Siegel

Von Wolfgang Krauth

Pergamenturkunde mit Stadtsiegel von Bruchsal, 1265, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 489 U 163)
Pergamenturkunde mit Stadtsiegel von Bruchsal, 1265, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 489 U 163)

Definition der Quellengattung

Siegel sind „kleine Zeichen“: Der Begriff wurde vom lateinischen signum – Zeichen – und dessen Verkleinerungsform sigillum – kleines Zeichen (oder auch kleines Bild) – übernommen. So sind Siegel allermeist kleine Bilder, die durch einen Text ergänzt werden. Diese „kleinen Zeichen“ oder „kleinen Bilder“ wurden bereits im alten Orient sowie in der griechischen und römischen Antike verwendet, und bis heute werden Dokumente mit einem Amtssiegel beglaubigt, ohne welches sie keine Gültigkeit hätten. Die bedeutendste Zeit für die Verwendung von Siegeln war das Mittelalter und die angehende Neuzeit.

Verwendet wurden Siegel für verschiedene Zwecke. Sie wurden als einfaches Erkennungszeichen eingesetzt: Konnte sich beispielsweise ein Bote mit einem losen Siegelabdruck seines Auftraggebers ausweisen, so zeigte er sich von diesem legitimiert. Ebenso wurden Siegel als Verschlussmittel von Briefen oder auch Warensendungen verwendet, so dass sichergestellt werden konnte, dass diese nicht unbemerkt geöffnet wurden. Die am häufigsten überlieferte Verwendung ist allerdings diejenige als Beglaubigungsmittel von Urkunden: Urkunden waren (und sind) erst dann gültig und rechtswirksam, wenn sie besiegelt sind. Neben diesen rechtlichen und praktischen Zwecken hatten Siegel auch eine weitere Dimension: Sie dienten der Repräsentation „ihrer“ Siegelführerinnen und Siegelführer, und sind dabei häufig auch kleine Kunstwerke.

Bedeutende Siegelführer und ihre Kanzleien besaßen seit dem 12. Jahrhundert mehrere Siegel: Besonders wichtigen und bedeutenden Urkunden war das sogenannte „Große Siegel“, das sigillum maius vorbehalten. Bei den Kaisern und Königen des Heiligen Römischen Reiches war auf diesem Hauptsiegel immer der Herrscher auf dem Thron abgebildet: das sogenannte Majestätssiegel.[1] Für weniger wichtige Geschäfte entstanden kleinere Siegel, von denen nach und nach meist mehrere, je nach Art des Rechtsgeschäfts, existierten: Das häufigste, für die laufenden Geschäfte verwendet, war das Geschäftssiegel oder sigillum ad causas. Das Sekretsiegel wiederum war ursprünglich nur als Verschluss-Siegel für Briefe verwendet worden, um das Geheimnis, das secretum des Briefes zu bewahren. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert wurde es auch als sogenanntes contrasigillum, also Rück- oder Gegensiegel eingesetzt: Um Urkundenfälschungen zu erschweren, wurde auf die Rückseite des Großen Siegels noch ein weiteres, kleineres Siegel eingedrückt. Eine Urkunde war so erst rechtswirksam, wenn beide Siegel angebracht waren. Schließlich ist noch das Signet zu nennen: Dieses – häufig, aber nicht zwingend als Ring gestaltet – war ein Siegel, das nicht in der Kanzlei, sondern für private oder geschäftliche Briefe verwendet wurde. Es kam im 14. Jahrhundert auf und wurde dann meist auf das nun zunehmend verwendete Papier aufgedrückt.

Historische Entwicklung

Dass Siegel ein Kind der Antike sind, wurde oben bereits erwähnt. Im Frühmittelalter stieg ihre Bedeutung nochmals an: „Stand unter den merowingischen Königen noch die Unterschrift neben der Besiegelung der königlichen Urkunden, so wurde von den karolingischen Königen auf die persönliche Unterschrift ganz verzichtet und das Siegel wurde für die kommenden Jahrhunderte das zentrale Beglaubigungsmittel.“[2] Zunächst führten Papst und der Kaiser ein Siegel, dann – ab etwa dem 10./11. Jahrhundert – geistliche Fürsten, also Bischöfe und Äbte und Äbtissinnen von Reichsklöstern, sowie im weiteren Verlauf auch weltliche Fürsten.

Aus einer neueren verfassungsrechtlichen Entwicklung heraus entstanden im 12. Jahrhundert die Stadtsiegel sowie Siegel auch anderer Körperschaften wie die der Domkapitel. Ausgehend von den coniurationes, den „Schwurgemeinschaften“, die zunächst in den italienischen Städten entstanden, bildete sich nach und nach in Europa die rechtliche Vorstellung einer solchen Körperschaft heraus, die rechtlich und geschäftlich tätig werden und somit auch ein Siegel führen konnte. Die Städte im Gebiet des heutigen Südwestdeutschlands erhielten ab den 1220er Jahren Siegel, einzig Freiburg im Breisgau führte bereits 1218 eines.[3] Als Beispiel findet sich in den Abbildungen das Stadtsiegel von Bruchsal in seinem ältesten(?) überlieferten Abdruck von 1265 (Abb. oben).[4]

Ab dem 12. Jahrhundert kam es außerdem durch den verstärkten Handel in Europa zu einem Aufschwung des Rechtsverkehrs und der Schriftlichkeit. Hierfür war ein Rechtsinstitut nötig, das sich als Dokumentations- und Beweismittel für Geschäftsabschlüsse und Verabredungen nutzen lassen konnte: Während es in Italien zu diesem Zweck bereits das aus der römischen Rechtspraxis stammende Notariatsinstrument gab, setzte sich im Reich nördlich der Alpen und in England Ende des 12. und im 13. Jahrhundert hierfür die Siegelurkunde durch und damit das in der Dekretale Scripta vero authentica von Papst Alexander III. so genannte sigillum authenticum. Auch in deutschsprachigen Rechtstexten, wie dem Schwabenspiegel von etwa 1275, fand das Siegel als Instrument mit Beweiskraft Einzug. Durch diese rechtlichen Entwicklungen fand es rasch Verbreitung, so dass auch niedrige Adlige, ab dem 13./14. Jahrhundert Bürger und ab dem 15. Jahrhundert auch Dorfgemeinschaften und Bauern ein Siegel führten. Das Spätmittelalter ist gekennzeichnet durch eine weitere Verbreitung des Siegels unter der zunehmend größeren Zahl an Universitäten und ihren Fakultäten oder auch unter Zünften, Gilden oder den ritterständischen Genossenschaften.[5] Gleichzeitig kommt es zu einer „Verdichtung“ dahingehend, dass innerhalb der Einrichtung einzelne Gruppen oder Personen eigene Siegel führten; genannt seien Prioren- oder Kellerarsiegel in den Klöstern, aber auch Gerichts- oder Schöffensiegel in den Städten. Vor allem ab dem 16. Jahrhundert führten dann Ämter und Behörden des Reichs und der Territorien Siegel.

Seine große Bedeutung als entscheidendes Beglaubigungsmittel hatte das Siegel, wie oben schon erwähnt, sicher im Hoch- und Spätmittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein. Doch ab dem 16. Jahrhundert bereits wuchs die Bedeutung der eigenhändigen Unterschrift, die das Siegel nicht ablöste, wohl aber ergänzte. Im 19. Jahrhundert setzte sich nach der Einführung neuer rechtlicher Rahmenbedingen wie beispielsweise des Code Napoléon ab 1804 die Unterschrift als entscheidendes Beglaubigungsmittel durch, Siegel blieben aber vor allem auf hoheitlichen Dokumenten bis heute erhalten.

Aufbau und Inhalt: Material, Form und Größe, Bild und Umschrift

Stadtsiegel von Bruchsal, 1265, Rückseite, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 489 U 163)
Stadtsiegel von Bruchsal, 1265, Rückseite, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 489 U 163)

Zeitgenössische Siegelstempel werden heute zwar meist mit Stempelfarbe auf Papier aufgedruckt, aber nach wie vor sind sie rund, wie es durch die Jahrhunderte die häufigste Variante war, und tragen weiterhin Bild und Umschrift. Im Mittelalter waren Siegel zum einen aus Metall. Abgeleitet vom lateinischen Ausdruck für Metallsiegel – bulla – wurden sie Bulle genannt. Könige und Kaiser verwendeten für besondere Urkunden Goldsiegel als Vorrecht der Souveräne in ganz Europa. Der Papst verwendete immer (und bis heute) Bleibullen. Zum anderen aber – und das war das am häufigsten verwendete Material – waren Siegel aus Bienenwachs, das entweder ungefärbt (eben wachsfarben) war oder – seit dem 12. Jahrhundert in Mode – gefärbt: schwarz, grün oder rot. Das Wachssiegel wurde ursprünglich auf die Urkunde aufgedrückt. Diese Anbringung aber war auf die Dauer unpraktisch, weil das Siegel häufig wieder abfiel und leicht beschädigt wurde, wenn man die Urkunde rollte. Ab dem 11./12. Jahrhundert wurde es deshalb angehängt: An der Urkunde wurde der untere Teil umgefaltet, so dass die sog. Plica entstand, und daran ein Faden oder ein Pergamentstreifen befestigt. Dieser wurde dann bei der Besiegelung durch das Siegelwachs umschlossen. Bei der Besiegelung wurde zunächst eine dünne Schicht Siegelwachs in den Siegelstempel hineingearbeitet. Dann wurde eine bereits passend vorgeformte Wachsplatte von Hand auf die Rückseite gedrückt, so dass Faden bzw. Pergamentstreifen dazwischen lagen. Spuren dieses Vorgangs finden sich häufig auf der Rückseite durch Fingereindrücke (vgl. Abb.). Da Wachssiegel zerbrechlich sind, wurden sie bereits seit dem Spätmittelalter mit Stoff- oder Pergamenthüllen geschützt oder in Holz- oder Metallkapseln gelegt. Im Verlauf der Jahrhunderte kamen auch andere Materialien auf: Seit dem 16. Jahrhundert finden sich Lacksiegel. Der Siegellack wurde dabei auf dem Papier verteilt und der Siegelstempel hineingedrückt. Oblatensiegel, aus Mehl hergestellt und mit einem Papier bedeckt, sowie reine Papiersiegel wurden mit dem Siegelstempel geprägt und mit einem Klebstoff aus Mehl auf dem Papier des Dokuments befestigt. Letztere werden bis heute beispielsweise auf notariellen Dokumenten verwendet. Seit dem 18. Jahrhundert schließlich findet sich der Farbdruck mit erhabenen Siegelstempeln, die ab dem 19. Jahrhundert aus einer Gummifläche gefertigt waren und heute üblicherweise verwendet werden.[6]

Siegelstempel hatten in der Antike oft Ringform. Wie oben ausgeführt existierte diese Form, beispielsweise mit den Signeten, später immer noch. Im Mittelalter wurden vor allem aber Platten aus Metall, Stein oder – besonders ausgefallen – Elfenbein verwendet, die von Goldschmieden gefertigt und mit einem Griff aus Holz versehen wurden. Der Fachterminus für den Siegelstempel lautet Typar oder Petschaft.

Blickt man nun auf das Siegel selbst, so ist hier neben der Form und der Größe des Siegels auf das Siegelbild sowie die Siegelumschrift näher einzugehen. Am verbreitetsten waren sicherlich runde Siegel. Es gibt aber auch Personengruppen, die andere Formen bevorzugten.

So verwendeten beispielsweise geistliche Personen, aber auch weltliche Frauen ab dem 13. Jahrhundert spitzovale Siegel und im niederen Adel wurden im 13. und 14. Jahrhundert schildförmige Siegel benutzt, die besonders gut Wappen abbilden konnten. Bezüglich der Größe von Siegeln sind zwei Beobachtungen zu machen: Erstens wurden die Siegel im Lauf des Mittelalters im Schnitt immer größer, erst ab dem 15. Jahrhundert konstatieren wir eine rückläufige Tendenz. Das dürfte praktische Gründe gehabt haben – der Preis für Wachs verteuerte sich –, war aber auch der Tatsache geschuldet, dass das Siegel als Beglaubigungszeichen wie auch als Repräsentationsobjekt an Bedeutung verlor. Zweitens wies die Größe eines Siegels durchaus auf die Bedeutung des Siegelführers hin und macht Standes- und Rangunterschiede deutlich. Dies galt für natürliche Personen, aber auch Städte brachten so beispielsweise ihren Anspruch auf Vorherrschaft in einer Region oder in einem Territorium zum Ausdruck.[7]

Die verschiedenen Siegelbilder in ihrer Vielfalt darzustellen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Sie wurden und werden in der Sphragistik in zahlreichen, hochdetaillierten Typologien erfasst, die für eine Ordnung der vielfältigen Bilder wichtig sind, aber in der Forschung kein Selbstzweck sein dürfen. Für den deutschsprachigen Raum sei hier die Typologie von Friedrich Karl Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg von 1892 genannt. Die traditionellen Typologien orientierten sich in der Regel ausschließlich am Siegelbild. Die neueren Forschungen zur Sphragistik betonen demgegenüber eine Orientierung am Verwendungszweck eines Siegels, also daran, was der Siegelführer oder die Siegelführerin mit dem Siegel aussagen wollten – vgl. dazu die Ausführungen weiter unten. Einschlägig und heute prägend ist deshalb die Typologie von Toni Diederich. Er teilt Siegel beispielsweise in Majestätssiegel, Thronsiegel, Reitersiegel, Erzählsiegel oder Stadtabbreviatursiegel ein, um nur einige wenige zu nennen. Welcher Siegelführer welche Bilder oder Bildtypen verwendete, war, ähnlich wie bei der Siegelform, nicht rechtlich festgelegt, sondern eine Frage von Konventionen und teilweise auch Moden. So ist das Majestätssiegel für Herrscher, das Thronsiegel für Bischöfe, Äbte oder Äbtissinnen charakteristisch. Der Hochadel ließ sich sehr gern auf Reitersiegeln abbilden. Stadtabbreviatursiegel waren, oft kombiniert mit anderen Elementen (sog. „Mischtypen“), der am häufigsten verbreitete Siegeltyp bei den Stadtsiegeln – auch wenn das Beispiel des Bruchsaler Siegels hier mit dem Wappensiegel einen anderen Typus verwendet.

In aller Regel wird das Siegelbild von einer Siegelumschrift umfasst. Diese nennt üblicherweise den Siegelführer und verkörpert den rechtlichen Aspekt eines Siegels. Hier wird deutlich, wer mit diesem Siegel ein Rechtsgeschäft tätigte oder beglaubigte. Allerdings konnte auch die Umschrift durch eine entsprechende Formulierung und Wortwahl zur Selbstdarstellung des Siegelführers genutzt werden. Im Hochmittelalter findet sich der Name des Siegelführers im Nominativ; das Recht zu siegeln beruhte hier auf der königlichen Banngewalt. Im 12. Jahrhundert setzte sich bei neuen Siegelführern die aus England über Flandern kommende Formulierung mit Sigillum und dem Namen im Genitiv durch. Die Siegelführer verstanden ihr Siegel nun als sigillum authenticum, legitimiert durch die oben zitierte Dekretale Alexanders III.

Beim hier abgebildeten Bruchsaler Stadtsiegel wurde bewusst kein außergewöhnliches Beispiel gewählt, sondern ein Siegel, wie es exemplarisch zu finden ist. Es handelt sich um ein Wappensiegel, das ganz einfach das Wappen des Bistums Speyer zeigt, denn der Speyrer Bischof war Stadtherr von Bruchsal. Dass ausschließlich das Wappen des Stadtherrn verwendet wurde, dürfte darauf hinweisen, dass Bruchsal auch im 13. Jahrhundert eng an den Stadtherrn gebunden war und – anders als die Kathedralstadt Speyer – keine große Unabhängigkeit genoss. 1298 verzichtete die Stadt schließlich auf alle eigenen Rechte und Freiheiten und unterwarf sich dem Bischof. Siegelführer und damit Aussteller von Urkunden mit diesem Siegel war aber dennoch die Stadt Bruchsal. Es war das + SIGILLVM CIVIVM IN BROSELLA, wie die Umschrift sagt. Das Siegel hat einen Durchmesser von 6,5 cm und gehört damit durchaus zu den größeren Stadtsiegeln im Südwesten. Es ist ungefärbt und an der Plica mit gelb und rot geflochtenen Fäden angehängt (Abb. oben). Auf seiner Rückseite finden sich, wie oben schon genannt, Fingereindrücke, die vom Besiegelungsvorgang stammen dürften.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Siegel gehören in erster Linie zu den Bildquellen, sind aber aufgrund der Umschriften auch Schriftquellen und ebenso Realien. Als Quellen können und müssen sie methodisch ausgewertet werden. Grundlage hierfür ist deshalb zunächst eine genaue Beschreibung in Bild und Umschrift: Ein Siegel bietet eine Darstellung auf kleinstem Raum, und der vorhandene Platz wurde von den Siegelstechern voll genutzt – Feinheiten in der Darstellung können deshalb wichtig sein. Bezüglich der dann anschließenden Auswertung ist grundsätzlich zu bedenken, dass Siegel sorgsam im Kontext Ihrer Entstehungszusammenhänge und entsprechender weiterer Quellen zu interpretieren sind, und dass leicht die Gefahr einer Überinterpretation besteht. Hier gibt es verschiedene Ansätze und Forschungsmöglichkeiten: Zunächst können einzelne Details des Siegelbildes als Belege dafür dienen, dass bestimmte architektonische Bauformen, bestimmte Kleidungsstücke oder auch bestimmte Schiffstypen, die auf den Siegeln abgebildet sind, zur Zeit und am Ort des jeweiligen Siegels verbreitet waren. So stellen Siegel Quellen für die Kunst- und Architekturgeschichte, für die Kostümgeschichte sowie für die Mittelalterarchäologie dar.

Wichtige Quellen sind Siegel selbstverständlich für die Rechts- und Verfassungsgeschichte: Ein Siegel ermöglichte es dem Siegelführer, selbst Urkunden zu beglaubigen und auszustellen. Der Siegelführer konnte damit – modern gesprochen – als eigenes Rechtssubjekt auftreten. So können aus dem Besiegelungsvorgang Schlüsse gezogen werden, welchen Status eine bestimmte Person oder Institution, die ein Siegel führte, im rechtlichen und gesellschaftlichen Leben innehatte. Darüber hinaus bedarf es des Siegels auch für Fragen der Urkundenkritik und der Authentizität von Urkunden.

Bild und Umschrift sind außerdem Quellen für die kulturhistorische Forschung. Die Formulierungen der Umschriften, vor allem aber natürlich die Ikonographie der Bilder kann und muss nicht nur für sich untersucht werden, sondern auch vergleichend zu anderen Siegeln und weiteren Bildträgern. So geben Siegel wichtige Hinweise zu Kunstlandschaften und zu kulturellen Beeinflussungen sowie Wanderungen und Weiterentwicklungen von ikonographischen Elementen über ganz Europa hinweg.

Aber auch zu neueren Fragestellungen der Geschichtswissenschaft, wie zu Fragen nach symbolischer Kommunikation, können Siegel einen wichtigen Beitrag leisten: Durch die Interpretation der Bilder kann viel über das Selbstverständnis des Siegelführers in Erfahrung gebracht werden. Wie verstand er sich selbst und was wollte er über sich aussagen, wenn er eine für die Öffentlichkeit bestimmte Urkunde mit diesem Siegel versah? Besonders im Mittelalter ist eine enge Korrelation zwischen Siegel und Siegelführer auszumachen. Dieser Ansatz, Siegel als Bedeutungsträger und Repräsentationsobjekte zu sehen, den Toni Diederich auf der Basis der kunsthistorischen Arbeiten von Dieter Bandmann entwickelt hat, ist in der Sphragistik prägend geworden.[8] So sind Siegel mit ihren Bildern und Umschriften im Rahmen einer symbolischen Kommunikation zu verstehen. Sie gehören zu der „besonderen Spezies von Zeichen verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer Art“, mithilfe derer gerade in der Vormoderne kommuniziert wurde.[9] Schließlich wurden zuletzt auch forensische Auswertungsmethoden herangezogen: Die oben bereits genannten Fingerabdrücke auf der Rückseite der Siegel wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Projekten erfasst und auf dieser Basis versucht, einzelne siegelnde Personen zu identifizieren.

Hinweise zur Benutzung

Siegel finden sich vor allem in Staats- und Stadtarchiven, aber auch in Hochschularchiven und kirchlichen Archiven. Häufig – und für die historische Forschung als Quelle weiterführender – hängen sie noch an den Urkunden an oder liegen zumindest bei. Es gibt aber auch zahlreiche Siegel- und Siegelabdrucksammlungen. Solche Sammlungen loser Siegel finden sich auch in Museen. Vor allem Wachssiegel sind aufgrund ihres Materials, ihres meist hohen Alters und der Tatsache, dass sie frei anhängen, sehr zerbrechlich. Diese insbesondere, aber natürlich auch alle anderen Siegel sind deshalb sorgsam zu behandeln. Häufig wird in Archiven vorgeschrieben, Stoffhandschuhe zu tragen, wenn mit (Wachs-)Siegeln gearbeitet wird. Der Vorteil liegt sicher im vermiedenen Hautkontakt, der Nachteil allerdings in geringerem Fingerspitzengefühl beim vorsichtigen Anfassen und Bewegen der Siegel. Frisch gewaschene, trockene Hände sind aber in jedem Fall ein Muss.

Anmerkungen

[1] Zur Typologie von Siegeln siehe unten Abschnitt „Aufbau und Inhalt“.
[2] Schöntag, Siegel, S. 105.
[3] Steck, Siegelwesen, S. 136.
[4] Siegel an LABW HStAS A 489 U 163.
[5] Zur historischen Entwicklung im Spätmittelalter und der Neuzeit vgl. den Passus bei Stieldorf, Siegelkunde, S. 46–53, an dem sich auch dieser Abschnitt orientiert.
[6] Zu Material, Siegelherstellung und Besiegelungstechniken umfassend Ewald, Siegelkunde, S. 143–178 und Kittel, Siegel, S. 163–185.
[7] Zu Form und Größe vgl. ausführlicher Stieldorf, Siegelkunde, S. 61f. sowie Kittel, Siegel, S. 186–188.
[8] Diederich, Prolegomena, S. 257; Bandmann, Mittelalterliche Architektur, S. 11.
[9] Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 500.

Literatur

  • Adam, Thomas, Kleine Geschichte der Stadt Bruchsal, Karlsruhe 2006.
  • Bandmann, Günter, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, 5. Auflage, Berlin 1978.
  • Bedos-Rezak, Brigitte Miriam, Ego, Ordo, Communitas. Seals and The Medieval Semiotics of Personality (1200–1350), in: Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 47–64.
  • Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, hg. von Markus Späth (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 1), Köln/Weimar/Berlin 2009.
  • Diederich, Toni, Siegelkunde. Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung, Wien/Köln/Weimar 2012.
  • Diederich, Toni, Prolegomena zu einer neuen Siegel-Typologie, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 29 (1983), S. 242–284.
  • Diederich, Toni, Zum Quellenwert und Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Städtesiegel, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977), S. 269–285.
  • Ewald, Wilhelm, Siegelkunde (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte Abt. 4), Berlin/München 1914 (ND München 1969).
  • Gönner, Eberhard, Siegel und Wappen württembergischer und hohenzollerischer Dorfgemeinden vor 1806, in: Neue Beiträge zur südwestdeutschen Landesgeschichte. Festschrift für Max Miller (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 21), Stuttgart 1962, S. 290–308.
  • Groten, Manfred, Vom Bild zum Zeichen. Die Entstehung korporativer Siegel im Kontext der gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen des Hochmittelalters, in: Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 65–85.
  • Hohenlohe-Waldenburg, Friedrich Karl zu, Sphragistische Aphorismen. 300 Siegel systematisch classifiziert und erläutert, Heilbronn 1882.
  • Johanek, Peter, Zur rechtlichen Funktion von Traditionsnotiz, Traditionsbuch und früher Siegelurkunde, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von Peter Classen (VuF 23), Sigmaringen 1977, S. 131–162.
  • Keller, Hagen, Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext. Die Bedeutung der Ottonenzeit für die Entwicklung von Siegelbild und Siegelurkunde, in: Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift Hansmartin Schwarzmaier, hg, von Konrad Krimm/Herwig John, Sigmaringen 1997, S. 3–51, wieder abgedruckt in: Hagen Keller, Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002, S. 131–166.
  • Kittel, Erich, Siegel (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde 11), Braunschweig 1970.
  • Schöntag, Wilfried, Siegel, in: Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven, hg. von Christian Keitel/Regina Keyler (Publikation des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins), Stuttgart 2005, S. 105–116.
  • Schöntag, Wilfried, Kommunale Siegel und Wappen in Südwestdeutschland. Ihre Bildersprache vom 12. bis zum 20. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 69), Ostfildern 2010.
  • Schöntag, Wilfried, Die Deutungsebenen der Siegel, Bekannte Quellen in neuem Licht, in: Netzwerk Landesgeschichte. Gedenkschrift für Sönke Lorenz, hg. von Dieter R. Bauer/Dieter Mertens/Wilfried Setzler (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 21), Ostfildern 2013, S. 121–131.
  • Steck, Volker, Das Siegelwesen der südwestdeutschen Reichsstädte im Mittelalter (Esslinger Studien 12), Esslingen a.N. 1994.
  • Stieldorf, Andrea, Rheinische Frauensiegel. Zur rechtlichen und sozialen Stellung weltlicher Frauen im 13. und 14. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 142), Köln/Weimar/Wien 1999.
  • Stieldorf, Andrea, Siegelkunde. Basiswissen (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften 2), Hannover 2004.
  • Stollberg-Rilinger, Barbara, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne; in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527.
  • Vocabulaire international de la sigillographie, hg. vom Conseil International des Archives, Comité de Sigillographie unter Stefania Ricci Noè (Pubblicazioni degli archivi di Stato. Sussidi 3), Rom 1990.

Zitierhinweis: Wolfgang Krauth, Siegel, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 11.01.2018.

 

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