„Euthanasie" im deutschen Südwesten: Die sogenannten T4-Morde

von Gudrun Silberzahn-Jandt

 

Gedenkstein an die Opfer der “T4-Aktion“ in der Anstalt Stetten [Quelle: Andreas Stiene, Stetten]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Gedenkstein an die Opfer der “T4-Aktion“ in der Anstalt Stetten [Quelle: Andreas Stiene, Stetten]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Mehr als die Hälfte aller in Anstalten, Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrien im heutigen Baden-Württemberg untergebrachten Frauen, Männer und Kinder wurden im Rahmen der „Aktion T4“ 1940 in Grafeneck oder nach dessen Schließung 1941 in Hadamar mit Kohlenmonoxid ermordet. Die Bezeichnung „Aktion T4" wurde erst nach 1945 gebräuchlich und bezieht sich auf die Adresse der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo dieser Massenmord vorbereitet und organisiert wurde. Das Schloss Grafeneck war von 1929 bis zu seiner Beschlagnahmung und Räumung eine Einrichtung der Samariterstiftung für Menschen mit Behinderung. Grafeneck wurde zur ersten von insgesamt sechs Massenmordanstalten in Deutschland.

Adolf Hitler ermächtigte in einem im Oktober 1939 verfassten und auf den 1. September zurückdatierten geheimen Schreiben den Leiter seiner Kanzlei Philipp Bouhler und seinen Leibarzt Dr. Karl Brandt Morde an Kranken oder Menschen mit Behinderung durchzuführen. Wenige Tage darauf, am 9. Oktober 1939, begann mit einem von Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti unterzeichneten Runderlass die systematische Erfassung der in Anstalten untergebrachten Personen. Auf von der „T4-Zentrale“ verschickten Meldebögen mussten die Anstaltsleitungen neben Angaben zu ihrer Einrichtung auch diejenigen aufführen, die entweder an „Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankungen, Schwachsinn, Kriegsbeschädigungen“ litten, nicht produktiv arbeiten konnten, als Straffällige verwahrt wurden oder bereits länger als fünf Jahre untergebracht waren. Zudem wurde nach der Staatsbürgerschaft gefragt und ob jemand Jude sei oder jüdische Vorfahren habe. Diese anschließend nach Berlin zurückgesandten Erfassungen dienten der Selektion der Opfer. Das Kriterium, nach denen das Leben der Menschen beurteilt und sie entweder als „lebenswert“ oder als „lebensunwert“ kategorisiert wurden, war in erster Linie ihre Produktivität. Wurden sie als arbeitsfähig beschrieben, war ihre Überlebenschance höher. Diese interne Selektionslogik zeigt zudem unterschiedliche geschlechtsspezifische Bewertungen von Arbeit. Die der in den Anstalten versorgten Männer in der Landwirtschaft oder in den einrichtungseigenen Handwerksbetrieben wurde als produktiver bewertet als die haushälterischen Tätigkeiten der Frauen. Während viele der Menschen, die damals als „schwachsinnig“ bezeichnet worden waren, innerhalb der Anstalt in die dortige Arbeitsstruktur eingebunden waren, gelang dies deutlich seltener bei psychisch Kranken. Dies könnte den Befund der quantitativen Opferanalyse erklären, nach der an Schizophrenie erkrankte Frauen überproportional häufig auf den Selektionslisten standen.

Heinrich Hermann, Leiter der Taubstummenanstalt in Wilhelmsdorf, weigerte sich bei der Erfassung der Kranken, der Grundlage ihrer späteren Vernichtung, mitzuwirken: „Ich kenne den Zweck dieser planwirtschaftlichen Erfassung. Ich weiß von den vielen Todesnachrichten, welche die Angehörigen verschiedener württembergischer und badischer Heil- und Pflegeanstalten in den letzten Monaten erhalten haben.“ Sein Widerstand führte möglicherweise zu einer geringeren Zahl von Opfern. Gänzlich verhindern konnte er die Morde aber nicht. Im Herbst 1940 kam eine Kommission aus Stuttgart in die Einrichtung und füllte die Meldebögen selber aus. Im März 1941 wurden 19 „gehörlose Menschen“ in die Mordanstalt Hadamar transportiert. Nur einer von ihnen überlebte und kehrte im September 1941 nach Wilhelmsdorf zurück.

Auf Länderebene verantworteten die höchsten Medizinalbeamten der Landesministerien den systematischen Massenmord. Auf württembergischer Seite waren dies Dr. Otto Mauthe und Dr. Eugen Stähle, auf badischer Dr. Ludwig Sprauer. Am 18. Januar 1940 wurden in dem ersten Transport nach Grafeneck, der zugleich der erste im gesamten Deutschen Reich war, 25 Männer aus der bayrischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar dorthin gebracht und noch am gleichen Tag ermordet. Über diese als „Geheim“ deklarierte Mordaktion informierte Eugen Stähle am 16. Februar 1940 die württembergischen Anstaltsleiter und verpflichtete sie zum Stillschweigen.

Seit etwa Frühjahr 1940 wusste auch die Bevölkerung gerüchteweise und durch - unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit erzählte - Geschichten und Bemerkungen von Morden an zuvor in Anstalten und Kliniken untergebrachten Kranken und Menschen mit Behinderung in Grafeneck. Es entstand aber weder unter den Angehörigen der Opfer noch unter den Anstaltsleitungen nennenswerter Widerstand. Mit einem am 6. Juli 1940 verfassten Protestschreiben wandte sich der württembergische Landesbischof Theophil Wurm an den Reichskirchenminister Hans Kerll und kritisierte das Morden. Eine weitere ausführliche Protestnote an Reichsinnenminister Wilhelm Frick formulierte er am 19. Juli 1940. Dennoch blieb er in seiner Kritik loyal zum nationalsozialistischen Staat und argumentierte mit dem Verweis seiner Sorge um die Gemeinschaft.

Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus in Schwäbisch Hall mit der Inschrift "Ich habe dich unauslöschlich in meine Hände eingezeichnet, spricht der Herr. Jes. 49, 16" [Quelle: Diakoneo. Diakarchiv Schwäbisch Hall]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus in Schwäbisch Hall mit der Inschrift "Ich habe dich unauslöschlich in meine Hände eingezeichnet, spricht der Herr. Jes. 49, 16" [Quelle: Diakoneo. Diakarchiv Schwäbisch Hall]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Einige Anstaltsvorsteher, so Pfarrer Wilhelm Breuning, Leiter des Gottlob-Weißer-Hauses in Schwäbisch Hall und Ludwig Schlaich, Leiter der Anstalt Stetten im Remstal, bemühten sich, Menschen zu retten. Sie informierten die Angehörigen in verschlüsselten Botschaften, ihre Pflegbedürftigen zu sich zu holen. Belegt sind solche Verlegungen nach Hause, bzw. eine Wiederaufnahme in der Anstalt nach Beendigung der Aktion „T4“ für verschiedene Einrichtungen, wie das Christophsbad in Göppingen, die Heil- und Pflegeanstalt Stetten oder das Gottlob-Weißer-Haus in Schwäbisch Hall. Es ist jedoch davon auszugehen, dass in den meisten Briefen die Gefahr nicht eindeutig genannt und daher viele Angehörigen die vage formulierte Andeutung einer bedrohlichen Situation nicht verstanden.

Ludwig Schlaich bemühte sich, nachdem bereits der dritte Transport nach Grafeneck am 18. September 1940 stattgefunden hatte, darum, weitere Deportationen und Morde zu verhindern. Ihm gelang es am 15. Oktober 1940, mit Herbert Linden, der im Reichsinnenministerium für die Planung und Steuerung der Morde zuständig war, telefonisch zu verhandeln. Er erwirkte einen Stopp der für den nächsten Tag vorgesehenen Deportation und eine erneute Prüfung der auf der Selektionsliste aufgeführten Menschen. Daraufhin verfasste die Anstaltsärztin Dr. Leonie Fürst gemeinsam mit der Pflegerin Frida Rohleder neue, günstigere Gutachten über die in der Anstalt Betreuten. Sie bescheinigten allen ein hohes Arbeitsvermögen und wenig Pflegebedarf. So lautete ein solch knappes Testat beispielsweise „Geistig vollständig normal. Körperlich gelähmt. Webt in der Webschule“. Diese positiven Zeugnisse konnten die Deportation dennoch nicht verhindern: Am 23. Oktober 1940 besuchte Dr. Curt Schmalenbach, der später als Arzt in der Mordanstalt Sonnenstein bei Pirna Euthanasie-Morde verantwortete, die Pflegeeinrichtung in Stetten. Dort ließ er sich die zur Deportation Vorgesehenen vorführen und nahm sich maximal zwei Minuten Zeit für jede und jeden Einzelnen. Vier Personen wurden so durch zähes Verhandeln von der Transportliste gestrichen. Danach erfolgten jedoch noch drei weitere Deportationen.

Die große Zahl von Todesfällen bei Behinderten und psychisch Kranken führte zu zunehmenden Gerüchten in der Bevölkerung und zu weiteren kirchlichen Protesten. Der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen prangerte als erster am 3. August 1941 die Morde öffentlich an. Die Beobachtung der Stimmung in der Bevölkerung und die Unterstützung der NS-Politik wurde dem Regime mit Kriegsbeginn immer wichtiger. Um einer aufkeimenden Unruhe in der Bevölkerung entgegenzutreten, beendete das NS-Regime den seither in zentralen Tötungsanstalten wie Grafeneck und Hadamar erfolgte industriellen Massenmord im August 1941. Dies bedeutete jedoch keinen Stopp des Mordens. Vielmehr führten nun, legitimiert durch die Regierung und angeordnet durch die jeweilige Klinikleitung, Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger im Geheimen Morde aus. In den Heilanstalten Weinsberg, Winnental, Wiesloch, Schussenried, Weissenau und Zwiefalten vernachlässigten sie bewusst die Pflegebedürftigen, ließen sie verhungern oder verabreichten ihnen eine Überdosis an Schlaf- oder Schmerzmittel. Ob sich noch weitere Einrichtungen beteiligten, ist bisher noch nicht erforscht. Ebenso wenig weiß man über die jeweilige Zahl der Ermordeten.

Erste Formen der Erinnerung und des Gedenkens gingen die auf Initiative Einzelner zurück oder von den Einrichtungen und ihren Trägern aus. 1962 wurde auf dem Friedhof des Samariterstifts in Grafeneck, das 1947 wieder als Einrichtung für Menschen mit Behinderung seine Arbeit aufgenommen hatte, ein Steinkreuz errichtet. 1990 wurde Grafeneck als Gedenkstätte und zentraler Erinnerungsort umgestaltet und seit 2005 die Dokumentationsstätte dort eröffnet. Mitte der 1980er Jahre begann eine breitere wissenschaftliche wie gesellschaftliche Befassung mit den NS-Massenmorden. Viele der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten setzten sich mit ihrer Geschichte auseinander und ließen künstlerisch gestaltete Gedenkstätten – oft mit der namentlichen Nennung der Opfer errichten. Erst seit wenigen Jahren richtet sich der Blick auf Täter und Täterinnen, sei es auf die, die vom Schreibtisch aus die Mordaktionen verantworteten, in den Tötungsanstalten arbeiteten. Auch nach der Rolle von Angehörigen und danach, ob sie Widerstand leisteten oder den Tod ganz im Sinne der NS-Ideologie gar befürworteten, wird erst in jüngster Vergangenheit gefragt.
 

Literatur

  • Bing von Häfen, Inga, Die Verantwortung ist schwer: Euthanasiemorde an Pfleglingen der Zieglerschen Anstalten, 2. Aufl., Ostfildern 2013.
  • Kalusche, Martin, Das Schloß an der Grenze. Kooperation und Konfrontation mit dem Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische Stetten i.R., 2. Aufl., Hamburg 2011
  • Silberzahn-Jandt, Gudrun, Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und Euthanasie während des Nationalsozialismus. Strukturen – Orte – Biographien, Ostfildern 2015.
     

Zitierhinweis: Gudrun Silberzahn-Jandt, „Euthanasie" im deutschen Südwesten: Die sogenannten T4-Morde, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 29.03.2022

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