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Über jüdische Landgemeinden in Württemberg

 

König David, mit der Harfe, war das Aushängeschild des gleichnamigen jüdischen Gasthauses in Jebenhausen, nun Erkennungszeichen des Jüdischen Museums in Göppingen, Quelle Netmuseum
König David, mit Harfe, war das Aushängeschild des gleichnamigen jüdischen Gasthauses in Jebenhausen, nun Erkennungszeichen des Jüdischen Museums in Göppingen, Quelle Netmuseum

Bis ins 19. Jh. war das jüdische Leben im Südwesten ein vorwiegende ländliches, allenfalls kleinstädtisches. Die meist erzwungene Abwanderung aus den Städten setzte im späten Mittelalter ein. Ab der Reformation verstärkten sich Tendenzen zur Ausweisung. In Württemberg mussten ab 1521 auch die letzten Juden das Land verlassen. Selbst die Durchreise wurde fortan verweigert oder nur nach großen Bemühungen gestattet. Die vertriebenen Juden kamen in den zahlreich vorhandenen, kleineren, oft reichsritterschaftlichen Territorien unter. Größere Gemeinden entstanden in der ehemaligen Reichsstadt Buchau, im ritterschaftlich-liebensteinischen Jebenhausen oder in Laupheim, einem freiherrlichen Lehen Vorderösterreichs. Eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Süddeutschlands mit Oberrabbinat und Talmudhochschule existierte in Fürth bei Nürnberg, mit weitreichen Beziehungen nach Franken und dem bayrischen Schwaben. Eine Sonderstellung nahm das zeitweilig reichsritterschaftliche Freudental ein, das 1727 von Wilhelmine Gräfin von Würben, geborene Grävenitz und langejährige Mätresse Herzog Eberhard Ludwigs, übernommen wurde. Nach Anfängen im Jahr 1723 erhielten 1731 weitere Familien das Aufenthaltsrecht, das auch bestehen blieb, nachdem die Grävenitz in Ungnade gefallen war und Freudental unter württembergische Verwaltung kam. Die jüdische Gemeinde entwickelte sich zu einem religiösen Zentrum mit großer Anziehungskraft. Mit den Gebietszuwächsen Anfang des 19. Jh. gelangten zahlreiche weitere jüdische Gemeinden unter die Herrschaft des zum Königreich aufgestiegenen Württemberg.

Die Lebensumstände der meisten Familien in den Landgemeinden waren ärmlich. Als eine der Einkunftsquellen diente Hausieren. Trotzdem gelang es einflussreichen Familien, wirtschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten oder auszubauen. Ein Beispiel ist Isak Raphael aus Buchau mit seiner Tochter Chaile – Karoline. Isak Raphael war als Hoffaktor des Hauses Hohenzollern-Hechingen tätig. Chaile - Karoline übernahm nach der Heirat zunächst den Pferdehandel ihres Mannes, nach dem Tod des Vaters auch dessen Geschäfte. Sie wurde Hoffaktorin des Hauses Fürstenberg in Donaueschingen, gründete in Hechingen einen Großhandel und ließ sich auch durch die Hinrichtung Oppenheimers 1738 nicht abschrecken, dessen Nachfolge als württembergische Hoffaktorin anzutreten. Kaulla, die Umschreibung ihres Vornamens, wurde zum Familiennamen.

Das durch Vereinbarungen wie Schutzbriefe ausgehandelte Niederlassungsrecht in den Landgemeinden garantierte keine dauerhafte Sicherheit. Immer wieder kam es zu Brüchen und Umsiedlungen, günstigenfalls in benachbarte Regionen. Einige Gemeinden entstanden bereits in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, als die entvölkerten Orte neu belebt werden sollten. So kamen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Rexingen als Flüchtlinge, die nach 1648 aus der Ukraine und Litauen zuwanderten. Einige Gemeinden entstanden im 17. und 18. Jh. Dazu gehören neben Freudental die 1724 in Laupheim, 1787 in Buttenhausen und 1777 in Jebenhausen gegründeten. Die Erinnerung an die Vorfahren und ihre teils bis zur Vertreibung im Mittelalter zurückreichenden Aufenthaltsorte lebte in den Familien weiter. Eines der prominentesten Beispiele stellt die Familie Lindauer dar. Seligmann Lindauer gehörte zu den Mitbegründern der Gemeinde Jebenhausen. Die als Dokument festgehaltene Herkunft der Vorfahren ließ sich bis in die Stadt am Bodensee zurückverfolgen, wo die jüdische Einwohnerschaft 1430 in einem grausamen Pogrom eine Ende fand.

Die jüdischen Gemeinden bildeten eigenständige Einheiten, die nach außen durch abgegrenzte Wohnräume, etwa als „Judengasse“, sichtbar wurden. Ihre Strukturen bestimmten die Mitglieder selbst. Eine Satzung Takkanah regelte religiöse und weltliche, beispielsweise finanzielle Angelegenheiten. Als Gremium fungierten Räte mit einem Vorsteher. Um Todesfälle kümmerte sich die Beerdigungsbruderschaft Chewra Kaddischa. Nicht überall existierte eine Synagoge, ein Rabbiner oder ein Friedhof. Unter dem Aspekt der ständigen Unsicherheit und Veränderung kam den weltlichen und religiösen Traditionen, Eigenheiten und Gewohnheiten ein besonderer Stellenwert zu. Je nach Zusammensetzung, Herkunft und Kontinuität konnten sie sich in den jeweiligen Orten unterschiedlich ausprägen.

Die territorialen Veränderungen zu Beginn des 19. Jh. brachten neben religiöser Toleranz auch Einschnitte für die jüdischen Gemeinden. So übernahm der Staat nun die Aufsicht in den vorher selbstbestimmten Bereichen. Für Württemberg entstand in den 1830er Jahren die Israelitische Oberkirchenbehörde, die anstelle der von der Gemeinde bestimmten Rabbiner und Vorsänger weltlich gebildete und staatlich examinierte Kräfte vorsah und eine Vereinheitlichung beispielsweise in der Gestaltung von Synagogen bewirkte. Im Verlauf des 19. Jh. verloren die Landgemeinden zunehmend Einwohner, da diese in Städte ab- oder nach Amerika auswanderten.

Der Text entstand auf der Grundlage eines Beitrags von Stefan Rohrbacher: Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert. In: Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen (aufgerufen am 31.03.2021)
In Göppingen wurde ein Jüdisches Museum zum christlich-jüdischen Leben in Jebenhausen eingerichtet
Weitere detaillierte Auskünfte zu den genannten Gemeinden gibt es bei Alemannia Judaica
Karte der Jüdischen Niederlassungen im Mittelalter im Historischen Atlas von BW (mit Beiwort)
Karte der Jüdischen Bevölkerung 1825 (mit Beiwort)

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