Das Kinderfest in Gaggenau i.B. im Jahre 1912 

Datierung :
  • 1912
Objekttyp: Video
Inhalt:
  • Die These, dass die Kindheit eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei, wird zwar mittlerweile angezweifelt, wie der französische Historiker Philippe Ariès in einer berühmt gewordenen Abhandlung mit dem Titel "Geschichte der Kindheit" (Originaltitel: "L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime") herausarbeitete. So glaubt Ariès bereits im 17. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung zwischen erwachsenen und kindlichen Lebenswelten zu entdecken. Dennoch spricht einiges dafür, das lange 19. Jahrhundert als eine Zeit zu deuten, in der die Kindheit zumindest neuentdeckt, wahrgenommen und aufgewertet wurde. Die Schulpflicht, die in den meisten deutschen Ländern während des 18. und 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, zeugt davon, dass Kindheit als ein eigenständiger, schützenswerter Lebensabschnitt betrachtet wurde, der durch Erziehung und Bildung gestaltet werden sollte. Erziehungs- und Bildungsanstalten sowie eine professionelle Pädagogik entwickelten sich. Zugleich wurde Kinderarbeit in Fabriken oder regelmäßige Kindererwerbsarbeit in vielen europäischen Ländern allmählich verboten. Allerdings waren es vor allem wohlhabende bürgerliche Kinder, die von diesen Entwicklungen profitierten, die im Zusammenhang mit der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie zu sehen sind. Diese verstand sich nun nicht mehr nur als ökonomischer Zweckverband, sondern sollte durch emotionale Bindungen geprägt sein und zusammengehalten werden. Eine bürgerliche, d.h. in der sozialen Schicht des wohlhabenden Bürgertums kultivierte Gefühlskultur entstand. Trotz dieses neuen Verständnisses der Kindheit waren Kinder bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein zugleich einem rigiden Disziplinierungsregime unterworfen. Gewalt war bei den meisten Kindern fester Bestandteil des häuslichen und schulischen Erziehungsprogramms. Immerhin verbreitete sich im späten 19. Jahrhundert auch die Vorstellung, dass Kinder mit Rechten ausgestattet sind. Die Prügelstrafe war in Deutschland zwar bis in die 1960er und 1970er Jahre verbreitet, aber immerhin wurden 1896 "grobe Misshandlung und unangemessene Züchtigung" verboten. Angesichts dieser "Entdeckung der Kindheit" erklären sich vermutlich auch die zahlreichen Kinderfeste. Zwar gibt es auch Schulfeste wie das Ravensburger Rutenfest, das bereits im 17. Jahrhundert, möglicherweise auch noch früher gefeiert wurde, die Mehrheit der Kinderfeste dürften aber im 19. oder sogar erst im frühen 20. Jahrhundert entstanden sein. In den württembergischen Gemeinden Ludwigsburg, Schwäbisch-Hall oder Althausen werden jedenfalls seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kinderfeste gefeiert. Diese Feste, bei denen die Kinder im Zentrum stehen, können als Ausdruck dieses neuen Verständnisses gelten. Bei den Festen standen und stehen die Kinder im Zentrum, die sich hier in Form von festlichen Umzügen und Verkleidungen der Stadtgesellschaft präsentierten. Auch sportliche Wettkämpfe, Spiele und Vorführungen sind Teil dieser Kinderfeste. Schützenfeste mit Schießwettkämpfen wie in Ravensburg oder Biberach erfreuten sich im 19. und 20. Jahrhundert wachsender Beliebtheit. Die vorliegenden Filmausschnitte zeigen zwei Kinderfeste in Gaggenau aus den Jahren 1912 und 1914, also kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Umzüge und Mottowagen werden dabei von Schulklassen und diversen Sport- oder Musikvereinen, die sich in großer Zahl im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegründet haben, gestellt. An dem Umzug nehmen Blaskapellen, uniformierte Fahnenträger sowie Mottowagen mit verkleideten Kindern teil - darunter ein riesiger Kinderwagen mit der Aufschrift "Dollarprinzessin", ein von als Zwergen verkleideten Kindern gezogener Wagen mit der Aufschrift "Waldandacht", ein "Baby im Käfig" und eine "japanische Laube". Weitere Wagen stellen Märchenszenen dar. In der Aufnahme von 1914 sind Tanzvorführungen und Choreographien zu sehen, die von Mädchen mit Blumengestecken dargeboten werden, während die Jungen Fußball spielen oder an Masten hochklettern. In der Erziehung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden, auch dies zeigen diese Aufnahmen, klare Geschlechterrollen und -bilder mittransportiert. Felix Teuchert, LABW
Quelle/Sammlung: Landesfilmsammlung Baden-Württemberg und Stadtarchiv Gaggenau
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