Baden-Württemberg und die Welle antisemitischer Straftaten 1959/1960

Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof in Freiburg, 30. Januar 1959 (Landesarchiv StAF W 134 Nr. 006279a)
Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof in Freiburg, 30. Januar 1959 (Landesarchiv StAF W 134 Nr. 006279a)

Als der Landtag von Baden-Württemberg am 20. Januar 1960 zu einer Sitzung zusammentrat, stand ein heikles Thema auf der Tagesordnung. Der CDU-Abgeordnete und spätere Finanzminister Robert Gleichauf richtete eine Mündliche Anfrage an die Landesregierung, in der er sich nach den Tätern und den politischen Hintergründen von zahlreichen antisemitischen Sudeleien erkundigte, die in den Wochen zuvor in baden-württembergischen Gemeinden festgestellt worden waren. Des Weiteren wollte Gleichauf Näheres über die bisher eingeleiteten Gegenmaßnahmen der Landesregierung wissen.

Hinter der Mündlichen Anfrage verbarg sich ein erhebliches politisches Problem, das in den ersten Wochen des Jahrs 1960 die Bundesrepublik Deutschland beschäftigte. Um die Jahreswende 1959/1960 hatten antisemitische Aktionen, vor allem Schmierereien und Friedhofsschändungen, sprunghaft zugenommen.

Zwischen dem 5. und dem 11. Januar 1960 wurden bundesweit täglich über 40 Straftaten mit judenfeindlichem Hintergrund registriert. Auslöser der Welle antisemitischer Vorfälle war ein Ereignis in der Stadt Köln Ende 1959 gewesen. In der Metropole am Rhein hatten zwei Mitglieder der rechtsextremen Deutschen Reichspartei am 25. Dezember 1959 die Inschrift eines Gedenksteins für die Opfer der Gestapo teilweise übermalt sowie die Synagoge durch Schmierereien geschändet. Das erhebliche Medienecho der Taten hatte in den folgenden Wochen zu zahlreichen Nachahmer-Delikten geführt.

Die politischen Eliten, die einen Ansehensverlust der Bundesrepublik Deutschland im Ausland befürchteten, reagierten entschlossen auf die Vorfälle. So verurteilte etwa Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Fernsehansprache vom 15. Januar 1960 unmissverständlich die judenfeindlichen Vorkommnisse.

In Baden-Württemberg war das Echo auf die Kölner Ereignisse deutlich geringer als in anderen Regionen der Bundesrepublik. Von den insgesamt 685 antisemitischen oder nazistischen Vorfällen, die zwischen dem 25. Dezember 1959 und dem 28. Januar 1960 bundesweit registriert wurden, entfielen lediglich 39 auf den Südweststaat. In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich um Schmierereien, die von jüngeren Tätern unter 30 Jahren und Kindern angebracht wurden. Sie hatten zumeist keinen fundierten politischen Hintergrund. Trotzdem prüfte die Landesregierung die begangenen Straftaten genau.

In der erwähnten Landtagssitzung am 20. Januar 1960 antwortete Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger ausführlich auf die Fragen seines Parteifreunds Robert Gleichauf. Er stellte den bisherigen Stand der polizeilichen Ermittlungen in Baden-Württemberg umfassend dar und verwies mit Blick auf die zumeist jugendlichen Täter auf die erzieherischen Aufgaben der Schulen. Im Anschluss an die Antwort Kiesingers verabschiedeten die im Landtag vertretenen Fraktionen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die antijüdischen Aktionen entschieden verurteilten.

Die Welle des Antisemitismus, welche die Bundesrepublik Deutschland zum Jahreswechsel 1959/1960 traf, sollte sich nicht als dauerhaft erweisen. Bereits seit Mitte Januar 1960 gingen die judenfeindlichen Straftaten wieder deutlich und nachhaltig zurück. 

Wolfgang Mährle

Quelle: Archivnachrichten 38 (2009), S.19.

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