Von Roland Deigendesch
Bei Jahrtagsbüchern (Anniversarien, Nekrologe) handelt es sich nicht um archivisches, aus administrativem Handeln erwachsenes Schriftgut, sondern um liturgische Gebrauchsschriften geistlicher Gemeinschaften. Sie sind kalendarisch aufgebaute Bücher, die Eintragungen regelmäßig wiederkehrender Gebetsverpflichtungen, in der Regel für Verstorbene, enthalten. Theologische Grundlage ist die Vorstellung, dass durch Fürsprache Dritter im Gebet die irdische Sündenlast verringert werden könne. Diese Fürsprache konnte durch Freunde und Verwandte ebenso wie durch religiös vorbildlich lebende Menschen und eben auch in geistlichen Gemeinschaften erfolgen. Frühmittelalterliche Autoren nennen bestimmte Zeiträume (7, 30 Tage nach dem Tod), während der das Messelesen und Beten für Verstorbene besonders hilfreich ist. Ebenfalls früh taucht die Vorstellung von Messen am jeweiligen Jahrestag (lat.: anniversarium) des Ablebens des Toten auf. Für diese “Seelmessen” wurden Stiftungen (Seelgeräte) getätigt, meist in Form grundherrlicher Einkünfte. Nicht selten waren damit auch die Reichung von Almosen, etwa in Form von Brotgaben an die Armen verbunden - ebenfalls mit der Verpflichtung, dass sich auch diese in ihren Gebeten für den Wohltäter (benefactor) einsetzen. In Klostergemeinschaften war häufig die morgendliche Kapitelversammlung Anlass zum Verlesen von Namen derjenigen Verstorbenen, denen im Gebet gedacht werden sollte.
Bevor die Jahrtagsbücher, um die es im Folgenden ausschließlich gehen soll, eingehender betrachtet werden sollen, muss noch eine mit den Jahrtagsbüchern verwandte aber doch anders strukturierte Quellengattung genannt werden, die in der neueren mediävistischen Forschung eine große Rolle spielt. Es sind dies die bereits aus karolingischer Zeit in südwestdeutschen Klöstern vorliegenden Libri vitae oder Verbrüderungsbücher. Auch sie enthalten Einträge von Personen oder Personengruppen, denen im Gebet besonders gedacht werden sollte. Im Unterschied zu den Jahrtagsbüchern sind diese Einträge aber nicht in ein kalendarisches Gerüst eingebunden. Die im Reichenauer Verbrüderungsbuch enthaltenen fast 40.000 Namenseinträge wurden im Rahmen des Quellenprojektes Societas et Fraternitas in einer Edition zugänglich gemacht und in einer Reihe von Begleitpublikationen hinsichtlich ihrer Aussagekraft und Auswertungsmöglichkeiten analysiert.
Der mittelalterliche Heiligenfestkalender (Kalendarium, Martyrolog) stellt die wesentliche Wurzel des Jahrtagsbuches dar. Die liturgischen Voraussetzungen für dieses “todbezogene Gedächtnis” (A. Angenendt) dürften im 9. Jahrhundert bereits vorgelegen haben. Frühe Beispiele kalendarisch aufgebauter Jahrtagsbücher aus Südwestdeutschland finden sich in den Klosterstiftungen des Hochadels, etwa der Gründung der Grafen von Achalm, Zwiefalten, oder aber der Welfengrablege Weingarten.
Nicht selten tragen die Jahrtagsbücher genau diesen Namen: Kalendarium mortuorum, ein Kalender der Verstorbenen also. Das bedeutet, dass ein chronologisches Ordnungsschema zu Grunde liegt. In aller Regel besitzen die Kalenderwerke des Mittelalters verschiedene Hilfsmittel, die zur Ermittlung wichtiger Tage – etwa der Sonntage, des Jahresanfangs oder des Osterfestes – dienen. Deshalb vermerken sie neben der antiken Tageszählung nach Kalenden, Nonen und Iden sowie der tageweisen Zählung häufig auch die sogenannten Sonntagsbuchstaben A-G. Neben diesem Grundgerüst sind auch die wichtigsten Heiligen- und Festtage der Kirche enthalten. Dies ist oftmals interessant, etwa wenn nicht bekannt ist, welcher Provenienz eine solche Quelle zuzuordnen ist. Bestimmte Heilige wurden in einigen Diözesen oder Ordenskommunitäten besonders verehrt, so dass zuweilen auch ohne eine Nennung des Entstehungsortes eine Eingrenzung geleistet werden kann.
Die entscheidende Weiterung des Kalendars zum Jahrtagsbuch geschieht durch Beifügung von Jahrtagseinträgen von Verstorbenen an den entsprechenden Tagen. Solche Einträge können sich auf bloße Namensnennung beschränken, enthalten aber seit dem 14. Jahrhundert immer umfangreichere Angaben, etwa zum Gegenstand der Stiftung oder zur Begehung des Jahrtages, ob an diesem Tag eine Speiseaufbesserung (Pietanz) oder ein Almosen gereicht wird, oder aber ob Kerzen (candelae) oder Weihrauch benötigt werden.
Dementsprechend nehmen die Jahrtagsbücher an Umfang beständig zu. Während vom frühen bis zum beginnenden späten Mittelalter die Einbindung des Kalendariums bzw. des Jahrtagsbuches in eine meist weitere liturgische Texte enthaltende Sammelhandschrift (“Kapiteloffiziumsbuch”, vgl. Lemaître 1984) die Regel ist, tritt am Ende des Mittelalters der Fall ein, dass in einer solchen Handschrift jeder Tag im Jahr eine eigene Seite erhält, so dass es sich nun notwendigerweise um ein gesondert gebundenes Buch handelt. Ein Beispiel für eine monumentalisierende, das Medium Buch hinter sich lassende Form des Namensgedächtnisses sind die Wandmalereien im Dominikanerkloster Krems (Niederösterreich).[1]
Angesichts der im 14. und 15. Jahrhundert sich ausweitenden Einträge überrascht es nicht, wenn diese ursprünglich liturgischen Hilfsmittel immer mehr zu einem bedeutenden Buch für die Einkünfteverwaltung aber auch für das Selbstverständnis der jeweiligen geistlichen Gemeinschaft wird. Dies äußert sich etwa darin, dass in den Jahrtagsbüchern der Kartausen Freiburg und Güterstein am Ende jeweils ein Personenregister enthalten ist. Dem Nekrolog des Augustiner-Chorherrenstifts in Backnang ist eine einfache Liste der Wohltäter des Stifts beigegeben. Vom Zweck der Quelle her eigentlich unnötig, wird dieser Anhang verständlich wenn man bedenkt, dass beispielsweise die Wohltaten einer wichtigen adeligen Familie, die nun im Jahrtagsbuch festgehalten werden, eine Aufwertung des eigenen Hauses bedeuten. So ist es sicher kein Zufall, dass die heute in Fulda verwahrte Weingartner Sammelhandschrift ein Jahrtagsbuch und die Historia Welforum samt Stammbaum dieses Hochadelsgeschlechts enthält.[2]
Jahrtagsbücher können an allen geistlichen Gemeinschaften, also vornehmlich in Klöstern und Stiften entstanden sein, später auch in Spitälern, bei Bruderschaften und an einfachen Pfarrkirchen. Wie bei jeglichem vornehmlich geistlichen Zwecken dienendem Schriftgut waren die Jahrtagsbücher Reformation und Herrschaftswechseln besonders ausgesetzt. Zwar wurden, wie ein Kalenderfragment mit Jahrtagseinträgen des 15. Jahrhunderts aus Marchtal zeigt, auch an altgläubig gebliebenen Orten nicht mehr gebräuchliche Kalenderwerke mit Jahrtagseintragung ausgeschieden,[3] doch traten die größten Verluste in den protestantischen Territorien ein, dienten die Jahrtagsbücher doch den als 'unnütz' angesehenen Werken. Von der bedeutenden Zisterze Bebenhausen etwa hat sich lediglich ein kleines Fragment eines Jahrtagsbuchs erhalten (jetzt: UB Tübingen), vom ehemaligen Stift der Kanoniker vom gemeinsamen Leben in Urach existieren gerade mal noch zwei Blätter (Stadtmuseum Klostermühle Bad Urach). Im Fall des schon genannten Stifts Backnang überdauerte das Jahrtagsbuch zwar ebenfalls nur als Fragment, es liegt jedoch eine frühe Auswertung der Gedenkeinträge aus dem 16. Jahrhundert vor, so dass sich das verlorene Original noch in Teilen rekonstruieren lässt.[4] Das Jahrtagsbuch der ebenfalls in der Reformation aufgehobenen Kartause Güterstein wiederum hat sich nur deshalb erhalten, weil es schon früh an die Benediktinerabtei Zwiefalten gelangt ist. Gerade die dort entstandenen Jahrtagsquellen zeigen, wie skrupulös man mit diesen Aufzeichnungen verfuhr. Von dem ältesten Zwiefalter Jahrtagsbuch des 12. Jahrhunderts lässt sich bis zu dem mehrbändigen, von dem Subprior Stephan Bochenthaler (gest. 1663) begonnenen und bis ins 18. Jahrhundert fortgeführten Necrologium eine lückenlose Pflege der Memorialeinträge in dem bedeutenden Kloster zwischen Alb und Oberschwaben feststellen (heute alle in der WLB Stuttgart). Vergleichbar ist die akribische Arbeit des St. Petriner Klosterarchivars Gregor Baumeister von 1767.[5] Die umfassenden Sammlungen der Nekrologeinträge dienten hier bereits einer haus- und ordenszentrierten Geschichtsschreibung, die am Ende des 18. Jahrhunderts in vielen südwestdeutschen Klöstern blühte.
Die Mehrzahl der erhaltenen Jahrtagsbücher gelangte mit den Stifts- und Klosterbibliotheken im 19. Jahrhundert in die großen wissenschaftlichen Bibliotheken, wenn sie sich nicht bis heute in der Obhut einzelner Orden befinden. Doch auch die Archive, die ja meist ebenfalls über ein nicht-administratives Handschriftenerbe verfügen, können derlei Quellen enthalten. Als Makulatur benutzte Fragmente oder aber spätere Abschriften können auch heute noch neu entdeckt werden, so dass die unten genannten Verzeichnisse der Jahrtagsbuchüberlieferung zwar unerlässliche Hilfsmittel sind, allerdings keine Gewähr auf Vollständigkeit bieten.
Es kann hier ausschließlich darum gehen, die im Sinne einer “seriellen” Quelle relevanten Auswertungsmöglichkeiten kurz zu benennen. Einträge, die sich mit Einzelheiten des geistlichen Lebens, etwa der Entwicklung der Seelmessen oder anderen liturgischen Fragestellungen beschäftigen, können im Folgenden nicht weiter verfolgt werden.
Grundsätzlich bieten die Jahrtagsbücher Informationen zu den Personen, für die gebetet wird und im Fall weltlicher Stifter häufig auch über deren Seelgerät, also das Stiftungsgut. In dieser Hinsicht können Jahrtagsbucheinträge urkundliches und in Lagerbüchern enthaltenes Material etwa zu einer klösterlichen Grundherrschaft ergänzen, jedoch sicher nicht ersetzen.
Wichtiger sind die Auswertungsmöglichkeiten über die kommemorierten Personen. Es lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, nämlich sozusagen “Externe”, außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft stehende, die sich durch Stiftung ein Anrecht auf Gebetsgedenken erwerben, und Konventualen oder Kanoniker der jeweiligen Kommunität, denen dieses Recht schon qua Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft zukam. Einer jeden Auswertung muss eine profunde Quellenkritik vorausgehen, die wenigstens folgende Punkte klären sollte:
- Anlage- und Laufzeit der Quelle - Überlieferungsgang - Aufbewahrungsort: Kirche, Bibliothek (Signaturen?) - Zweck: eher liturgische Gebrauchsschrift oder bereits archivisch-historische Quelle? - Vollständigkeit (u.U. stichprobenartig überprüfbar anhand bekannter grundherrschaftlicher Daten)
Dies vorausgeschickt kann die Zusammenstellung und Auszählung einzelner Einträge im Hinblick auf die geistliche Gemeinschaft wichtige Aussagen zu ihrer zahlenmäßigen Entwicklung, der sozialen Zusammensetzung sowie hinsichtlich der (geographischen) Herkunft und der Bildung (Universitätsstudium?) der Mitglieder zulassen.
Geht man von adeligen Klosterstiftungen aus, kann eine Auswertung der „Externen“-Einträge Erkenntnisse über die Beziehung von adeliger (oder bürgerlicher) Klosterstiftung zum Wirkungsbereich des/der Stifters erbringen: Findet sich etwa der am Hof bedienstete Adel ebenso unter den Stiftern? Wie weit reicht die regionale Streuung derjenigen, die um ein Gebetsgedenken, vielleicht gar um eine Bestattung (Sepultur) in der Kirche nachfragen? Wie sehr lässt sich der Stifterkreis dem Territorium des adeligen Stifters zuordnen?
Für beide Gruppen gilt, dass eine diachrone Auswertung der Einträge einen wichtigen Einblick in zunehmende oder abnehmende Bedeutung einer geistlichen Gemeinschaft, vielleicht aber auch in die sich wandelnde Bedeutung von Seelgerätstiftungen an sich in einem bestimmten regionalen Umfeld zulassen. Hier gilt es nochmals auf die Quellenkritik hinzuweisen, denn solche Aussagen sind selbstverständlich nur dann machbar, wenn ein Jahrtagsbuch über einen längeren Zeitraum auch gepflegt wurde.
Die Anziehungskraft eines Hauses lässt sich über die regionale Rekrutierung sowohl der Stifter als auch der Chorherren und Konventualen mit beschreiben. Oftmals sind auch Bücherstiftungen enthalten, so dass sich wichtige Hinweise zur Bibliotheksgeschichte eines Hauses ergeben können. Seltener sind realienkundlich-kulturgeschichtlich verwertbare Einträge. Immerhin werden zuweilen Paramente und andere liturgische Geräte als Stiftungsgegenstände genannt; ganz sicher Seltenheitswert hatte die Schenkung einer Ritterausrüstung, die der Buxheimer Konversbruder Johannes Firer (+ 1475) bei seinem Eintritt in die schwäbische Kartause getätigt hatte.[6]
Zitierhinweis: Roland Deigendesch, Jahrtagsbücher, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 2005.