer Dr. Christian Gottlob Barth, Gründer des Kinderheims, verpflichtet. Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wurde durch die heimeigene Landwirtschaft sichergestellt, die darüber hinaus auch eine wichtige Einnahmequelle war. Die Landwirtschaft wurde als
Der langjährige Heimleiter (1909 bis 1949) Gottlieb Gugeler verglich seine Erziehungsarbeit damit, einen verwilderten Acker wieder fruchtbar zu machen:„ Da gilt es vor allem, das vorhandene Unkraut auszujäten. Prügel gehörte dabei ebenso zum Erziehungskonzept: Wen der Herr liebhat, den züchtigt er.“[14]
Erziehungsheime für Jungen
Auch in der katholischen Tradition gab es sogenannte Rettungshäuser und diese historische Herkunft beeinflusste die Erziehungsvorstellungen in den Heimen. Allerdings gab es entscheidende Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch geprägten Heimen.
Erziehungsheime für Mädchen – Erziehungsziel: Hausfrau und Mutter
Das Fürsorgeheim in Oberurbach, gegründet 1883 als Anstalt für entlassene weibliche Strafgefangene evangelischer Konfession, widmete sich neben den entlassenen Strafgefangen auch der
Die Einrichtungen des St. Konradihaus und des Fürsorgeheims Oberurbach können beispielhaft für die oftmals strengen, geschlechtsspezifischen Erziehungsheime stehen. Individuelle Lebensziele waren der Struktur des Heims und den geschlechtsspezifischen Rollenbildern untergeordnet.
In den folgenden Einrichtungsportraits finden Sie weitere Beispiele für die genannten Einrichtungstypen.
Anmerkungen
[1] Liste Kinder- und Jugendheime.
[2] Schäfer-Walkmann/Störk-Biber/Tries, Die Zeit heilt keine Wunden, S. 47.
[3] Scheutz, Totale Institutionen, S. 5; Goffman, Asyle 1972, S. 15–18.
[4] Scheutz, Totale Institutionen, S. 5f.
[5] Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz – SchwbG), vom 29. April 1974.
[6] Bei den Orten handelt es sich um Konstanz, Aalen, Sindelfingen, Friedrichshafen, Offenburg, Baden-Baden, Göppingen, Waiblingen, Tübingen, Ludwigsburg, Villingen-Schwenningen, Heilbronn, Pforzheim, Freiburg im Breisgau, Esslingen am Neckar, Schwäbisch-Gmünd, Ulm, Reutlingen, Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim und Stuttgart.
[7] Die Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen, URL: https://www.skf-stuttgart.de/kinder-und-jugendhilfe/index.php (aufgerufen am 29.03.2022).
[8] Landesarchiv Baden-Württemberg, Aktenzeichen 022-K46, Nr. 26.
[9] Carstens u.a.,Vom Kinderheim zum Sprachheilzentrum, S. 6.
[10] Auszug Zöglingsakte, Landesarchiv Baden-Württemberg, Aktenzeichen 022-K46, Nr. 14.
[11] Ebd. Rechtschreibung wie im Original.
[12] Im Folgenden Online: Sprachheilzentrum Calw – Über uns; URL: http://www.jugendhilfe-stammheim.de/ueber-uns (aufgerufen a, 29.03.2022) Carsten u.a., Vom Kinderheim zum Sprachheilzentrum, S.2–7.
[13] Carsten, Vom Kinderheim zum Sprachheilzentrum, S. 6.
[14] Ebd.
[15] Landesarchiv Baden-Württemberg, Aktenzeichen 022-K46 Nr. 30.
[16] Fastnacht, Verwahrlost, unerziehbar, mannstoll?, S. 26f und S. 56.
Literatur
- Carstens, Helmut/Schäffer, Reinhold/Schubert, Martin/Thüringer, Curt (Hrsg.), Vom Kinderheim zum Sprachheilzentrum. 175 Jahre. Hilfe für Kinder in Calw-Stammheim, Calw 2001.
- Die Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen, URL: https://www.skf-stuttgart.de/wir-ueber-uns/chronik.php (aufgerufen am 25.03.2022)
- Fastnacht, Kathrin, Verwahrlost, unerziehbar, mannstoll? Die Mädchenrettungsanstalt Oberurbach 1883–1945, Urbach 1993.
- Goffman, Erving, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972.
- Landesarchiv Baden-Württemberg, Verzeichnis der Kinder- und Jugendheime in Baden-Württemberg 1949–1975, URL: https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/62617/Heimverzeichnis.pdf (aufgerufen am 25.03.2022).
- Schäfer-Walkmann, Susanne/Störk-Biber, Constanze/Tries, Hildegard, Die Zeit heilt keine Wunden. Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Stuttgart 2011.
- Scheutz, Martin, Totale Institutionen. Missgeleiteter Bruder oder notwendiger Begleiter der Moderne? Eine Einführung, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1 (2008), S. 3–19.
- Sprachheilzentrum Calw – Über uns, URL: http://www.sprachheilzentrum-calw.de/ueber-uns/geschichte.htm (aufgerufen am 27.04.2015).
- Landesarchiv Baden-Württemberg, Aktenzeichen 022-K46, Nr. 14, 15, 26, 30.
Dies ist eine stark gekürzte Fassung von „Fürsorge oder Unterwerfung? Vielfalt und Gemeinsamkeiten in der Heimlandschaft Baden-Württembergs“, erschienen in: Pilz, Nastasja; Seidu, Nadine und Keitel, Christian (Hg.), Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975, Stuttgart 2014.
Zitierhinweis: Nora Wohlfarth, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.