Vom Mezzogiorno ins Schwabenland

Lebenswelten von Gastarbeitern in den Akten der Deutschen Bundesbahn

Gleisbauarbeiten der Deutschen Bundesbahn, 1950er Jahre - Quelle LABW StAL
Gleisbauarbeiten der Deutschen Bundesbahn, 1950er Jahre - Quelle LABW StAL

Dass das Berühren der 15000 Volt Fahrleitung des elektrischen Zugbetriebs in den allermeisten Fällen tödlich ist, wird heutzutage jedermann wissen. Auch dass man als Bahnmitarbeiter Gegenstände, die der Bahn gehören oder ihr zur Beförderung übergeben wurden, nicht vorübergehend mit nach Hause nehmen sollte, wird man niemandem erklären müssen. Ebenso wird jeder Arbeitnehmer wissen, dass man sich einen Urlaub genehmigen lassen muss und seinen Arbeitsplatz nicht einfach kurzfristig unter Verweis auf eine Nachricht der Familie verlassen kann, ohne sich dem Risiko auszusetzen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.

Den ausländischen Arbeitnehmern, die Anfang der sechziger Jahre als Gastarbeiter bei der Deutschen Bundesbahn angestellt wurden, war das aber offenbar nicht in jedem Fall bewusst. Dies belegen entsprechende Erklärungen, die von diesen unterzeichnet werden mussten und ihren Weg in die Personalakten gefunden haben. Diese unscheinbaren Papiere dokumentieren eindrücklich, wie groß die kulturellen Unterschiede zwischen der Heimat dieser Arbeitnehmer und dem Wirtschaftswunderland Deutschland waren, und was es bedeutete, wenn ein Sizilianer oder Südspanier vor mehr als 50 Jahren als Arbeiter nach Deutschland kam.

Begonnen hatte die Einwanderung von Gastarbeitern nach Deutschland Mitte der fünfziger Jahre, nachdem die deutsche Regierung im Jahr 1955 ein Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen hatte. Gedacht war zunächst nur an die Gewinnung von Saisonarbeitskräften für die Landwirtschaft, schon bald begannen aber auch Industriebetriebe oder Verkehrsunternehmen wie die Deutsche Bahn angesichts des Arbeitskräftemangels in Deutschland in immer größerem Umfang ausländische Arbeitnehmer einzustellen. Um den wachsenden Bedarf zu decken, wurden in den sechziger Jahren Anwerbeabkommen mit zahlreichen weiteren südeuropäischen Ländern geschlossen.

Wer im Landesarchiv nach Informationen über die Lebensumstände dieser ersten Gastarbeiter-Generation sucht oder vielleicht auch Einzelschicksalen ausländischer Arbeitnehmer nachspüren möchte, wird am ehesten in der Akten der Bundesbahn fündig. Das Staatsarchiv Ludwigsburg verfügt über einen umfangreichen Bestand an Personalakten von Bahnbediensteten (Bestand K 410 III), in dem sich auch Unterlagen über ausländische Arbeiter erhalten haben. Diese waren vor allem im Gleisbau eingesetzt, als Wagenreiniger und Lagerarbeiter.

Ihre Personalakten lassen erkennen, wie schwer die Umstellung für die zumeist jungen Männer war. Sie kamen aus nahezu vorindustriellen Verhältnissen und mussten sich nun fernab ihrer Familie mit den Spielregeln einer Industriegesellschaft zu arrangieren versuchen. Häufige Unterbrechungen der Arbeitsverhältnisse, Kündigungen und Versetzungswünsche, aber auch mancher selbst verschuldete Arbeitsunfall belegen dies genauso wie die eingangs erwähnten Erklärungen. Einen Einblick in die Lebensverhältnisse dieser ersten Gastarbeiter gewähren auch die Hochbaupläne der Bahn (Bestand K 412 IV), in denen zahlreiche Wohnheime behelfsmäßiger Art dokumentiert sind. Dass auch die Deutschen anfänglich Probleme mit ihren neuen Mitbürgern hatten, dafür finden sich wiederum manche Hinweise in der Überlieferung der Arbeitsverwaltung, die Maßnahmen zur Betreuung der Gastarbeiter koordinierte (z. B. Bestand K 326 – Arbeitsamt Stuttgart). Selbst die uns heute bestens vertraute italienische Küche musste man damals noch den Gastgebern der ausländischen Arbeitskräfte erklären. So dokumentieren die Archivalien auch, wie sehr sich Fremde und Einheimische – bei allen kulturellen Unterschieden – in den letzten fünfzig Jahren näher gekommen sind.

Peter Müller

Quelle: Archivnachrichten 44 (2012), S.14-15

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