Jüdische Spuren in Baden-Baden
Ein Interview von Eva Rincke, durchgeführt am 23. Dezember 2022 in der Synagoge in Baden-Baden
Herr Surovtsev, Sie beschäftigen sich auch intensiv mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Baden-Baden. Sie haben 2021 den Stadtführer „Jüdische Spuren in Baden-Baden“ herausgegeben und bieten Stadtführungen an mit verschiedenen Stationen zur jüdischen Geschichte. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Rabbiner Surovtsev: Ich würde gerne zunächst etwas zur Vorgeschichte erzählen: Ich glaube, das war in der ersten oder zweiten Woche, als ich neu als Rabbiner nach Baden-Baden kam, im Jahr 2017. Ich bin mit meiner Familie hier in der Innenstadt spazieren gegangen. Ich glaube, das war an Schabbat, am Samstag. Meine kleine Tochter hat auf ein Haus gezeigt und auf die Tür dieses Hauses und hat gesagt: „Da ist eine Mesusa, Papa!" Ich habe das gesehen und habe mich gewundert, dass man das in Baden-Baden in der Stadtmitte sieht.
Können Sie kurz erklären, was eine Mesusa ist?
Rabbiner Surovtsev: Ja. Die Mesusa ist ein Körbchen, in welchem ein auf Pergament geschriebener Text liegt. Dieser Text stammt aus der Bibel, Tora. In der Bibel gibt es ein Gebot, dass man diesen Text auf Pergament schreiben soll und an der Tür befestigen. Es gibt verschiedene Bräuche. Diese Körbchen können ganz unterschiedlich aussehen, aber darin ist immer das gleiche Pergament. Auf jedem ist mit einer bestimmten Schrift ein Abschnitt aus der Tora geschrieben.
Irina Grinberg: Kann man sagen, dass es ein Schutz für das Haus ist, für die Familie?
Rabbiner Surovtsev: Ja, es gibt diese Bedeutung. Das ist eine der religiösen Bedeutungen, einige jüdische Theologen erklären, dass das wie ein Schutz für das Haus ist.
Ich habe mich sehr gewundert, weil man in deutschen Kleinstädten normalerweise keine sieht. Man sieht diese Mesusas in Israel oder in Großstädten, wo es große jüdische Gemeinden gibt, aber nicht in Baden-Baden.
Ein paar Monate später habe ich ein E-Mail bekommen mit einer ganz klassischen Anfrage, ob unsere Gemeinde Gottesdienste am Samstag anbietet, ob wir koscheres Essen haben und so weiter. Diese Anfrage war von einem jungen Mann aus New York, aus Manhattan. Er wollte in den Sommermonaten Baden-Baden besuchen. Ich habe ihn zu mir nach Hause eingeladen und da habe ich ihn kennengelernt. Dieser junge Mann ist ein Historiker, ein jüdischer Historiker. Sein Urgroßvater war Besitzer eines koscheren Hotels in Baden-Baden – und diese Mesusa war an der Tür von diesem Haus!
Er hat mir das erzählt. Und diese Gespräche oder diese Geschichte haben mein Interesse an der jüdischen Geschichte Baden-Badens geweckt. Ich habe versucht, so viel wie möglich darüber zu recherchieren und zu lernen. Das Ergebnis sind diese kleine Broschüre „Jüdische Spuren in Baden-Baden“ und meine Stadtführung.
Ich finde, dass die jüdische Geschichte von Baden-Baden sehr interessant und einzigartig ist. Ich liebe Geschichte und jüdische Geschichte im Besonderen. Aber ich habe nicht gedacht, dass Baden-Baden eine jüdische Geschichte hat. Man bringt die jüdische alte Geschichte mit Städten wie Worms, Speyer, Köln, Würzburg, in Verbindung, aber nicht mit Baden-Baden.
Es gab hier eine sehr kleine jüdische Gemeinde. Vor dem Krieg und auch jetzt ist es keine große Gemeinde. Aber ich habe herausgefunden, dass die jüdische Geschichte der Stadt sehr interessant und einzigartig ist.
Zum Beispiel hatte Baden-Baden vor dem Zweiten Weltkrieg zwei koschere Hotels. „Koscheres Hotel“ bedeutet: mit Küche, mit Restaurant, wo man koscheres Essen anbieten kann. „Koscher“ bedeutet „erlaubt nach jüdischen religiösen Gesetzen“. Das heißt: getrennte Küchen für Fleisch und Milchprodukte und spezielles koscheres Fleisch und koscherer Wein und so weiter. Alle jüdischen oder rabbinischen Speisegesetze müssen befolgt werden.
Ich kann das nicht zu hundert Prozent sicher sagen, aber ich glaube, dass es zu dieser Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in ganz Europa nur eine Stadt mit zwei koscheren Hotels gab. Das war Baden-Baden. Vielleicht gab es das auch woanders, aber ich habe nichts gefunden. Das heißt: Baden-Baden hatte mehrere hunderttausend jüdische Gäste. Nicht nur für die Sommermonate, sondern über das ganze Jahr.
Irina Grinberg: Aus Frankreich kamen die Juden, aus Kanada, Amerika, England. Es war populär. Dieser junge Mann war dann später hier bei uns zu Gast beim Rabbiner. Er hat sehr viel erzählt über dieses Gasthaus.
Rabbiner Surovtsev: Zum Gasthaus und auch zur Geschichte seiner Familie. Dann haben wir als Gemeinde Angelika Schindler kennengelernt, sie ist Historikerin und hat ein Buch über die jüdische Geschichte in Baden-Baden geschrieben. Das Buch heißt „Der verbrannte Traum. Jüdische Bürger und Gäste in Baden-Baden.“ In diesem Buch geht es vor allem um die Holocaust-Zeiten, aber es enthält auch viele Informationen über die jüdische Geschichte in Baden-Baden vor dieser Zeit. In meiner kleinen Broschüre habe ich viel von diesem Buch übernommen. Ich habe auch das Stadtarchiv besucht, dort kann man viele Dokumente und Bilder und so weiter finden.
Unser neuer Freund aus Amerika, er heißt Arieh Levi, hat gut recherchiert. Ihm geht es um Adressbücher, Gelbe Seiten und andere Bücher mit Anzeigen und Werbung. Ich glaube, er hat diese Gelben Seite-Bücher aus der Vorkriegszeit für alle Jahre gekauft. Er hat mir mehrere Bilder aus diesen Büchern geschickt, mit verschiedenen Anzeigen, die irgendwie mit jüdischer Geschichte verbunden sind: Anzeigen von diesen beiden Hotels und anderen Orten wie Restaurants und so weiter.
Es gab in Baden-Baden ein Erholungsheim für arme jüdische Frauen. Ich bin fast sicher, dass das auch einzigartig ist. Frau Mathilde Rothschild aus Frankfurt hat das gestiftet. Das war hier in der Werderstraße, wo sich unsere heutige Synagoge befindet.
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Daniel Naftoli Surovtsev ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Baden und Irina Grinberg ist Büroleiterin und Assistentin des Vorstands.
Zitierhinweis: Irina Grinberg/Eva Rincke/Daniel Naftoli Surovtsev, Interview in der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Baden, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.