Das blaue Gebetbuch

von Helen E. Mayer

 

Ein kleines Mädchen mit goldbraunen Locken kniet im weißen Nachthemd auf einem Steinboden, die Hände gefaltet. Ihr Gesicht blickt vertrauensvoll auf einen herabscheinenden Lichtstrahl vom hoch oben gelegenen Fenster. Es sieht aus als sei sie im Gefängnis. Über dem Bild auf dem dünnen dunkelblauen Leinenbändchen steht in großen roten Lettern: „Jesu, hilf!“

Darunter die Zeile: „Concordia Publishing House / St. Louis, Missouri“. Tante D. hat jedem Kind dieses Gebetbüchlein geschenkt, damit wir uns abends ein Nachtgebet daraus aussuchen.

Wie war diese Gebete-Sammlung, herausgegeben im Jahr 1948 von der „lutherischen Frauenliga der Missouri-Synode“, vom fernen Gestade des Mississippi zu uns gelangt? Im Lexikon steht unter „Lutheran Church - Missouri-Synod“: „Aus deutschen Einwanderern hervorgegangene Lutherische Kirche in den USA. Die M.-S. vertritt ein streng konservatives Luthertum.“

Wenn wir abends gewaschen und müde im Bett liegen, falten wir die Hände und leiern ein Nachtgebet aus diesem schmalen Bändchen. „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm´.“

Das ist schön kurz. Ist man weniger müde, vielleicht sogar frisch gebadet und das neubezogene Bett duftet so köstlich, kann man dem Lieben Gott auch eine längere Ansprache widmen.

Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Äuglein zu. Vater, laß die Augen dein über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an.

Beeindruckt hat mich darin das Bild eines weiblichen Engels mit Schwanenflügeln. An die riesige Gestalt in ihrem weißen fließenden Gewand lehnt sich vertrauensvoll ein kleines Mädchen. Ihr Schutzengel.

 

Zur Autorin: Helen E. Mayer war von 1955-1965 im Kinderheim Sperlingshof in Wilferdingen bei Pforzheim.

 

Zitierhinweis: Helen E. Mayer, Das blaue Gebetbuch, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

Suche

Weitere Beiträge zum Thema: