Der nationalsozialistische Einfluss auf Familie und Kindheit und die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland

von Dirk Hainbuch

 

Geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zur deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen im Schatten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Umwälzungen der Jahre 1933 bis 1945 in Bezug auf Familie, Kindheit und Sexualität konnten nicht ohne weiteres in einem der Fachbeiträge [In dem Band „Aufarbeiten im Archiv“, siehe unten] in angemessener Art behandelt werden. Dieser Exkurs kann eine Unterstützung beim Verständnis der übrigen Darstellungen in diesem Themenportal sein. Die Komplexität des Nationalsozialismus und seiner Folgen erlaubt im begrenzten Rahmen nur kurze Einblicke zu thematisch zentralen Themen. Schließlich handelt es sich um eine Publikation mit regionalem Fokus zur Landesgeschichte Baden-Württembergs und der Exkurs behandelt Themen von reichsweiter Dimension. Es obliegt dem interessierten Leser, sich selbst anhand der angeführten Forschungsliteratur näher mit diesen Themen zu befassen.

Nationalsozialistische Gewaltherrschaft 1933–1945

Während der Zeit des Nationalsozialismus galten sozial-darwinistische Ideale bei der Bevölkerungsplanung. Das Rollenbild des (männlichen) Kindes sollte der heroische Soldat sein, der mit seiner körperlichen Konstitution und nationalsozialistischen Überzeugung für den Kampf um den „ Lebensraum“ vorbereitet ist.[1] Auf dem Weg dahin musste alles andere aussortiert bzw. im damaligen Sprachgebrauch „ausgemerzt“ werden. Zu diesem Zweck wurde im Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, das zur Sterilisation hunderttausender Menschen und ungezählten erzwungenen Abtreibungen führte.[2]

Zielgruppen waren physisch und geistig behinderte Menschen, die in der Propaganda des Regimes stigmatisiert wurden. Diese Form der Eugenik war keineswegs neu, sondern seit langem wissenschaftlich diskutiert und in kleinerem Maßstab in einer Reihe westlicher Staaten praktiziert worden.[3] Neu war im Dritten Reich, dass nun auch in den Fürsorgeeinrichtungen Zentren zur Abtreibung und Zwangssterilisation „Erbkranker“ eingerichtet wurden.[4]

Einige dieser Zentren dienten nach der Gründung der Organisation „Lebensborn“ schwangeren Frauen von vermeintlich höherwertiger genetischer Abstammung zur Entbindung ihrer unehelichen bzw. unerwünschten Kinder.[5] Die Säuglinge wurden dann zur Adoption an „erbgesunde“ Eltern weitervermittelt.[6] Gleichzeitig förderte das Regime alleinerziehende ledige Mütter durch Geldleistungen, um gesetzlich verbotenen Schwangerschaftsabbrüchen entgegenzuwirken.[7] Dabei ging es nur oberflächlich um das Wohl von Mutter und Kind, sondern vielmehr um die Gewinnung zusätzlicher Soldaten und gebärfähiger Frauen in der Zukunft. Die nationalsozialistische Sexualmoral war von Grund auf patriarchal und rassistisch ausgerichtet. Dementsprechend waren von männlichen deutschen „Ariern“ mit Nicht-Deutschen gezeugte Kinder potentiell ein Gewinn für die Gesellschaft, während deutschen Frauen keine ähnlichen Freiheiten bei der Wahl ihrer Sexualpartner eingeräumt wurde.[8]

Die Nationalsozialisten führten den Tatbestand der „Rassenschande“ ein, der Beziehungen zwischen Deutschen und rassisch „Minderwertigen“ unter Strafe stellte.[9] Daraus entstandener Nachwuchs wurde – beispielsweise durch Sterilisation – scharf sanktioniert. [10] Gemäß der nationalsozialistischen Ideologie sollte junges menschliches Leben nicht mehr geschützt werden. Entweder waren die Kinder und Jugendlichen geeignet für eine Indoktrination im Sinne der NS-Ideologie und den Dienst als Soldaten oder Mütter, oder sie sollten vorbeugend aus dem „Volkskörper“ entfernt werden.[11] Wichtige Instrumente dafür waren Massenorganisationen wie die Hitlerjugend und der Reichsarbeitsdienst.[12]

Die Massenvernichtung von Menschen begann deshalb konsequent bei den Schwächsten – den Kindern. In den „Kinderfachabteilugen“ wurden nach dem Beginn der Kinder-Euthanasie im Juli 1939 bis Kriegsende zwischen 5.000 und 10.000 Kinder – viele davon Fürsorgezöglinge – ermordet. [13] Auch wenn nur wenige Heime rein nationalsozialistisch geführt wurden, blieb die über zwölf Jahre aufgestaute NS-Ideologie dennoch in den Köpfen des Personals zurück. Die NS-Propaganda wirkte in den abgeschlossenen Fürsorgeeinrichtungen wahrscheinlich weit länger nach als im Rest der Gesellschaft.[14] Hier waren die sozial-darwinistische Abgrenzung zwischen familiär aufwachsendem Normalkind und den der staatlichen Zwangserziehung unterstellten Fürsorgezöglingen am greifbarsten.

Nachkriegszeit und neues Familienbild zwischen Aufbruch und Krise

Der von deutscher Seite bis in die totale Niederlage fortgeführte Zweite Weltkrieg resultierte in tiefgreifenden demografischen, ordnungs- und sozialpolitischen Verwerfungen in den Besatzungszonen bzw. ab 1949 in den beiden deutschen Staaten.[15] In Deutschland waren bis 1945 Millionen an Toten zu beklagen. „Die gefallenen Männer hinterließen Kriegerwitwen, Kriegswaisen und damit aus dem zeitgenössischen Blickwinkel unvollständige Familien. […]“

Zwangs- und Notgemeinschaften bestimmten den Alltag.[16] 1945 gab es 20 Millionen Kinder [in den Besatzungszonen] , davon hatten 1,6 Millionen Kinder einen oder beide Elternteile verloren und 80.000–100.000 Kinder wanderten ohne Familienverband umher.[17] Trotz der enormen Zahl an gefallenen Soldaten und Kriegsgefangenen galt aber weiterhin der (Ehe-)Mann als Ernährer und die Familie – wie 1949 in Artikel 6 des Grundgesetzes festgehalten – als Kern der Gesellschaft bestehen. Auf 1000 Männer, die in vielen Fällen traumatisiert aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrten, kamen 1259 Frauen. Diese waren durch Bombenkrieg, Vertreibung und nicht selten Vergewaltigungen kaum weniger traumatisiert, aber in Abwesenheit der Männer in neue Rollen hineingewachsen.[18] Die „Normfamilie“ blieb für die folgenden Jahrzehnte die Ehe aus Mann und Frau, aus der eheliche Kinder hervorgingen. Die „unvollständigen Familien“ oder „Restfamilien“ mit nur einem alleinerziehenden Elternteil wichen davon ab und standen unter besonderer Beobachtung und Kontrolle des Staates, der bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre jedoch nicht in der Lage war ihnen besondere Unterstützungsleistungen zu gewähren.[19] Das Resultat war eine Doppelmoral in Teilen der Gesellschaft aus christlich-religiös verbrämter Züchtigkeit vor der Ehe und einer weit offeneren sexuellen Freizügigkeit. Als Anzeichen kann das Ansteigen der außerehelichen Sexualität und die höhere Toleranz in Bezug auf Abtreibungen gewertet werden. […] Für viele Frauen kam eine Ehe nach Jahren der Eigenständigkeit und Übernahme der männlichen Versorgerrolle nicht infrage.[20] Aufgabe von Politik und Verwaltung war es, auf diese Entwicklungen zu reagieren.

Dies geschah bis in die 1960er Jahre nach den tradierten Mustern. Die Rechtsgrundlagen stammten in den frühen Jahren der BRD weitgehend noch aus der Weimarer Republik, das Frauenbild und die Sexualmoral in nicht wenigen Köpfen aus dem Nationalsozialismus. Der Zugang zu Verhütungsmittel war streng reglementiert. Eine Folge war die wachsende Zahl an „Mussehen“ in den 1950er Jahren, die häufig nicht auf Liebe basierten, sondern auf ungeplanten Schwangerschaften. Dazu kamen zahlreiche alleinerziehende Mütter, deren gesellschaftliches Ansehen äußerst gering war und deren Rechtsposition ebenfalls sehr schwach war, wenn es beispielsweise zu Gerichtsverfahren wegen Unterhaltsforderungen gegenüber dem biologischen Vater kam.[21] Leidtragende waren am Ende die Kinder, die von den Jugendämtern in letzter Konsequenz den Eltern zwecks Fürsorgezwangserziehung entzogen wurden. Besonders Mädchen rückten rasch in den Fokus der Jugendfürsorge, wenn sie sich in ihrer Umgebung als auffällig oder schwer erziehbar zeigten.[22]

Anmerkungen

[1] Frauen war in der nationalsozialistischen Ideologie nur eine marginale Rolle zugedacht. Entsprechend war die Erziehung von Mädchen ausgerichtet. Bestimmend war das Leitbild der guten Mutter und treuen Ehefrau, die „rassisch erwünschte“ Kinder gebar [und so] die „Reinheit des deutschen Blutes“ erhielt. Vgl. Tibelius, Grenzverkehr, S. 81.

[2]Vgl. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. RGBl. Teil 1. S. 529. Bock, Gisela, Zum Wohle des Volkskörpers, Abtreibung und Sterilisation im Nationalsozialismus. In: Journal für Geschichte (2). 1980. S. 58–65.Schmuhl, Zwangssterilisation, S. 201–213.

[3]Roelcke, Deutscher Sonderweg?, S. 47; Wecker, Eugenik und Sexualität; Seidler/Rett, Rassenhygiene, S. 93–114.

[4] Siehe dazu den Beitrag von Gabriele Benning zum Jugendheim Oberurbach.

[5]Der Verein Lebensborn war ein Instrument der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Erklärtes Ziel war die Steigerung der Geburtenziffer „reinrassiger Arier“. Der Lebensborn war eng verbunden mit den Bestrebungen der Schutzstaffel (SS) zur Herausbildung einer germanischen „Herrenrasse“. Vgl. Williamson, Die SS, S. 7–64.

[6]Vgl. Bryant, „Himmlers Kinder“, S. 140–192 und 232–257.

[7] Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, S. 194.

[8] Vgl. Tibelius, Grenzverkehr S. 79–87 (wie Anm. 1). Im Hinblick auf die Nachkriegszeit ist die nationalsozialistische Neudefinition der Sexualität und Sexualmoral von großer Bedeutung.

[9] Eckler, Die Vormundschaftsakte.

[10] Vgl. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, S. 194 (wie Anm. 7); Pommerin, Die Sterilisierung der Rheinlandbastarde, S. 535.

[11] Der Begriff „Volkskörper“ war ein in Deutschland bis 1945 populärer Sammelbegriff zur Umschreibung der deutschen Gesellschaft. Darin vermischten sich unterschiedliche Themen wie Rechtskultur, Morallehre, Religion, Rassismus, Sozialdarwinismus und vieles mehr.

[12] Kater, Hitlerjugend. Aus dem Englischen von Peter, Jürgen. Darmstadt 2005. S. 30. Für den „Bund deutscher Mädel“vgl. ebd. S. 64 ff.

[13] Vgl. Friedländer, Der Weg zum NS-Genozid, S. 84 ff. Zu Baden-Württemberg vgl.: Silberzahn-Jandt, Gudrun, Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ während des Nationalsozialismus, S. 18–24 und 41–71.

[14] Gerade in konfessionellen und privatrechtlichen Heimen, die in der Vergangenheit bei Personalentscheidungen relativ autonom agieren konnten, setzte sich zunehmend eine staatliche und somit nationalsozialistische Einflussnahme bei der Besetzung von Erzieher- und Heimleiterpositionen durch. Vgl. Hähner-Rombach, Zur Heimgeschichte der Gustav-Werner-Stiftung , S. 29.

[15] Vgl. Kershaw, Das Ende.

[16] Vgl. Tibelius, Grenzverkehr, S. 63 f. (wie Anm. 1)

[17] Vgl. ebd., S. 69. Gehltomholt/Hering, Das verwahrloste Mädchen, S. 41. Zur Unterbringung der Kinder in der Fürsorgezwangserziehung wurden nach Kriegsende zahlreiche Kinderheime neu eröffnet, oder ehemalige Einrichtungen wiederhergestellt.

[18] Vgl. Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft, S. 34. Diese Situation führte zum einen zu einer steigenden Zahl an Ehescheidungen, aber zum anderen auch zu Notgemeinschaften in denen Frauen und Kinder mit häuslicher Gewalt des Mannes leben mussten, von dem das Einkommen abhing.

[19]Vgl. Tibelius, Grenzverkehr S. 82–87 (wie Anm. 1).

[20] Vgl. ebd., S. 83.

[21]Vgl. ebd., S. 85 und 87–104.

[22]Vgl. ebd., S. 93 und: Schmidt, Weibliche Devianz.

Literatur

  • Bock, Gisela, Zum Wohle des Volkskörpers. Abtreibung und Sterilisation im Nationalsozialismus, in: Journal für Geschichte (2). 1980.
  • Bryant, Thomas, Himmlers Kinder. Zur Geschichte der NS-Organisation Lebensborn e. v. 1935–1945, Wiesbaden 2011.
  • Buske, Sibylle, Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900–1970, Göttingen 2004.
  • Eckler, Irena (Hg.), Die Vormundschaftsakte 1935–1958. Verfolgung einer Familie wegen Rassenschande. Dokumente und Berichte aus Hamburg, Schwetzingen 1996.
  • Friedländer, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Aus dem Amerikanischen von Friedman, Johanna, München 2001.
  • Gehltomholt, Eva und Hering, Sabine, Das verwahrloste Mädchen. Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945–1965), Opladen 2006.
  • Hähner-Rombach, Sylvelyn, Das ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede…. Zur Heimgeschichte der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus und der Haus-am-Berg gGmbh 1945–1970, Frankfurt am Main 2013.
  • Kater, Michael, Hitlerjugend. Aus dem Englischen von Jürgen Peter, Darmstadt 2005.
  • Kershaw, Ian, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München 2011.
  • Niehuss, Merith Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland. 1945–1960. Göttingen 2001.
  • Pommerin, Reiner, Die Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918–1937, Düsseldorf 2004.
  • Roelcke, Volker, Deutscher Sonderweg? Die eugenische Bewegung in europäischer Perspektive bis in die 1930er Jahre, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf (Hg.). Euthanasie-Aktion T4 und ihre Opfer: Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart, Paderborn 2010.
  • Schmidt, Heike, Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Opladen 2002.
  • Schmuhl, Hans-Werner, Zwangssterilisation, in: Robert Jütte (Hg.): Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011.
  • Seidler, Horst/Rett, Andreas, Rassenhygiene. Ein Weg in den Nationalsozialismus, Wien 1988.
  • Silberzahn-Jandt, Gudrun, Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ während des Nationalsozialismus. Strukturen – Orte – Biographien, Esslinger Studien (24), Ostfildern 2015.
  • Tibelius, Simone, Grenzverkehr. Eine transnationale Rechts- und Sozialgeschichte von Vaterschaft und Unterhalt (1940–1980), in: Annette Kehnel, Klaus-Jürgen Matz, Johannes Paulmann, Erich Pelzer und Peter Steinbach (Hg.): Mannheimer Historische Forschungen (37), St. Ingbert 2016.
  • Wecker, Regina (Hg.), Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz 1900–1960, Zürich 2013.
  • Williamson, Gordon, Die SS: Hitlers Instrument der Macht. Die Geschichte der SS von der Schutzstaffel bis zur Waffen–SS. Übersetzt von Walter Wurzer, Maria Graßhoff, Alex Klubertanz. Fränkisch-Crumbach 2013.

 

Dieser Text wurde für die Online-Präsentation gekürzt. Der Text ist zuerst erschienen in: Christian Keitel, Nastasja Pilz und Nora Wohlfarth (Hg.): Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit. Stuttgart 2018.

 

ZitierhinweisDirk Hainbuch, Der nationalsozialistische Einfluss auf Familie und Kindheit und die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 09.02.2022.

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