Der Behindertenbegriff der Nachkriegszeit

von Verena Mack

Beschulung „schwachsinniger“ Kinder auf dem Land, 1930 [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg, A_96-1_Nr._2769_Bild_63_(5-182919-63)  
Beschulung „schwachsinniger“ Kinder auf dem Land, 1930 [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg, A 96-1 Nr. 2769 Bild 63]

Wenn wir den Begriff „Behinderung“ hören, haben wir sehr oft ganz klare Vorstellungen, was für eine Personengruppe damit zu bezeichnen ist: Es geht um „die Behinderten“, die von „uns Normalen“ auf irgendeine Weise – sei es ob taub, blind, verhaltensauffällig, bewegungseingeschränkt, usw. – abweichen, dadurch in einer schlechteren Lebenssituation sind und unsere Hilfe und unser Mitleid brauchen. Behinderung ist also eine Abweichung vom „normalen“ Leben, die es bestmöglich zu beheben gilt; so zumindest eine weit akzeptierte Auslegung. Doch wer über seinen Kulturkreis hinausblickt oder eine andere Zeit betrachtet stellt schnell fest, dass die Personengruppe, die wir als Gesellschaft mit dem Label „Behindert“ abstempeln, sehr wandelbar ist.

Doch woher kommt der Begriff „Behinderung“ überhaupt? In der ersten Auflage des Deutschen Wörterbuchs der Gebrüder Grimm von 1854 findet sich unter dem Stichwort „Behindern“ „verhindern: wart ich daran behindert“ und „um uns das Vorrücken zu behindern“. Die Substantivierung „Behinderung“ wird synonym zu „Hindernis“ und „Blockade“ genutzt. Eine Zuschreibung des Begriffs zu bestimmten Menschengruppen findet sich zu dieser Zeit nicht. Stattdessen finden wir oft abwertend verwendete Begriffe wie „Blinde“, „Taubstumme“ „Idioten“, „Schwachsinnige“, „Krüppel“ oder „Irre“, um Teilgruppen von dem zu beschreiben, was wir heute unter „Menschen mit Behinderung“ zusammenfassen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich der Begriff Behinderung als Beschreibung langfristiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen finden, der zunächst aber ausschließlich zur Beschreibung von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, den „Körperbehinderten“ Anwendung findet. Grund hierfür war auch die große Zahl an kriegsverletzten Soldaten, die man nicht mit dem abwertenden Begriff „Krüppel“ bezeichnen wollte und stattdessen auf Bezeichnungen wie „Schwerbeschädigter“ oder eben „Körperbehinderter“ neben dem üblichen „Kriegsverletzten“ auswich. Grundsätzlich war es üblich, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und auch in der rechtlichen Stellung streng danach zu unterscheiden, wie eine Person „behindert“ wurde. Der Kriegsversehrte hatte dabei gesellschaftlich mit Abstand den höchsten Stellenwert, gefolgt von Menschen, deren (körperliche) Behinderung auf einen Unfall oder Krankheit zurückzuführen war. Als Letztes kamen Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen, wobei die Trennung gerade im Fall der „Zivilbehinderten“ im Besonderen bei im Kindesalter erlittenen Beeinträchtigungen nicht immer so deutlich vollzogen wurde. Hier waren es dann vor allem die ersten beiden genannten Gruppen, die sich darum bemühten, von den mehrfach- oder schwerstbehinderten „Siechen“ und „Krüppeln“ abgegrenzt zu werden, um ihre eigene gesellschaftliche Situation zu bessern.

Einzug in die Gesetztestexte findet der Begriff „Behindert“ 1934 im Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens und im Kontext von geistigen Behinderungen im Reichsschulpflichtgesetz von 1938 im Paragraf „Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder“. Der Begriff Behinderung wurde hier verwendet, um zwischen sogenannten bildungsfähigen „Behinderten“, die man in den Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik als (eingeschränkte) Reserve für den Arbeitsmarkt erkannt hatte und den bildungsunfähigen „Krüppeln“ und „Idioten“, die aus rassenhygienischer Sicht als minderwertig und nutzlos galten, unterscheiden zu können. Die in der NS-Zeit verübten Morde an Menschen mit Behinderungen richteten sich vor allem gegen Personen, die dieser zweiten Gruppe zugerechnet wurden.

In der Nachkriegszeit hielt man in Westdeutschland an den in der Weimarer Republik entwickelten Begriffen und Behinderungskonzepten fest, etwa mit dem Schwerbeschädigtengesetz von 1953. Auch hielt sich weiterhin der Begriff „Krüppel“ im Sprachgebrauch für die Gruppe der „Zivilgeschädigten“. Ausgehend von Forderungen von Organisationen körperbehinderter Menschen wurde der Krüppelbegriff Anfang der 60er Jahre von dem Begriff des Körperbehinderten abgelöst. Etwas länger dauerte es, bis sich auch der Begriff des „Geistigbehinderten“ gegenüber den älteren Bezeichnungen von „Siecher“, „Irrer“ o.ä. durchsetzt; auch hier ging die Initiative von Betroffenenverbänden, wie der 1958 gegründeten „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V.“, aus.

Im Laufe der 60er Jahre konnte sich der Begriff „Behinderung“ langsam aber sicher nicht nur in der Rechtssprache, sondern auch allgemein durchsetzen. Neben den vor allem durch die vielen Kriegsgeschädigten angefachten gesellschaftlichen Diskursen dürfte die starke Präsenz des Themas durch den medienpräsenten Contergan-Skandal zu einer Änderung der Sicht auch auf die bisher meist eher verachteten „Zivilbehinderten“geführt haben.

Trotz aller Änderungen blieben die verwendeten Begriffe auch in der Nachkriegszeit diskriminierend und defizitorientiert. Menschen mit Behinderung standen – so der Tenor – im Gegensatz zur Normalgesellschaft und müssten dieser wieder angepasst werden. Solange dies nicht geschehen war, könnten sie kein Teil der Gesellschaft sein. So wurde die Unterbringung in einer Einrichtung quasi selbstverständlich. Neben den Einrichtungen gab es außer in den größten Städten auch strukturell kaum Alternativen zur Erziehung und später Erwerbstätigkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen wie etwa in Form von Tagesschulen. Dies führt dazu, dass Jugendämter besonders in ländlichen Regionen Familien häufig das Sorgerecht für ihre behinderten Kinder – die von der Schulpflicht ausgenommen waren - entzogen oder eingeschränkt haben. Eine angemessene Ausbildung und medizinische Versorgung sei im Elternhaus nicht gegeben, so das Argument. Heime der Behindertenhilfe lagen mehr noch als andere Heime abseits der Städte und Orte, was von einem Großteil der Gesellschaft auch gutgeheißen wurde, denn: „Wir können unseren gesunden Kindern den Anblick dieser armen Teufel nicht zumuten. So ein Heim gehört nicht mitten in den Ort.“[1] Oberstes Ziel der Heimerziehung war die Herstellung der größtmöglichen Arbeitsfähigkeit. So wurde der Fokus vor allem auf „geistig normale“ Menschen mit körperlicher Behinderung gelegt, die als stille Arbeitsmarktreserve galten. Für diese gab es am ehesten eine gesonderte Einrichtung, während alle anderen Menschen mit Beeinträchtigungen auf die üblichen allgemeinen Heime oder, falls diese keinen Platz hatten, oft auch die Psychiatrien aufgeteilt wurden. Mehrfach- und schwerbehinderte Personen fanden sich mit großer Häufigkeit in den Heimeinrichtungen kirchlicher Träger wieder, wo allerdings in der Regel das benötigte Fachpersonal fehlte und höchstens Kenntnisse in der allgemeinen Krankenpflege vorhanden waren.

Eine Entlassung aus dem Heimkosmos war nur in wenigen Fällen möglich, da oft keine Ertüchtigung für den „ersten Arbeitsmarkt“ erreicht werden konnte und stattdessen eine Beschäftigung in einer an das Heim angeschlossenen Behindertenwerkstatt erfolgte.

Anmerkungen

[1] Egen 2020, S. 181.

Literatur

  • Egen, Christoph, Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Bielefeld 2020.
  • Waldschmidt, Anne, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020.
  • Lingelbach, Gabriele, Konstruktionen von ‚Behinderung‘ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in: Disability History, Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte, hg. Von Elsbeth Bösl, Anne Klein, Alle Waldschmidt, Bielefeld 2010, S, 127-150.
  • Winkler, Ulrike, „Es war eine enge Welt“ Menschenmit Behinderung, Heimkinder und Mitarbeitende in der Stiftung kreuznacher diakonie, 1947-1975, Bielefeld 2012.
  • Stadler, Hans /Wilken, Udo, Pädagogik bei Körperbehinderung, Weinheim Basel Berlin 2004.

Zitierhinweis: Verena Mack, Der Behindertenbegriff der Nachkriegszeit, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 28.02.2023.