Sickinger, Joseph Anton 

Geburtsdatum/-ort: 21.09.1858;  Harpolingen bei Säckingen
Sterbedatum/-ort: 03.08.1930; Oberstdorf
Beruf/Funktion:
  • Pädagoge
Kurzbiografie: 1878 Abitur am Gymnasium Karlsruhe
1878/79 Dienstzeit als Einjähriger
1879-1883 Studium der klassischen Philologie an der Universität Heidelberg
1883 Promotion an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg
1883-1890 Gymnasium Karlsruhe
1890-1895 Prof. am Gymnasium Bruchsal
1895-1923 Stadtschulrat in Mannheim
1914-1918 Kriegsdienst als Hauptmann der Reserve
1923 Verleihung des Dr. med. h. c. der Universität Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1884 Karlsruhe Bertha, geb. Römbild (1860-1920)
Eltern: Vater: Andreas, Lehrer
Mutter: Carolina, geb. Ernst
Kinder: 1 Sohn
1 Tochter
GND-ID: GND/118765132

Biografie: Karl Otto Watzinger (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 254-255

Was hat den wohlbestallten Professor am Gymnasium in Bruchsal im Alter von 36 Jahren dazu bewogen, das Amt des Stadtschulrats in Mannheim zu übernehmen, wo er nur für Volksschulen zuständig war? Dazu ist keine Äußerung Sickingers bekannt, doch mag der in seiner Zeit erwachende soziale Geist ihn dazu veranlaßt haben, der auf der Schattenseite des Lebens stehenden Arbeiterjugend Aufstiegs- und Entwicklungschancen zu eröffnen. Otto Beck – seit vier Jahren Oberbürgermeister von Mannheim – erkannte die dringende Reformbedürftigkeit der Volksschule, in der nur 1/3 der Schüler die achte Abschlußklasse erreichte, in der es mehr Klassen als Lehrer und nur acht Schulhäuser für 11000 Schüler gab. Beck konnte die Aufgabe der Schulreform seinem Stadtschulrat übertragen, da damals das Volksschulwesen noch eine Selbstverwaltungsaufgabe der Städte war. Sickinger war sich darüber klar, daß die Mißerfolge der Volksschule daran lagen, daß in der undifferenzierten Einheitsschule keine Rücksicht auf die Individualität des einzelnen Schülers genommen werden konnte. Er teilte daher die Schüler nach ihrer Begabung in verschiedene Klassen auf. In die „Hauptklassen“ gingen die normal begabten Schüler, die „Förderklassen“ faßten die schwächeren Schüler zusammen, und die „Hilfsklassen“ ermöglichten die eingehende Beschäftigung mit den am schwächsten begabten Schülern. Gleichzeitig schuf Sickinger für die gut veranlagten Schüler Vorbereitungsklassen für die höheren Lehranstalten und fremdsprachliche Klassen, aus denen später die Mittelschulzüge und die Realschulen hervorgingen. Natürlich waren für diese Neuordnung mehr Lehrer und Räume erforderlich, für welche die Mittel vom Bürgerausschuß bewilligt wurden. Dabei konnte Sickinger selbst mitentscheiden, da er seit 1902 dem Bürgerausschuß als Mitglied der nationalliberalen Fraktion angehörte.
Sickinger setzte sich auch für die Auflockerung des theoretischen Unterrichts durch Sport und Werkunterricht ein. Er führte Spielnachmittage und Schwimmunterricht ein und warb für eine tägliche Turnstunde. Im Jahr des 300jährigen Stadtjubiläums 1907 führte er das erste Schulsportfest durch. Er trat auch für den Bau von Turnhallen und eine vollwertige Ausbildung der Turnlehrer ein und forderte die hochschulmäßige Ausbildung der Volksschullehrer. Ihm ist es zu verdanken, daß Mannheim 1904 als erste badische Stadt einen Schularzt und 1922 den ersten Schulpsychologen in Deutschland einstellte. Sickinger setzte bei seinen Reformvorschlägen seine ganze Persönlichkeit ein, so daß er – von seiner Mission erfüllt – durch die Überzeugungskraft seiner Sprache auch den Zweifelnden zu überzeugen vermochte. Im Jahre 1911 war es soweit, daß 2/3 der Volksschüler das Ziel der achten Klasse erreichten, also doppelt so viele wie 15 Jahre zuvor. Das „Mannheimer Schulsystem“ fand allgemeine Beachtung nicht nur in Deutschland, sondern sogar in Amerika.
Als Sickinger zum 1. 1. 1924 in den Ruhestand trat, war die Zahl der Lehrer in Mannheim auf 960 gegenüber 242 im Jahre 1895 und die Zahl der Schulhäuser von acht auf 33 angewachsen. Eine Volksschule erhielt den Namen „Sickingerschule“, und die Universität Heidelberg verlieh Sickinger die Würde eines Ehrendoktors der Medizin, da er sich bei der Reform des Volksschulwesens die Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nutzbar gemacht hatte. In seinem Ruhestand, in dem er in Mannheim verblieb, nahm er immer wieder in Rede und Schrift zu schulpolitischen Fragen Stellung.
Werke: Zusammenfassende Darstellung der Mannheimer Volksschulreform Mannheim 1904; Das Mannheimer Schulsystem in Hamburgischer Beleuchtung, Mannheim und Leipzig 1910; Über naturgemäße Organisation des großstädtischen Volksschulwesens im allgemeinen und über das Mannheimer Volksschulsystem im besonderen, Frankfurt a. M. 1913; Körperzucht in der neudeutschen Schulerziehung durch Turnen, Spiel und Sport, Karlsruhe 1919; Arbeitsunterricht, Einheitsschule, Mannheimer Schulsystem im Lichte der Reichsverfassung, Leipzig 1920; Fünfzig Jahre Badische Simultanschule, Bühl/Baden 1926.
Nachweis: Bildnachweise: StadtA Mannheim.

Literatur: Karl Brauch, Das Mannheimer Schulsystem in neuer Sicht, in: Bildung und Erziehung Heft 8, 1955; W. Heinekker, Das Problem der Schulorganisation aufgrund der Begabung der Kinder, Langensalza 1913; Dr. Poppe, Das Mannheimer Volksschulsystem, Leipzig 1910; E. Scholz, Darstellung und Beurteilung des Mannheimer Schulsystems, Langensalza 1906; Friedrich Walter, Schicksal einer deutschen Stadt. Geschichte Mannheims 1907-1945. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1948/1950, bes. 72 f. 409 f. und 62, 139; Dr. J. van den Wyenbergh, Die Organisation des Volksschulwesens auf differentiell-psychologischer Grundlage, mit besonderer Berücksichtigung der Begabungsforschung und moderner Schulreformen deutscher Großstädte, Leipzig 1918; weitere Beiträge vgl. BbG VI/2 Nr. 37071.
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