Im Bismarckreich

Die Göttin der Freiheit mit Hammer und Amboss, um 1890 (HStA E 150 Bü 2045)
Die Göttin der Freiheit mit Hammer und Amboss, um 1890 (HStAS E 150 Bü 2045)

Der Bundesstaat Württemberg erhielt im Bundesrat des Deutschen Reiches vier (von 58) Stimmen, im Reichstag 17 Sitze (von 397). Innere Verwaltung, Finanzen, Kulturressort und Eisenbahn waren nach wie vor Landessache. Die auswärtige Politik und die Oberleitung des Heerwesens gingen in die Zuständigkeit des Reiches über. Der Kommandierende General des XIII. (württembergischen) Armeekorps konnte nur mit Zustimmung des Kaisers ernannt werden; im Übrigen blieb dem König das alleinige Recht der Offiziersernennung, auch eine eigene Militärverwaltung für das württembergische Kontingent mit besonderem Kriegsministerium. Als weiteres Reservatrecht war Württemberg die eigene Post zugestanden worden. Für den Verlust an Souveränitätsrechten tauschte die Monarchie in Württemberg eine innenpolitische Stabilität ein, die sie seit 1848 kaum mehr besessen hatte. Denn vom Reich, von Preußen, von der neuen Wehrverfassung her erfuhren die konservativen Kräfte eine unverkennbare Stärkung; die republikanischen Strömungen versickerten. Auch sonst hat der Eintritt ins Reich die inneren Verhältnisse des Landes auf die Dauer stärker beeinflusst, als dies 1871 vorauszusehen war, vor allem durch die zunehmende Rechtsvereinheitlichung im Reich, durch die dem Reich zufallende Regelung neuer wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen, durch den Zusammenhang im politischen Parteileben von Reichstag und Landtag.

Mittnacht, seit der Bildung des Staatsministeriums 1876 Ministerpräsident, leitete die politischen Geschicke Württembergs bis 1900 mit sicherer Hand. Im Landtag waren die von Holder geführte, seit 1871 mit den Nationalliberalen im Reichstag verbundene Deutsche Partei und eine 1876 aus Konservativen und Katholiken gebildete Landespartei die Stützen der Regierung. Die Volkspartei der Demokraten schmolz auf wenige Abgeordnete zusammen und blieb lange Jahre ohne Einfluss. Die Sozialdemokratie, in Württemberg seit 1869 organisiert, fand nur langsam Boden, vollends unter Bismarcks Sozialistengesetz (1878/90), wenn dieses auch weniger scharf gehandhabt wurde als in anderen Bundesstaaten. Mit Holders Aufstieg zum Präsidenten der zweiten Kammer (1875/81) und Innenminister (1881/87) war der Höhepunkt der nationalliberalen Machtstellung erreicht.
König Wilhelm II. (1891-1918, † 1921) konnte die politische Leitung des Landes fast noch ein Jahrzehnt in den bewährten Händen Mittnachts belassen. Der letzte König Württembergs hat im wilhelminischen Deutschland, das sich dem monarchischen Gedanken zusehends entfremdete, seine Stellung als Bundesfürst und Landesherr mit Takt und Würde auszufüllen verstanden. Der gewaltige Linksruck bei den Landtagswahlen 1895, verursacht durch die Agrarkrise und das Anwachsen der Fabrikarbeiterschaft, stellte seine Regierung bald vor schwierige Probleme. Die gouvernementale Landespartei war ganz zerfallen, die seit den Reichsgründungswahlen führende Deutsche Partei auf weniger als die Hälfte ihrer Mandate zusammengeschmolzen. Sieger war die von Friedrich Payer geführte Volkspartei, für siebzehn Jahre nunmehr die maßgebende Gruppe in der zweiten Kammer. Die erst jetzt gegründete württembergische Zentrumspartei unter Führung Adolf Gröbers errang sogleich 18, die Sozialdemokratie erstmals zwei Mandate. Die Wahlen von 1900, kurz nach Mittnachts altersbedingtem Rücktritt, verstärkten noch den Zug nach links.

Internationaler Sozialistenkongress in Stuttgart, August 1907 (HStAS J 302 Nr. 25)
Internationaler Sozialistenkongress in Stuttgart, August 1907 (HStAS J 302 Nr. 25)

Erst nach harten Auseinandersetzungen und gegen die Stimmen des Zentrums gelang 1906 dem Ministerium Breitling (1901/06) die 1868 unvollendet gebliebene Verfassungsreform. Die zweite Kammer wurde zur reinen Volkskammer mit 92 Sitzen. Geblieben waren die nach dem Mehrheitswahlrecht zu wählenden Abgeordneten der 63 Oberamtsbezirke und der sechs sogenannten guten Städte draußen im Lande. Neu war die Vermehrung der Stuttgarter Mandate auf sechs und die Schaffung zweier großer Landeswahlkreise mit zusammen 17 Abgeordneten; Stuttgart und die Landeswahlkreise wählten nach der Listen- oder Verhältniswahl, dem sogenannten Proporz, der auch den Minderheiten eine Vertretung sicherte. Die erste Kammer wurde um die aus der zweiten ausgeschiedenen Privilegierten (in etwas verminderter Zahl), einen Vertreter der Technischen Hochschule Stuttgart und 5 berufsständische Vertreter erweitert. Die traditionelle katholische Mehrheit der ersten Kammer war damit beseitigt.

Ausbruch des Ersten Weltkriegs (HStAS M 701/1 R 138 Nr. 28)
Ausbruch des Ersten Weltkriegs (HStAS M 701/1 R 138 Nr. 28)

Außer der Verfassungsreform trat unter dem Ministerium Breitling, dem schon die große, sozialen Gesichtspunkten Rechnung tragende Steuerreform von 1903 gelungen war, 1906 auch eine neue, die Selbstverwaltung stärkende Gemeindeordnung und Bezirksordnung in Kraft. Dem Ministerium Weizsäcker (1906/18) blieb es vorbehalten, die seit langem anstehende Erneuerung des Volksschulgesetzes von 1836 durchzusetzen, wiederum gegen die Stimmen des Zentrums. Das Gesetz von 1909 hielt an der konfessionellen Trennung der Volksschulen fest, ersetzte aber die geistliche Schulaufsicht in der Bezirksinstanz durch staatliche Bezirksschulämter. Die Kammerwahlen von 1912 brachen die siebzehnjährige Vorherrschaft der Volkspartei, der die Sozialdemokratie, obwohl durch innere Richtungskämpfe geschwächt, und der 1900 gegründete Bauernbund viele Wähler entzogen. Das Zentrum als stärkste Partei verband sich jetzt ebenso wie in der Reichspolitik mit Konservativen und Bauernbund zum "schwarzblauen Block".

Rüstungsproduktion im Ersten Weltkrieg (HStAS M 77/1 Bü 573)
Rüstungsproduktion im Ersten Weltkrieg (HStAS M 77/1 Bü 573)

Im Ersten Weltkrieg stellte Württemberg (1815-1914 von 1,38 Mio. auf 2,5 Mio. Einwohner gewachsen) eine gute Viertelmillion Soldaten, von denen mehr als 83.000 gefallen oder gestorben sind. Die vollziehende Gewalt im Lande und damit ein wesentlicher Teil der Verwaltungshoheit ging auf den der Reichsspitze unterstehenden Militärbefehlshaber (Stellv. Generalkommando) in Stuttgart über. Im Landtag trennte sich 1915 von der Sozialdemokratie eine radikale Sozialistische Vereinigung, Vorstufe der im Reich 1917 erfolgenden Spaltung zwischen Mehrheitssozialisten und Unabhängigen Sozialisten. Seit 1917 drängten Conrad Haußmann von der Volkspartei und der Sozialdemokrat Wilhelm Keil im Landtag auf Einführung der parlamentarischen Regierungsform. Aber erst als das Reich unter der Kanzlerschaft des Prinzen Max von Baden (Vizekanzler Friedrich Payer) zur parlamentarischen Monarchie geworden war, berief der König noch am 8. November 1918 ein parlamentarisches Ministerium unter dem Volksparteiler Theodor Liesching. Am Tag darauf wurde bei einer Stuttgarter Massendemonstration die Republik ausgerufen, am 10. November übernahm die Provisorische Regierung der Revolution unter dem Mehrheitssozialisten Wilhelm Blos die Geschäfte, am 30. November verzichtete König Wilhelm II. auf den Thron.

Mitglieder im Landesausschuss der Arbeiterräte Württembergs, 1919 (HStAS P 2 Bü 11)
Mitglieder im Landesausschuss der Arbeiterräte Württembergs, 1919 (HStAS P 2 Bü 11)

(Quelle: Bearbeitete Fassung aus dem Abschnitt Landesgeschichte, in: Das Land Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Band I, Stuttgart, 2. Aufl. 1977)

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