Früh übt sich…
Geschlechtersozialisation durch Kinderliteratur

Von Polina Stohnushko

 Leinwandbilderbuch 1882
„Leinwandbilderbuch“, 1882 [Quelle: Landesmuseum Württemberg. Foto: Dirk Kittelberger]

Was wollten Sie werden, als Sie Kind waren? Wer war ihre Lieblingsfigur in den Kinderbüchern? Vielleicht wollten Sie Aschenputtel oder der Prinz aus „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ sein?

Kinderliteratur ist eines der wichtigsten Medien zur Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Werte. Kinder lernen hier, was Freundschaft, Liebe und Moral bedeuten. Darüber hinaus zeigen Kinderbücher soziale Denk- und Handlungsmuster und modellieren sie gleichzeitig. Sie lehren, wie eine harmonische Existenz in der Gesellschaft erreicht werden kann und bieten ihren Leserinnen und Lesern dafür bestimmte soziale Rollen an. Zwar ist die Märchenwelt oft utopisch, aber dennoch erfahren Kinder aus literarischen Abenteuern, was in der realen Welt erwartet und geschätzt wird. Ein besonders wichtiger Beitrag der Kinderliteratur ist die Formierung der Geschlechterrollen bei Kindern, wonach Mädchen und Jungen lernen, materielle und kulturelle Artefakte wie Kleidung und Werkzeug ihrem Geschlecht zuzuordnen und entsprechend zu benutzen.

Gender als politisches und soziokulturelles Konstrukt

 Kleine Bilder von 1894
„Kleine Bilder“, 1894 [Quelle: Landesmuseum Württemberg. Foto: Dirk Kittelberger]

Sich einer Geschlechtsidentität zuzuordnen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Lernerfahrung eines Kleinkindes. Im Gegensatz zum Geschlecht, das die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen (Anatomie, Fortpflanzungsfähigkeit usw.) beschreibt, ist unter „Gender“ die „weibliche“ und „männliche“ Markierung in sozialen und kulturellen Dimensionen zu verstehen. Die Gender-Rollen werden sozial konstruiert und sind von der kulturell-normativen Ordnung einer Gesellschaft sowie dem politischen Regime abhängig. Gender spielt eine Schlüsselrolle in ungleichen Machtbeziehungen zwischen Frauen und Männern.

Der Nachlass des Ess­linger Verlags J. F. Schreiber (1831–1988) gehört zu den volkskundlichen Sammlungen des Museums der Alltagskultur und befindet sich in der Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart. Die Samm­lung besteht aus etwa 10.000 Druckbelegexemplaren (Kinderbücher, Kinder­bilderbögen, Ausschneidebögen und Papiertheater) des von Jakob Ferdinand Schreiber gegründeten Verlages, die in der Zeit zwischen 1840 und 1940 ent­standen sind. Die Sammlung eröffnet einen einzigartigen Zugang zu jedem pro­duzierten Buch und jeder Bilderbogenserie des Verlags. Der Kinderbuchverlag J. F. Schreiber wurde 1831 gegründet und publizierte bunte pädagogische und alltagsnahe Kinderbücher. Besondere Anerkennung und weltweiten Ruhm er­hielten die Papiertheater, die Kindern bis heute als Miniaturbühnen der Gesell­schaft dienen.

Herrschender Mann und unsichtbare Frau

 Bildergeschichten 1886
"Bildergeschichten für kleine Kinder“, 1886 [Quelle: Landesmuseum Württemberg. Foto: Dirk Kittelberger]

Ein Großteil der Kinderbücher widmen sich Jungen und ihren Abenteuern. Die Jungen nehmen zentrale Rollen ein und werden als Führer, Entscheidungsträger und Helden dargestellt. Im Gegenzug dazu sind die weiblichen Figuren erheblich unterrepräsentiert und auf die häusliche und mütterliche Rolle reduziert.

Oft retten männliche Charaktere die weiblichen, hilfsbedürftigen Nebenfiguren. Gleichzeitig haben Frauen in den Büchern ein unverhältnismäßig niedriges Niveau an Autorität, Kompetenz und Kontrolle. In Situationen, die Jungen und Mädchen zusammen darstellen, übernehmen die Jungen die aktive Rolle, während die Mädchen hilflos und inkompetent erscheinen.

Eine ähnliche Situation findet sich auf den Seiten des Bilderbuches „Lein­wandbilderbuch“ aus dem Jahr 1882. Hier spielen drei Mädchen mit ihren Pup­pen und warten auf die Hilfe eines jungen Arztes.

Es wird deutlich, wie unterschiedlich männliche und weibliche Körperlichkeit hier dargestellt wird: Die Körperhaltung des Jungen betont seine dominante Position und Autorität im Raum im Gegensatz zu den Mädchen, die so nah wie möglich beieinander stehen und deren Körper wenig frei scheinen.

Tendenziell sind die Charakteristika und Verhaltensweisen der Jungen und Mädchen in binäre Kategorien geteilt: Passiv-aktiv, untergeordnet-unabhängig, negativ-positiv, emotional-emotionslos, initiativlos-beharrlich und so weiter.  Die Jungen nehmen an vielfältigen Aktivitäten teil, benötigen scheinbar größere Unabhängigkeit und verbringen ihre Zeit oft außerhalb des Hauses. Demgegen­über werden die Mädchen sehr oft in geschlossenen Räumen sowie als passiv und unbeweg­lich dargestellt. Sie sind oft durch Röcke und Kleider einge­schränkt, die nicht schmutzig werden sollen und ihre Aktivi­täten dadurch erschweren. Solch ein Szenario ist auf den Seiten des Buches „Bilderge­schichten für kleine Kinder“ aus dem Jahr 1886 deutlich sichtbar.

In der stereotypen Kinder­literatur wirken Männer meist kompetent und zielorientiert, während Frauen nicht außer­halb des Hauses konkurrieren und selten größere (berufliche) Ziele erreichen wollen. Im Wesentlichen werden weibli­che Verantwortlichkeiten als einfach und wenig komplex dargestellt: Die Mädchen werden in ihrer Rolle als Hausfrau gezeigt, die sich um ihren Mann und ihre Kinder sorgt. Selbst die Kleinsten von ihnen versuchen, sich um ihre Brüder und Väter zu kümmern. Sie waschen, kochen oder wischen Staub. Das Mädchen aus dem Kinderbuch „Unser ABC Buch“ aus dem Jahr 1878 lernt nur, dass die Berufung einer Frau die Hausarbeit ist und ihr Lebensmotto auf ein einziges Wort, näm­lich „Reinlichkeit“, reduziert ist.

 ABC-Buch 1878
„Unser ABC Buch“, 1878 [Quelle: Landesmuseum Württemberg. Foto: Dirk Kittelberger]

Junge Mädchen erscheinen in den Büchern als schöne Püppchen, die nichts anderes tun wollen, als anderen Freude zu bereiten. Hingegen verfügen die Jungen in den Kinderbüchern über viel mehr Karrieremöglichkeiten als die Mädchen und haben völlige Freiheit in der Wahl ihres zukünftigen Berufes. Darüber hinaus betonen stereotype Kinderbücher die strengen Grenzen zwischen kulturellen Artefakten – sämtlichen Dingen des alltäglichen Umgangs – die mit Mädchen und Jungen verbunden sind. Im Allgemeinen werden verschiedene Objekte aus dem Bereich der Hausarbeit (Küchengeräte, Werkzeuge für die Reinigung usw.) Mädchen, und Objekte aus dem nicht-häuslichen Umfeld (Werkzeuge für Baustellen, militärische Ausrüstung, Musikinstrumente usw.) Jungen zugeschrieben. Diese klare Trennung zwischen Spielzeugen für Jungen und Mädchen belegt die Abbildung im Kinderbuch „Kleiner Bilderschatz“ aus dem Jahr 1894.

Insgesamt zeigt sich, dass Geschlechterstereotype durch Kinderbücher konstruiert, geformt und aufrechterhalten werden. Solche geschlechtsspezifischen Darstellungen unterstützen ein Gefühl der Überlegenheit bei Jungen und mindern das Selbstwertgefühl und die beruflichen Ansprüche von Mädchen. Trotz der Reduktion von Geschlechter-Stereotypen durch beispielsweise ein breiter gefächertes Rollenrepertoire der weiblichen Charaktere in moderner Kinderliteratur ist es sehr wichtig, die Ziele und Absichten von Kinderbüchern und die Werte und Normen, die sie vermitteln, weiter zu diskutieren. Die Hauptaufgabe der Autorinnen und Autoren von Kinderbüchern, von Verlegerinnen und Verlegen sowie von Eltern sollte der Versuch sein, gemeinsam eine ausgewogene und sensible Kinderliteratur zu schaffen, zu publizieren und vorzulesen. Jedes Kind sollte unabhängig von seinem Geschlecht eine breite Palette von Identifikationsmöglichkeiten finden, die es ihm ermöglichen, sein Potenzial bestmöglich zu entfalten und ohne Barrieren eine eigene Lebensweise zu wählen.

 

Literatur

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Zitierhinweis: Polina Stohnushko, Früh übt sich…Geschlechtersozialisation durch Kinderliteratur, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020

 

Hinweis: Dieser Beitrag von Polina Stohnushko erschien unter dem Titel „Früh übt sich…Geschlechtersozialisation durch Kinderliteratur“ in der Publikation: Karin Bürkert und Matthias Möller (Hg.): Arbeit ist Arbeit ist Arbeit ist … gesammelt, bewahrt und neu betrachtet. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2019, S. 85-92.

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