Urkunden

Von Mark Mersiowsky

König Heinrich IV. schenkt der Gattin des Reichsministerialen Swigger, Chuneza, 10 Hufen im Ort Wulnestat 18. November 1057, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS H 51 U 5 Bild 1)
König Heinrich IV. schenkt der Gattin des Reichsministerialen Swigger, Chuneza, 10 Hufen im Ort Wulnestat 18. November 1057, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS H 51 U 5 Bild 1)

Definition der Quellengattung

Nach einer gängigen Definition versteht man unter Urkunde ein unter Beachtung bestimmter Formen ausgefertigtes und beglaubigtes Schriftstück über Vorgänge rechtserheblicher Natur. Die Urkunde kann in verschiedenen Formen überliefert sein: als Original oder in abgeleiteter Form. Bei den Originalen unterscheidet man die eigentlichen Originale, also die Urschrift der Urkunde, die der Aussteller in diesen Formen intendiert und autorisiert hat, und angebliche Originale, Stücke, die nur formal den Anschein erheben, solche zu sein. Die Diplomatik ist gewohnt, mit diesem Begriff Fälschungen zu bezeichnen, die bewusst als Originale durchgehen sollen, ohne dass sie in den Formen und/oder dem Inhalt dem Willen des Ausstellers entsprangen. Die abgeleitete Überlieferung gliedert sich in systematisch erstellten Abschriften von Ausstellerseite (Register) oder Empfängerseite (Chartulare oder Kopiare), beglaubigte (als Inserte in späteren Urkunden) und unbeglaubigte Kopien zunächst in handschriftlicher, seit dem Aufkommen des Buchdruckes auch in gedruckter Form. Eine Sonderform sind Einzelkopien auf Pergament, die mehr oder minder die Formen des Originals bis hin bis zur Besiegelung nachahmen (die Diplomatik spricht dann von Nachzeichnungen). Die Bandbreite der abgeleiteten Überlieferung ist groß, Urkundenabschriften treten auch in der Historiographie auf. Beglaubigte Abschriften – meist in Form von Notariatsinstrumenten – sicherten die kostbaren Originale vor Verlust. Wenn es auf die Rechtswirksamkeit nicht so sehr ankam, nutzte man einfache Kopien. Mussten in einem Prozess Beweisurkunden eingereicht werden, bediente man sich häufig sogenannter Inserte und übernahm komplett die wichtigsten Texte als Zitat in eine spätere Urkunde.

Da das Verfassen einer Urkunde ein durchaus komplizierter Vorgang ist, steht die Reinschrift – man spricht diplomatisch von Mundierung – oft am Ende einer komplexeren Vorgeschichte. Der Entwurf in Form eines Konzeptes ist oft in einfacher, flüchtiger Geschäftsschrift niedergelegt und weist Streichungen, Nachträge und Ergänzungen auf, die das allmähliche Entstehen eines Dokumentes zeigen. Im Zuge des langgestreckten Entstehungsprozesses der Urkunde kann es Vorlagen der späteren Empfänger, Konzepte, Entwürfe der Urkunde oder Formulare, Vorlagen für die Erstellung bestimmter Urkundentypen, gegeben haben. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit gibt es eine reiche Literatur sogenannter artes dictamini oder Briefsteller.

Die Formen der Urkunde werden in äußere Formen, die nur anhand der Originale erfasst werden können, und innere Merkmale, die sich auch anhand der abgeleiteten Überlieferung bearbeiten lassen, geschieden. Zu den äußeren Formen gehören vor allem Beschreibstoff, Schreibstoff, Format, Linierung, Faltung, Layout, Schrift und Schriftzeichen, Besiegelung, Dorsualvermerke, zu den inneren Merkmalen Sprache, Stil, Formular und Inhalt.

Die traditionelle Aufteilung in Kaiser- und Königsurkunde, Papsturkunde und Privaturkunde entsprang dem Verfassungsdenken des 19. Jahrhunderts und muss durch adäquatere Einteilungen abgelöst werden. In der heutigen Diplomatik besteht Konsens, die Urkunden am besten nach den Ausstellern zu kategorisieren. Herrscher- und Papsturkunden haben sich als Kategorien bewährt und können daher noch benutzt werden. Der Begriff „Privaturkunde“ hingegen ist eine Verlegenheitslösung der Diplomatik. Seit dem 19. Jahrhundert gebrauchte man diesen Terminus zur Bezeichnung derjenigen Urkunden, die weder von Königen, Kaisern noch Päpsten, also nach den dieser Kategorisierung zugrundeliegenden Rechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht von Souveränen ausgestellt wurden. Auf dem Wege zu einer neuen, adäquateren Aufteilung des Urkundenwesens hat die Commission Internationale de Diplomatique in den letzten Jahrzehnten eine Reihe wichtiger Tagungen abgehalten, deren Ergebnisse in Form von Sammelbänden vorgelegt wurden. In diesen Bänden spiegeln sich Ansätze zu einer neuen, zeitgemäßen Typologie der Urkunden. Behandelt wurden Königsurkunden, Papsturkunden, landesherrliche Kanzleien, das öffentliche Notariat, die städtische Diplomatik, die Bischofsurkunde, Gerichtsdokumente und Schriftgut des Handels und der Kaufleute. Diese wichtigen typologischen Ansätze, die bereits auf eine zukünftige Gliederung des Urkundenwesens ausgehend von den Ausstellern hindeuteten, gilt es aufzugreifen. Die moderne Diplomatik müsste von den Inhabern öffentlicher Gewalt ausgehen und neben der Herrscher- und Papsturkunde die geistlichen und weltlichen Fürstenurkunden und Grafenurkunden, den Bereich der feudalen und seigneuralen, kirchlichen wie städtischen Urkunden betrachten und sich den unterschiedlichen Sphären geistlicher wie weltlicher Gerichte und schließlich den Notariatsinstrumenten zuwenden, deren Original nicht die Ausfertigung, sondern der Eintrag in die Notariatsimbreviatur ist. So sollte man den Begriff „Privaturkunde“ künftig vermeiden.

Historische Entwicklung

Die römische Antike bediente sich umfassend des geschriebenen Wortes. Wirtschaft, Militär und Verwaltung dokumentierten ihr Handeln als Rollenaufzeichnungen auf Papyrus. In Rom, Konstantinopel und in den Provinzhauptstädten gab es große staatliche Archive. Auch Privatpersonen wie der Bankier und Auktionator Lucius Caecilius Jucundus in Pompeji oder der Bauer Soterichos aus Theadelphia (heute Harit, ein Dorf im ägyptischen Fayum) besaßen im ersten Jahrhundert nach Christus Archive, von denen wir Überreste kennen. In der Spätantike gewannen die Rechtsgeschäfte von Privatpersonen dadurch Rechtskraft, dass sie formell in die Akten der städtischen Behörden eingetragen wurden. Bei Streitigkeiten vor Gericht wurde auf diese Protokolle, die sogenannten gesta municipalia, zurückgegriffen. Mit dem Untergang der antiken Welt verschwanden nach und nach nicht nur die lokalen Behörden, sondern auch ihre Archive. Nur Trümmer sind auf uns gekommen. Die Erzbischöfe von Ravenna führten die alten bürokratischen Traditionen noch lange fort. Aus ihrem Archiv stammen alle aus Italien erhaltenen lateinischen Verwaltungspapyri des 5. bis 8. Jahrhunderts. Mit dem Ende dieser öffentlichen Archive war jede Person und Institution gezwungen, selbst für die Aufbewahrung der schriftlich fixierten Rechtsgeschäfte zu sorgen. Es entstanden Archive bei den Urkundenempfängern. Das konnten einzelne Weltliche, Familien wie geistliche Einrichtungen sein. Aber gerade die Archive weltlicher Empfänger hatten kaum eine Überlieferungschance. Starb die Person, ging die Familie unter, war das Archiv gefährdet. König und Adel führten ein höchst mobiles Leben mit entsprechend hohem Risiko für ihre Urkundenschätze, während Klöster und Bischofssitze ortsfest blieben. Klöster oder Bischofskirchen waren seit der Karolingerzeit meist massive Steinbauten, hatten institutionelle Kontinuität und boten als geheiligte Orte einen gewissen Schutz. So konnten die Urkunden mehr oder minder gut verwahrt die Jahrhunderte überdauern. Daher verwundert es nicht, dass die frühmittelalterlichen Originalurkunden, die für Weltliche ausgestellt wurden, nur die Zeiten überdauert haben, weil sie irgendwann in ein Kirchenarchiv kamen. Natürlich kam es auch in Kirchenarchiven zu Verlusten, etwa durch Brände oder Plünderungen.

Nicht allein das Verschwinden der Verwaltungsarchive kennzeichnet den Umbruch von der Antike zum Mittelalter. Wenngleich die lückenhafte Quellenbasis die auch regional sehr unterschiedlichen Entwicklungen nur schwer überschaubar macht, ist nicht daran zu zweifeln, dass der Gebrauch der Schrift im Alltagsleben zurückging. Vor allem schwand die Schreibfähigkeit der weltlichen Oberschicht. Das Schreibgeschäft überließ man denen, die es wegen der Bedeutung der Schrift in Glaube und Kult sowieso beherrschen mussten: den Geistlichen. Die Referendare der Merowingerzeit waren noch Weltliche. Die Karolinger betrauten ihre Hofgeistlichen mit der Urkundenherstellung. Diese über Jahrhunderte stabile Konstellation spiegelt die englische Sprache bis heute: der Schreiber, Büroangestellte oder Sekretär wird clerk genannt, abgeleitet vom lateinischen clericus.

Mit dem Rückgang der Schriftlichkeit reduzierte sich das, was man aufbewahrte: nicht mehr umfangreiche Akten, sondern nur noch das entscheidende Dokument, die Urkunde. Das eindrucksvollste frühe Archiv nördlich der Alpen ist sicher das eineinviertel Jahrtausende alte Stiftsarchiv von Sankt Gallen.[1] Obwohl es im 16. Jahrhundert geplündert wurde und wohl mehrere Tausend frühmittelalterliche Urkunden dadurch verloren gingen, besitzt es noch heute über 800 Pergamenturkunden aus der Zeit vor 1000, darunter nicht nur Herrscherdiplome, sondern viele Tauschurkunden und Schenkungen Geistlicher wie Weltlicher. Zahlreiche südwestdeutsche Orte verdanken ihre Ersterwähnung den in Sankt Gallen überlieferten Traditionsurkunden. Die ältesten südwestdeutschen Originalurkunden stammen aus den Archiven der Abteien Reichenau und Ellwangen.

Erst im Zuge des späten 11. und 12. Jahrhunderts veränderte sich die Welt wieder entscheidend. Diese Zeit war von großer Dynamik geprägt. Es war die Zeit, in der sich das europäische Städtenetz entscheidend konstituierte, die Kreuzzüge und die Ostsiedlung begannen, Universitäten gegründet wurden und sich im deutschen Sprachraum die Adelsherrschaften zu Landesherrschaften umzubilden begannen. Auch im Bereich von Recht und Schrift wandelten sich die Verhältnisse entscheidend. Schreiben blieb nicht mehr Sache von Geistlichen, sondern breitete sich in andere Gesellschaftsgruppen aus. Immer mehr wurde geschrieben, immer neue Lebensbereiche von Schriftlichkeit durchdrungen. Mit dem Bevölkerungswachstum ging die Ausbildung neuer Institutionen – Städten, Universitäten und Hospitälern – einher. Neue Orden wie die Zisterzienser um die Wende zu 12. Jahrhundert und im 13. Jahrhundert die Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner verbreiteten sich und gründeten überall in Europa ihre Klöster. Überdies formierten sich neue soziale Gruppen wie städtische Oberschichten und der Niederadel. Mit all diesen Entwicklungen wuchs die Zahl und Vielfalt der potentiellen Archivbildner exponentiell an. Die Anfänge königlicher und fürstlicher Archive liegen ebenfalls im 12. Jahrhundert. In dieser Zeit lassen sich die ersten Versuche zur Strukturierung der Urkundenschätze der Grafen von Barcelona, heute sicher das wichtigste erhaltene Fürstenarchiv des Hochmittelalters, festmachen. In die Archive legte man zunächst wieder nur die Urkunden.

Schon seit dem Frühmittelalter bildeten sich unterschiedliche Traditionen schriftlicher Rechtssicherung im mittelalterlichen Europa aus, zunächst stark geprägt von der mehr oder minder starken Kontinuität der spätantiken Verwaltung. So spielen in den aus dem südwestdeutschen Raum stammenden Sankt Galler Traditionsurkunden die Eigenhändigkeit der Notarsunterschrift wohl ebenso wenig eine Rolle wie die der Schenker- und Zeugenunterschriften; bei den Signa der Zeugen begegnen keine autografen Elemente, anders als bei Dokumenten aus Südfrankreich, Katalonien oder Italien. Hohe Schriftlichkeit und Kontinuität der Notarstätigkeit seit der Spätantike kennzeichnet die reiche Überlieferung aus dem italienischen Raum, aus Spanien und Südfrankreich. Hier dominieren im Hoch- und Spätmittelalter die nicht durch ein Siegel, sondern durch die eigenhändige Unterschrift des öffentlichen Notars beglaubigten und in seiner Imbreviatur verzeichneten Notariatsurkunden das ganze Mittelalter hindurch. Anders sieht es in Nordfrankreich, dem heutigen Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Teilen Österreichs aus. Hier behielt die sich seit dem 12. Jahrhundert ausbildende Siegelurkunde deutlich die Überhand und breitete sich im Zuge der Ostsiedlung auch weit in den Osten Europas aus. Weniger öffentliche Notare als die verschiedenen Beurkundungsinstanzen wie städtischer Rat, Schöffen, ländliches Gericht oder Landesherr sorgten hier mittels der Siegelurkunde für Rechtssicherheit. Das lange Vorherrschen der Siegelurkunde gegenüber den Notariatsinstrumenten führte zu interessanten Übergangsformen. Neben dem üblichen Notarszeichen und dem Notarsvermerk, die eigentlich zur Beglaubigung genügten, werden solche Hybridformen besiegelt. Das adlige und städtische Urkundenwesen war schon früh durch den Übergang zur Volkssprache gekennzeichnet. Oft verband man die in innerem Zusammenhang stehenden Dokumente sogar körperlich, indem man die Vorgängerurkunde mittels Siegelstreifen an der Nachfolgeurkunde befestigte. Die so verbundenen Urkunden nennt man Transfixe.

Mit dem Anwachsen der Überlieferung verliert Latein immer mehr an Bedeutung. Die Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit wie die Verfügbarkeit des Papiers senkten die Schwellen, jenseits derer man zum Mittel der Schrift griff. Die zunehmende Verschriftlichung führt zum Entstehen von Urkunden minderer rechtlicher Bedeutung. Manche dieser Aufzeichnungen sind schon keine Urkunden im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur Belegzettel. Von der Ausstattung her vergleichbar waren die für einfache Rechtsgeschäfte wie die Freilassung Abhängiger benutzten Papierurkunden mit aufgedrücktem Siegel oder Briefe, die alle nur für begrenzte Dauer gültig sein sollten. Für Rechtsgeschäfte geringerer Bedeutung, etwa Pachtverträge oder kleinere Rentengeschäfte, benutzte man im Spätmittelalter vor allem im ländlichen Raum das traditionelle Mittel des Chirographs oder des Kerbzettels. Dazu wurde der Text zweimal auf einem Blatt ausgefertigt, und zwar so, dass der eine Text auf dem Kopf stand. Dann schrieb man auf den Zwischenraum zwischen den beiden Texten das Wort Chirographum oder auch die ersten Buchstaben des Alphabets. Anschließend zerschnitt man das Blatt und jede Partei erhielt ein Exemplar. Manchmal führte man den Schnitt auch zickzackförmig aus, daher der Name Kerbzettel. Bei Unstimmigkeiten konnte man überprüfen, ob die Stücke aneinanderpassen. Im Laufe des Spätmittelalters entwickeln sich neue Formen von Geschäftsschriftgut, und die höher entwickelten Staatsgebilde und andere administrative Einheiten gingen dazu über, nicht nur die Urkunden, sondern auch andere Produkte des Regierungs- und Verwaltungshandelns systematisch aufzubewahren.

Die frühneuzeitlichen Urkunden entsprachen in ihren Formen noch ganz ihren mittelalterlichen Vorgängern, ein Bruch fand nicht statt. Im 17. und 18. Jahrhundert spielten mittelalterliche wie frühneuzeitliche Urkunden immer wieder eine wesentliche Rolle als Beweismittel vor Gericht. Daher wurden auch die nachmittelalterlichen Urkunden als Rechtsmitteldepots sorgfältig verwahrt, verzeichnet und kopiert. Allerdings sind frühneuzeitliche Urkunden viel stärker in ausgebildete schriftliche Verwaltungsprozeduren eingebunden. Mit dem Siegeszug des Buchdruckes und der Herausbildung stabilerer Praktiken schriftgestützter Verwaltung treten immer stärker gedruckte Formulare auf Pergament wie Papier auf.

Aufbau und Inhalt

Der Definition der Urkunde als unter Beachtung bestimmter Formen ausgefertigtes und beglaubigtes Schriftstück über Vorgänge rechtserheblicher Natur impliziert bereits einen schematischen Aufbau. In der Tat sind Urkunden nach einem bestimmten Formular, beruhend auf einem Fundus bestimmter Urkundenformeln, aufgebaut. Das jeweilige Formular variiert nach Urkundentyp, Aussteller und jeweiligen Gebräuchen.

Überlieferungslage

In ein Archiv kommt eine Urkunde, weil der Empfänger sie erhalten hat und zunächst zur Wahrung seiner Rechte, später zur Dokumentation seines Verwaltungshandelns zusammen mit anderen Dokumenten aufbewahrt. Damit ergibt sich automatisch ein funktionaler Zusammenhang der unterschiedlichen Schriftstücke im Archiv und sein organisches Wachstum: Die Urkunde kommt in ein Archiv, weitere Urkunden folgen. Wird etwas erworben, können ältere Besitztitel aus einem anderen Archiv übernommen und in das eigene Archiv inkorporiert werden. Um mit einem Bild zu sprechen: Im Archiv liegt die Urkunde eingebettet in einer Schicht ähnlicher Dokumente, über die sich spätere Dokumente wiederum in Schichten ablagern. Wie ein archäologischer Fund ruht die Urkunde in einer bestimmten Schicht, in Analogie zur Archäologie könnte man von einer Stratigraphie sprechen. Dadurch werden viele Aussagen erst möglich. Die Kombination mit anderen Dokumenten aus dem Archivzusammenhang hilft etwa, undatierte Sachverhalte zu datieren und offene Fragen, die bei Betrachtung des Einzelstückes nicht beantwortet werden können, durch Rückgriff auf ältere Nachrichten oder Berichte über spätere Zustände zu klären. In Anlehnung an archäologische Fachbegriffe wäre das ein Befund: Die Urkunde steht in einem organisch gewachsenen Geflecht aus anderen Archivmaterialien, und nicht nur ihre eigene Form und ihr eigener Inhalt, sondern ihre Positionierung innerhalb des Geflechtes ermöglichen weitergehende Aussagen. Die überwiegende Zahl der Urkunden, die in südwestdeutschen Archiven liegen, stammt aus dem 15. Jahrhundert und aus der Frühen Neuzeit, da mit der immer größeren Schriftlichkeit die Masse der Überlieferung fast exponentiell ansteigt.

Urkunden wurden und werden in erster Linie in Archiven verwahrt.[2] Daneben treten sie aber auch in Sammlungen auf. Das Interesse an den in ihnen erwähnten Personen bewegte – parallel zu ähnlichen Erscheinungen bei den Autografen –frühneuzeitliche Urkundensammler. Aus didaktischen Gründen entstanden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diplomatische Apparate, zunächst stärker für juristische Praktiker, dann für Historiker. Hatte man in den juristischen Vorlesungen der Zeit um 1750 noch mühsam abstrakte Regeln auswendig lernen müssen, nach denen die Stücke zu bewerten waren, zog im Zuge der Aufklärung die Anschauung in die Hörsäle ein. Um den Studierenden einen Eindruck vom Aussehen ihrer Studienobjekte zu vermitteln, legten Lehrer der Diplomatik Lehrsammlungen mit Kupferstichen, Abzeichnungen, Siegelnachbildungen und Originalen an, um einen möglichst umfassenden Eindruck des gesamten mittelalterlichen und neuzeitlichen Urkundenwesens zu vermitteln. Der wichtigste Vertreter und vielleicht sogar der Erfinder dieser Form des akademischen Unterrichts war der Göttinger Professor Johann Christoph Gatterer (1727–1799). Für seine Zwecke begründete er eine berühmte Sammlung, die das Vorbild zur Bildung vieler sogenannter diplomatisch-paläographischer Apparate in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war. Durch die Umbrüche im Rechtswesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts – als Schlagworte seien die Einführung des Code Civil und später des Bürgerlichen Gesetzbuches genannt – ließ der gerichtliche Beweiswert und damit das juristische Interesse an Urkunden schlagartig nach. Mit dem Wachsen des historischen Interesses auf nationaler wie regionaler Basis wurde man sich dagegen des historischen Quellenwertes der durch die Zeitläufte um 1800 versprengten Dokumente bewusst und suchte sie zu erhalten. Neben akademischen Ausbildungseinrichtungen legten nun vor allem historische Vereine und Museen Urkundensammlungen an, und zwar deshalb, weil sie vom Denkmalcharakter der Dokumente und ihrem historischen Quellenwert überzeugt waren. Bekanntlich war die Entstehung regionaler historischer Vereine eine typische Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Fast überall begannen diese Vereine, die durch die Zeitläufe versprengten Urkunden aus ihrem Raum anzukaufen. Gleiches gilt für Einzelpersonen, wie die einschlägigen Sammlungen der Universitätsbibliothek Heidelberg zeigen, die „Alte Sammlung“, die Sammlung Batt, die Sammlung Barth, die Sammlung Lehmann und die Sammlung Fischer.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Die Echtheit einer Urkunde wird anhand der äußeren wie inneren Formen bestimmt. Die Diplomatik geht seit Theodor von Sickel von den Originalen aus und fragt nach der „Kanzleigemäßheit“, also nach den typischen Gebräuchen in der Institution, die für den Aussteller die Urkunde erstellte. Allerdings haben sich die Vorstellungen von der Kanzlei seit den anachronistischen Vorstellungen Sickels massiv verändert. Auf Basis aller äußeren Merkmale werden Kriterien für die Echtheit und Unechtheit erarbeitet. Die traditionell wichtigste Methode ist der Schreibervergleich, die Zuweisung an bestimmte Hände. Dafür werden Methoden wie in der forensischen Begutachtungspraxis herangezogen. Allgemeiner Schriftcharakter, Duktus, Neigung, einzelne charakteristische Buchstabenformen und Ligaturen, Abkürzungssystem, Abkürzungszeichen, einzelne „earmarks“ charakterisieren den jeweiligen Schreiber. Allerdings stellen sich auch Probleme: je nach Federzuschnitt und „Tagesform“ können durchaus unterschiedliche Schriftcharakter auftreten. Wenn Stücke zeitlich und räumlich auseinanderliegen, stellt sich die Frage, wie stark sich eine Hand wandelt. Wie weit lässt man Abweichungen zu, um noch von einer Hand zu sprechen? Traditionell galten als Kanzleihände diejenigen Schreiber, die mehrfach Urkunden mundiert hatten und in unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Empfängerfonds identifiziert wurden. Allerdings muss – vor allem im Früh- und Hochmittelalter – mit intensiver Beteiligung von Empfängerschreibern oder Dritten gerechnet werden, wie gerade in jüngerer Zeit herausgearbeitet wurde.

Auf dem Korpus der als echt bewerteten Originale aufbauend können nun Kriterien für die inneren Merkmale entwickelt werden. Anhand des so erarbeiteten Kanons kann damit auch die abgeleitete Überlieferung durchgearbeitet werden. Die wichtigste Methode ist der Diktatvergleich, die Zuweisung an bestimmte Verfasser, der durch moderne linguistische Methoden derzeit auf neue Grundlagen gestellt wird, daneben werden der Urkundeninhalt der historischen wie rechtshistorischen Kritik unterworfen. Auf diesen Grundlagen können dann begründete Urteile über die Echtheit von Urkunden abgegeben werden. Dafür hat die Diplomatik, die seit dem späten 17. Jahrhundert herausgebildete Spezialdisziplin zur Bewertung der Urkunden, ein ganz eigenes Vokabular ausgebildet: sie spricht von Echtheit, Originalität und unterscheidet Original und angebliches Original von verunechtet, unecht und Fälschung. Die Echtheit ist die vom Aussteller autorisierte Fassung, das Original die vom Aussteller autorisierte Fassung in den vom Aussteller autorisierten Formen. Das angebliche Original ist ein Schriftstück, das vorgibt, ein Original zu sein. Als Verunechtung bezeichnet man eine Manipulation an einem im Kern echten Stück, als unecht fassen die Diplomatiker das, was man gemeinhin als Fälschung bezeichnet. Die Fälschung im diplomatischen Sinn ist hingegen ein Text, den es im Mittelalter nicht gegeben hat.

Die Diplomatik ist traditionell fixiert auf echte Urkunden. Schon Ernst Edmund Stengel (Gründer des Lichtbildarchivs älterer deutscher Originalurkunden in Marburg) wollte einen Atlas der angeblichen Originale, sein späterer Nachfolger Peter Rück nahm diesen Gedanken wieder auf, ist aber nie fertiggeworden. Das angebliche Original musste, sollte es wirken, akzeptiert werden. Der Fälscher musste es so gestalten, dass er davon ausgehen konnte, damit einen Erfolg zu haben. So spiegeln angebliche Originale den Blick des Fälschers auf die Urkunden wider.

Probleme stellen sich in der Echtheitskritik, wenn alle Originalurkunden aus einem Fonds stammen, etwa bei den Merowingerurkunden aus Saint Denis, oder wenn gar keine Originale überliefert sind, wie bei den langobardischen Herrscherurkunden. Die wesentliche Rolle der ominösen Kanzlei bei der Echtheitskritik führt zu Schwierigkeiten, wenn es keine eigentliche Kanzlei gegeben hat; dann funktioniert die klassische Untersuchungsmethode nicht. Die Methoden wurden für das Früh- und Hochmittelalter und seine begrenzte Überlieferung, die stark von Fälschungen geprägt ist, entwickelt, im Spätmittelalter mit viel zahlreicheren Orten von Schriftlichkeit und exponentiell zugenommener Überlieferung ist sie so nicht handhabbar.

Urkunden wurden traditionell als aktive, bewusste und willentliche Handlung des Ausstellers gewertet, womit wieder die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von Politik und Souveränität durchschlugen. Heute ist man sich bewusst, dass Urkunden vielmehr zu erheblichem Maße auf die Empfängerinitiative zurückgingen und nicht Zeugnis autonomer Satzung des Ausstellers, sondern von komplexen Aushandlungen sind. Die bewusste Historisierung der Verwaltung, die als zeit- und kulturgebundenes Phänomen erkannt wurde, führt heute zur Notwendigkeit, die Urkundenausstellung, den Urkundenempfang und die andauernde Nutzung und Verwahrung der Dokumente systematisch und praxeologisch zu untersuchen. Die Urkunden waren in ein Gesamtsystem von rituellen, symbolischen, verbalen und schriftlichen Praktiken eingebunden. An sie wurden gesellschaftlich unterschiedliche und sich nach Raum wie Zeit verändernde gesellschaftliche Anforderungen gestellt, was Form und Intensität der Beglaubigung angeht. Der gesellschaftlich geforderte Beglaubigungsaufwand konnte zeitlich wie regional sehr verschieden sein. Die adäquate historische Auswertung der Urkunden muss sich diese Funktionen bewusst machen und sie in ihre Interpretationen einbeziehen.

Viel zu wenig sind Urkunden in ihrer Qualität als graphische Kunstwerke und Medium im allgemeinen Bewusstsein. Der ehemals Marburger Hilfswissenschaftler Peter Rück hob in seiner Charakterisierung der Urkunde als Kunstwerk verschiedene Elemente hervor: Mittelalterliche Urkundenschriften unterscheiden sich wesentlich von zeitgenössischen Buch- und Geschäftsschriften und weisen besondere Schmuckelemente auf. Die Urkundenfläche hat ganz andere Proportionen und Formate als Handschriften und ist durch eigenartige Zeichen wie Siegel, Symbole, Signete und Signaturen akzentuiert. Die Anordnung von Schriftfläche, Freiraum und Symbolen folgte wiederum eigenen ästhetischen Prinzipien, die nicht den Layout-Regeln der Buchseite gehorchen. Urkunden wirken als Plakate. Diese Elemente machten die Urkunde nicht nur zu einem graphischen Kunstwerk oft bedeutenden Ranges, sondern fungierten als Sinnträger und Kommunikationsmittel: Sie dienten monarchischer Propaganda, vermittelten Legitimität und „corporate identity“. Oft wurde der Urkundenanfang durch eine Art Initiale betont. Innerhalb des Textes benutzte man in der Regel keine Symbole oder Zeichen. Diese begegnen erst wieder im sogenannten Eschatokoll, dem Teil, der den Urkundeninhalt beglaubigt. Hier treten verschiedene Zeichen auf. Traditionell haben Herrscherurkunden besondere Königszeichen wie etwa Monogramme, die Papstprivilegien die päpstliche Rota, das Bene-Valete und Kardinalsunterschriften in Kolumnen. Allerdings wurde die mittelalterliche Welt der graphischen Symbole im Zuge der stärkeren Schriftlichkeit der gesamten Gesellschaft verändert. So nimmt die Bedeutung von autografen Unterschriften und Paraphen vom späten 15. zum 16. Jahrhundert hin zu.

Hinweise zur Benutzung

Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Urkundenbestände sind – abgesehen von konservatorischen Fragen – in der Regel frei zugänglich, für einzelne Bestände, etwa die ehemaligen Hausarchive monarchischer und fürstlicher Familien, gelten besondere Genehmigungspflichten.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Die 1633 in Trier gegen die fälschenden Mönche von St. Maximin gewandte Streitschrift „Archiepiscopatus et Electoratus Trevirensis, Per refractarios Monachos Maximinianos, Aliosque, turbati“ eröffnete ein langanhaltendes bellum diplomaticum zwischen der Abtei Sankt Maximin und dem Erzbistum Trier und gleichzeitig die Zeit der bella diplomatica, in denen sich die beteiligten Parteien im Medium des Druckes um die Echtheit bestimmter Urkunden als Garanten der in ihnen enthaltenen Gerechtsame stritten. Von der forensischen Argumentationshilfe zur wissenschaftlichen Disziplin wandelte sich die Diplomatik im Zuge der Auseinandersetzung zwischen zwei editorischen Großprojekten des 17. Jahrhunderts, den „Acta Sanctorum“, begründet von Jean Bolland und getragen von den jesuitischen Bollandisten, und den „Acta Sanctorum ordinis sancti Benedicti“, bearbeitet von der Kongregation der französischen Benediktiner, den sogenannten Maurinern. Zur Abwehr des von dem Jesuiten Daniel Papebroich im 3. Aprilband der „Acta Sanctorum“ formulierten Fälschungsverdachts gegen die ältesten Urkunden des Klosters St. Denis entwarf der Benediktiner Jean Mabillon in seinem zuerst 1681 erschienenen Buch „De re diplomatica libri sex“ ein allgemeines, umfassendes System der Urkundenlehre und schuf das methodische Rüstzeug für das Papebroich-Mabillon‘sche discrimen veri ac falsi in vetustis membranis. Methodisch wie editionstechnisch setzte Mabillon die Maßstäbe für lange Zeit. Im 18. Jahrhundert war wissenschaftliches oder historisches Interesse nicht das einzige Movens für Urkundeneditionen. Regionale Urkundensammlungen standen – wie etwa Leibniz’ Urkundencodices – im Dienste landesherrlicher Legitimierung, gerade in Frankreich wurden mittelalterliche Urkunden als vermeintliche Protoformen herrschaftlicher Gesetzgebung gesammelt und gedruckt, zumal Urkunden nutzbare Rechte enthielten und auf ihnen territoriale Ansprüche gestellt werden konnten. Daher blieben sie an vielen Orten aus Angst vor Missbrauch unter Verschluss. Es entstanden sogar Editionen, die nicht für die Publizierung bestimmt waren: So druckten die Mönche des schweizerischen St. Gallen 1748 ihren „Codex diplomaticus“ in nur 24 Exemplaren. Die verfassungsrechtlichen Brüche um 1800 mit dem Ende des Ancien Régime wie des Alten Reiches veränderten die Bedeutung von Urkunden grundlegend. Die Säkularisation, die Auflösung der alten Klöster und kirchlichen Herrschaften machte die bisher eifrig behüteten Urkundenfonds vom potentiell brisanten Rechtstitelmagazin, das in der Revolution nur allzu oft auf dem Scheiterhaufen endete, binnen kurzem zur mehr oder minder obsoleten Sammlung historischer Dokumente, die bald aber von den sich neu bildenden Staaten des 19. Jahrhunderts zu ihrer Konsolidierung an sich gebracht wurden. Die Diplomatik verlor gleich zwei ihrer klassischen Milieus, und dies fast im ganzen Europa: Die Juristen brauchten sich nach dem Ende des Ancien Régime nur noch ausnahmsweise mit Urkunden befassen und verloren das Interesse an der Disziplin, gleichzeitig wurde durch die Auflösung der Klöster der seit den Anfängen so wichtigen wissenschaftlichen Tätigkeit gelehrter Mönche die materielle Grundlage entzogen. Stattdessen entstanden neue, jetzt staatliche Archive.

Die Beschäftigung mit Urkunden im 19. Jahrhundert begann mit den Regestenarbeit Johann Friedrich Böhmers, der die Herrscherurkunden in chronologischer Folge zunächst auf Basis der älteren Drucke zusammenstellte. Die Kaiser- und Königsurkunden fanden sich von vorn herein im Editionsprogramm der 1819 gegründeten Monumenta Germaniae Historica. Romantisches Pathos, nationale Begeisterung und die Sorge um die durch die Umbrüche gefährdeten Urkundenschätze beförderten Urkundeneditionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Karl Lachmann (1793–1851) hatte – ausgehend von der neutestamentarischen Textphilologie, bald auch auf die Germanistik angewendet – die sogenannte textkritische Methode postuliert. Nun war es nicht mehr der älteste Handschriftenzeuge, sondern der mittels Recensio und Emendatio rekonstruierten Archetypus, den es zu ermitteln galt und der als Ergebnis editorischer Tätigkeit aus der Überlieferung herausgeschält werden sollte. Die Einführung der Lachmannschen Methode in die Urkundenedition bedeutete einen großen Sprung der Diplomatik. Dieser Verdienst gebührt Theodor Sickel, der von Lachmann selbst in dessen Methode unterrichtet worden war. Er entwickelte die wissenschaftliche Diplomatik im modernen Sinne in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Material der Diplome der ersten karolingischen Könige und Kaiser und legte mit den ältesten Ottonendiplomen eine erste moderne Edition vor. Sie eröffnete den Reigen der von den großen nationalen Forschungsgesellschaften getragenen Editionen der Königs- und Kaiserurkunden, den französischen Chartes et Diplômes relatifs à l'Histoire de France und den italienischen Fonti per la Storia d'Italia, weitere Vorhaben von Portugal bis Dänemark und Schweden schlossen sich an. Durch die Öffnung der päpstlichen Archive wurde mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, etwas zeitversetzt, dann der Boom der Papstdiplomatik ausgelöst. Im Rahmen der MGH wurden nur die in Briefform abgefassten Urkunden der ältesten Päpste im Rahmen der Reihe Epistolae veröffentlicht. Die wichtigsten Arbeiten zur Papstdiplomatik im deutschen Sprachraum sind im Umfeld der Regesta Imperii und der Pius-Stiftung für Papsturkundenforschung verortet, der Germania Pontificia, der Gallia Pontificia und der Africa Pontificia, Sammlungen der regionalen Papsturkunden. Der Erschließung der vatikanischen Register widmen sich sowohl das in Kooperation zwischen der niedersächsischen Archivverwaltung und dem Deutschen Historischen Institut in Rom geführte Projekt des Repertorium Germanicums, hier bezogen auf die Register des 15. Jahrhunderts, als auch das vom österreichischen Historischen Institut in Rom wie der österreichischen Akademie vorangetriebene Projekt der Edition der Register Innocenz III. Herrscher- wie Papsturkunden standen für die Diplomatik des 19. wie 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt, zahlreiche Materialerschließungs- und Editionsprojekte waren ihnen gewidmet. Die übrigen Urkunden von der Fürstenurkunde bis hin zu den Urkunden einfacher Laien hingegen überließ man regionalen und lokalen Urkundenbüchern. Träger diplomatischer Forschung waren und sind die regionalen Historischen Kommissionen, die Archive und die Historischen Vereine, die sich im Zuge des 19. Jahrhunderts ausgebildet hatten. Hier gibt es ganz unterschiedliche Modelle, Editionen, Regesten, flächendeckende Aufnahmen aller Urkunden für einen Ort, eine Institution oder sogar für eine ganze moderne oder historische Region. Für den südwestdeutschen Bereich war das Württembergische Urkundenbuch von besonderer Bedeutung, das nun als Hybridedition digital zur Verfügung steht. Andere Werke gerade neuerer Zeit konzentrieren sich pragmatisch auf einen Urkundenfonds. Viele Urkundenbücher kommen nicht über das Jahr 1200 oder allenfalls 1300 heraus, da die massenhafte Überlieferung des Spätmittelalters Vollständigkeit der Erfassung illusorisch macht. Gerade im Bereich lokaler, regionaler oder institutioneller Urkundenbücher erscheinen heute zwar viele Werke, doch sind sie von sehr unterschiedlicher Qualität.

Anmerkungen

[1] https://www.sg.ch/home/kultur/stiftsarchiv.html (20.02.2018).
[2] Im Landesarchiv Baden-Württemberg finden sich, abhängig von der jeweiligen Überlieferung der einzelnen Archivhäuser, unterschiedlich geartete Urkundenbestände, die z.B. als Bestandteile von Adels- und Familienarchiven oder, wenn es sich um Herrscher-oder Papsturkunden handelt, als wertvolle Selekte aufbewahrt werden. Als Beispiele seien hier die Bestände A (Kaiser- und Königsurkunden vor 1200), B (Papsturkunden vor 1198), C (Privaturkunden vor 1200), D (Kaiser- und Königsurkunden 1200 bis 1518), E (Papsturkunden 1198–1302) im Generallandesarchiv Karlsruhe oder der Bestand H 51 (Kaiserselekt) im Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu nennen.

Literatur

  • Bresslau, Harry, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1912, ND Berlin 1969; Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1915, 1931, ND Berlin 1968.
  • Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society, hg. von Karl Heidecker (Utrecht Studies in Medieval Literacy 5), Turnhout 2000.
  • Debus, Karl Heinz, Landesarchiv Speyer. Der Gatterer-Apparat (Patrimonia 119), Speyer 1998.
  • La diplomatique urbaine en Europe au moyen âge. Actes du congrès de la Commission internationale de Diplomatique, Gand, 25-29 août, hg. von Walter Prevenier/Thérèse de Hemptinne (Studies in Urban Social, Economie and Political History of the Medieval and Early Modern Low Countries 9), Leuven/Apeldoorn 2000.
  • Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung = I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria (800–1100), hg. von Antonella Ghignoli/Wolfgang Huschner/Marie Ulrike Jaros (Italia regia 1), Leipzig 2016.
  • Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik, hg. v. Peter Rück (Historische Hilfswissenschaften 3), Sigmaringen 1996.
  • Guyotjeannin, Olivier/Pycke, Jacques/Tock, Benoît-Michel, Diplomatique médiévale (L'Atelier du médiéviste 2), 2. Auflage, Turnhout 1995.
  • Härtel, Reinhard, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter (Historische Hilfswissenschaften 4), Wien/München 2011.
  • Huschner, Wolfgang, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.–11. Jahrhundert), 3 Bde. (MGH Schriften 53), Hannover 2003.
  • Mersiowsky, Mark, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation, 2 Bde. (MGH Schriften 60), Wiesbaden 2015.
  • Rück, Peter, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. von Anton von Euw/Peter Schreiner, Bd. 2, Köln 1991, S. 311–333; wiederabgedruckt in: Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag von Peter Rück, hg. von Peter Worm/Erika Eisenlohr (elementa diplomatica 9), Marburg 2000, S. 117–139.
  • Vogtherr, Thomas, Einführung in die Urkundenlehre. 2., überarb. Aufl., Stuttgart 2017.

Zitierhinweis: Mark Mersiowsky, Urkunden, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 20.2.2018.

 

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