Der „Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen“ in Baden

Vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Außenstelle Südbaden)

 Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen
Badische Volkskunde: Badische Volkskunde: Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen, 1894 [Quelle: Universitätsbibliothek Freiburg]

Bei dieser in Baden in den Jahren 1894/95 durchgeführten Materialerhebung handelt es sich um die erste flächendeckend angelegte schriftliche Befragung zur Erfassung historischer und zeitgenössischer Volkskultur im deutschen Kaiserreich und die, so der Volkskundler Peter Assion, erste regionale „Befragungsaktion großen Stils in der deutschen Volkskunde“.
 

 Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen
Badische Volkskunde: Ausschnitt eines Antwortbogens zur Sammlung der Volksüberlieferungen aus Laufenburg, Amt Säckingen, 1895 [Quelle: Universitätsbibliothek Freiburg]
Heute sind noch insgesamt 7.400 handschriftliche und zum Teil mit Zeichnungen versehene Antwortseiten erhalten. Davon werden 5.730 Seiten in der zum Badischen Landesmuseum gehörenden Außenstelle Südbaden in Staufen verwahrt. Sie enthalten Antworten aus knapp 400 Gemeinden. 1.650 Antwortseiten aus weiteren 112 Gemeinden befinden sich in der Arbeitsstelle Badisches Wörterbuch der Universität Freiburg und einige wenige Ortsmappen in der Universitätsbibliothek Freiburg im Nachlass Pfaff.

Initiatoren der Fragebogenerhebung im Großherzogtum Baden waren die Freiburger Universitätsprofessoren Friedrich Kluge (Sprach- und Literaturwissenschaft), Elard Hugo Meyer (Germanische Mythologie) und Friedrich Pfaff (Leitender Bibliothekar). Die Dokumentation von Bräuchen und oralen Traditionen – so die Intention der drei Wissenschaftler – sollte diese nicht nur vor dem Vergessen bewahren, sondern auch zukünftigen Forschungen als Quellengrundlage dienen.

Über die Kreisschulämter wurde ein standardisierter Fragebogen an die 1.500 Schulorte in Baden versandt und die Lehrer zur Bearbeitung aufgefordert. Für die Erfassung des religiös-kirchlichen Kulturraumes ging ein gesonderter Fragebogen an die örtlichen Pfarrer. Insgesamt wurden 3000 Fragebögen ausgegeben und an die Gewährsleute (Lehrer und Pfarrer) verteilt.
 
 Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen
Ausschnitt eines Antwortbogens zur Sammlung der Volksüberlieferungen aus Maulburg, Amt Schopfheim, 1895 [Quelle: Badisches Landesmuseum Karlsruhe]. Via Klick auf das Bild gelangen Sie zum vollständigen Dokument
Am Projekt beteiligten sich überwiegend ländliche Gemeinden. So kamen die meisten Belege aus dem Hoch- und Südschwarzwald, dem Breisgau, Mittel- und Nordbaden sowie dem Nordschwarzwald. Vermutlich hat der persönliche Einsatz der direkt als Vermittler eingesetzten Kreisschulräte die beachtliche Quantität des Rücklaufs maßgeblich bestimmt. Je nach Engagement des Lehrers oder Pfarrers entstanden kurze oder sehr umfangreiche, teils mit Skizzen versehene Darstellungen lokaler badischer Kulturgeschichte. Etwa 20 % der verteilten Fragebögen wurden beantwortet.


Der Aufbau des Hauptfragebogens und dementsprechend die Ausführungen der Rücklaufbelege spiegeln sowohl die spezifischen Forschungsinteressen der drei Initiatoren als auch zeitgenössische volks- und landeskundliche Ansätze wider. Gefragt wurde nach Arbeits- und Wirtschaftsweisen, nach der für die Existenz grundlegenden Situation des Wohnens und der Ernährung, nach konfessionell geprägten oder profanen Verhaltensmustern, nach Kommunikationsstrukturen, Brauchmustern und Lebensweisen.

Im Einzelnen wurden folgende Themen abgefragt:

  • Namen von Orten, Fluren, Wegen, Bächen, Höfen etc.
  • Familien- und Taufnamen
  • Hausbau und Dorfanlage, Haus- und Hofmarken
  • Volkstracht
  • Nahrung (Art, Namen der Speisen, Häufigkeit der Mahlzeiten)
  • Gewerbe und Gewerbezeichen
  • Volkslieder, Kinderreime, Volkschauspiele, Sprichwörter, Schwänke, Ortsneckereien, Rätsel, Märchen, Sagen
  • Sitten und Bräuche (z. B. bei Geburt, Hochzeit, Krankheit, Tod, Recht, Landwirtschaft, Schule)
  • Mundartliche Bezeichnungen zum gesamten Lebensumfeld

Das Antwortmaterial des Fragebogens zur Sammlung der Volksüberlieferungen von 1894/1895 verblieb zunächst im Besitz des Freiburger Badischen Vereins für Volkskunde und dessen Rechtsnachfolger, dem Landesverein Badische Heimat. Der heutige Bestand an Originalbögen, die sich in der Außenstelle Südbaden befinden, wurde vom Landesverein Badische Heimat in den ersten Nachkriegsjahren dem Freiburger Volkskundler Prof. Dr. Johannes Künzig übergeben und von diesem in die Badische Landesstelle für Volkskunde verbracht (1960 in Freiburg gegründet, seit 2005 Außenstelle Südbaden des Badischen Landesmuseums Karlsruhe).

Der Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen von 1894/1895 ist ein einmaliges historisches Quellenmaterial, das bislang in seiner Bedeutung für die regionale Kulturgeschichte und Landeskunde nicht umfassend berücksichtigt wurde. Als einziger der beteiligten Wissenschaftler hat Elard Hugo Meyer die Fragebögen aus seinen Schwerpunktthemen „Sitte“ und „Brauch“ ausgewertet und publiziert (1900, Reprint 1984). Einzelaspekte wie „Ortsneckereien“, „Hochzeitsbräuche“ oder „Sagen“ wurden zu einzelnen badischen Regionen oder Gemeinden in den ersten Jahren nach der Erhebung in Zeitschriften publiziert. Die meisten Themenbereiche blieben aber bis heute weitgehend unbearbeitet. In der Wissenschaft wurde die badische Fragebogenerhebung rasch bekannt und diente weiteren Projekten zur Erfassung regionaler Volkskultur als erprobte Vorgabe. Sie war wissenschaftliches Vorbild für Karl Bohnenbergers „Konferenzaufsätze“ in Württemberg und für die bayernweite Umfrageaktion von Friedrich von der Leyen zur bayerischen Volkskultur von 1908/09.

Heute wird das Fragebogenmaterial hauptsächlich für die Bearbeitung des „Badischen Wörterbuchs“ und bei der Erstellung von Ortsmonographien genutzt. Sein Nutzungspotential betrifft aber auch folgende Forschungsbereiche und ist somit über das Fach Volkskunde hinaus von wissenschaftlichem Interesse:

  • Landesgeschichte sowie Landeskunde am Ende des 19. Jahrhunderts
  • Allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte
  • Sprachwissenschaft (Namensforschung, Mundartforschung etc.)
  • Lebensverhältnisse im ländlichen Raum des 19. Jahrhunderts (Arbeits- und Wirtschaftsweisen, Wohnen, Volksfrömmigkeit, geschlechtsspezifische Aspekte, Kommunikationsstrukturen, Verhaltens- und Brauchmuster)
  • Wissenschaftsgeschichte und Methodenkritik

Literatur

  • Assion, Peter, Volkskunde in Baden. Versuch einer Standortbestimmung, in: Badische Heimat 64 (1984), S. 463-490.
  • Heck, Brigitte, Volkskunde Ü 100. Interdisziplinäre Fach(er)findung im 19. Jahrhundert, in: MAXIMILIANSTR. 15: 50 Jahre Institut für Volkskunde in Freiburg – Ein Erinnerungsalbum (Freiburger Studien zur Kulturanthropologie), hg. von Jörg Giray, Markus Tauschek, Sabine Zinn-Thomas., Münster/New York 2017, S. 93-106.
  • Mezger, Werner, „Badisches Volksleben im 19. Jahrhundert“. Die volkskundliche Umfrage von 1894/95 in Baden und ihre Verwertung durch Elard Hugo Meyer, in: Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen, hg. v. Peter Fassl und Rolf Kießling (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 10: Quellen zur historischen Volks- und Landeskunde, Bd. 2), Augsburg 2003, S. 143 – 168.

 

Zitierhinweis: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Außenstelle Südbaden), Der „Fragebogen zur Sammlung der Volksüberlieferungen“ in Baden, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: [...], Stand: 19.11.2020

Suche

Logo der Universitätsbibliothek Freiburg

Verwandte Inhalte

Weitere anzeigen...