„1968" – eine „Hochwassermarke" im Prozess gesellschaftlichen Wandels

Bild: Diskussion zwischen dem Soziologen Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke am 29. Januar 1968 in Freiburg im Breisgau.
Diskussion zwischen dem Soziologen Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke am 29. Januar 1968 in Freiburg im Breisgau. (Landesarchiv StAF W 134 Nr. 085223u)

Die Chiffre „1968" war kein singuläres Ereignis, sondern sie ist im Zusammenhang mit dem sozialen Wandel zu sehen, welcher die bundesrepublikanische Gesellschaft in den langen 60er Jahren (A. Doering-Manteuffel) veränderte. Aus der Wiederaufbau- wurde die Wohlstandsgesellschaft, die sich durch zunehmende Freizeit, die Entformalisierung sozialer Beziehungen und eine politische Liberalisierung auszeichnete.

Dieser gesellschaftliche und kulturelle Transformationsprozess lud sich freilich generationell auf (A. Schildt). Die „Jungen" und die „Alten" (das „Establishment") erfuhren, deuteten und verhandelten den tiefgreifenden Umbruch der mehr oder minder autoritären Nachkriegsgesellschaft zu einer pluralistischen, liberal demokratischen Konsumgesellschaft jeweils generationenspezifisch. Kontrovers gedeutet wurden die teils nationalen (NS-Vergangenheit, Notstandsgesetze, Massenmedien, Bildungs- und Gesellschaftsreform), teils länderübergreifenden gesellschaftspolitischen Reizthemen (Vietnamkrieg, Sexualität, Frauenemanzipation, Entkolonialisierung und „Dritte Welt"). Die diversen Lesarten dienten damit der individuellen sowie kollektiven Selbstvergewisserung und Fremdwahrnehmung.

„1968" – die „Kinder von Marx und Coca-Cola"

In dieser grundsätzlichen Fundamentalpolitisierung avancierten Alltags- zu Grundsatzfragen. Gegensätzliche Ansichten und Spannungen entzündeten sich im Streit um Haar- und Rocklänge, um Tanz- und Musikstile. Dabei etablierte die Rock- und Beat-Musik eine Gegenkultur: Für die Jugendlichen manifestierte sie die Zusammengehörigkeit, die Erwachsenen dagegen nahmen sie als Kampfansage gegen die tradierten kulturellen und sozialen Verhaltensnormen wahr. Dieses Aufbegehren, das sich gegen die als autoritär und hierarchisch wahrgenommenen Strukturen in Familie und Gesellschaft richtete, war der gemeinsame Motivations- und Identitätskern linker Studenten an den Hochschulen sowie junger Oberschüler an den Gymnasien, des rebellischen Nachwuchses.

Ihre Kritik entzündete sich an der zahlreiche Gesellschaftsfelder prägenden Planungseuphorie (nicht nur der Funktionseliten) und richtete sich gegen die Verhaltens- und Konsumpräferenzen (Massenkonsum) sowie den Lebensstil der bürgerlichen Gesellschaft. Das Sprichwort Die Söhne essen die Früchte und die Väter rutschen auf den Schalen aus spiegelt diesen Prozess wider.

Das provokant antibürgerliche Verhalten der Söhne und Töchter diente der bewussten Abgrenzung gegenüber der Väter-Generation. Der Protest der „1968er" war antiautoritär, antitechnokratisch, antiimperialistisch und antikapitalistisch – dabei schlossen sich hedonistische Lebensart und politisches Engagement aber nicht aus. Bei den demonstrierenden und konsumierenden Kindern von Marx und Coca-Cola (Jean-Luc Godard) gingen Politisierung und Konsumorientierung Hand in Hand.

Eine besondere Rolle kam dabei der juristischen Behandlung der NS-Gräueltaten zu (Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1957/58, Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963/65 und 1965/66 sowie Treblinka-Prozesse 1964/65 und 1970). Unter der Jugend breitete sich die Vorstellung aus, in einem antidemokratischen System zu leben. Ihr erschien die Bundesrepublik als die Fortsetzung des autoritären Staats, den ein formaldemokratisches Gewand bemäntelte, das die Notstandsgesetzgebung weiter beschnitt. Dieser politische Protest bündelte sich in der Zeit der Großen Koalition (1966/1969) in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), als dessen Avantgarde sich wiederum der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) profilierte. Die APO prangerte die Kontinuität der Funktionseliten in Verwaltung, Justiz und – für die Studenten erfahrbar – in den Hochschulen (Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren) an. Ihren Protest artikulierten die Studenten in einer ganzen Reihe neuer Kommunikations- und Interaktionsformen (Go-Ins, Sit-Ins, Diskussionen, Demonstrationen und einer immensen Textproduktion), setzten aber auch gewaltsamere Protestformen ein wie Störungen des Lehrbetriebs, Institutsbesetzungen, Sitzstreiks und Psychoterror.

„1968" – ein länderübergreifendes Phänomen

„1968" hatte einen internationalen Charakter, den die weltweite Rezeption von Schlüsseltexten linker Systemkritik (H. Marcuse, E. Fromm, R. Dèbray, Che Guevara,Mao Tsetung) unterstrich. In allen westlichen Gesellschaften standen in den 1960er Jahren autoritäre Überhänge und gesellschaftliche Verkrustungen zum Abbau an. Dabei verorteten viele Beteiligte ihre individuellen Konflikte in einem weltweiten Handlungsrahmen.

Die APO schloss sich dem weltweiten Protest gegen den Vietnamkrieg an und solidarisierte sich mit der nordvietnamesischen Guerilla. Sie machte deren Kopf Ho Chi Minh zu einer Protestikone, dessen Name auf Demonstrationen regelmäßig skandiert wurde. Die Kritik an der eigenen Ersten Welt, unterfüttert mit Marxistischem Vokabular, das in den 1960er Jahren eine Renaissance erfuhr, brachte unter den Studenten einen Utopismus mit illiberalen Parteilichkeitspostulaten und totalitären Tendenzen hervor und stellte den Verfassungsstaat generell unter Faschismusverdacht (Frank- Lothar Kroll) – ein Begriff, der auffallend unklar blieb, zumal er inflationär gebraucht wurde. Die zum Vorbild erkorene Guerilla-Bewegung sympathisierte mit dem Befreiungskampf der ehemaligen Kolonialvölker. Hierzulande strebte sie einen revolutionären Umsturz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform an und gipfelte im gewaltsamen Fundamentalprotest. Der Kampf für diese apokalyptische und messianische Endzeitverheißungen führte einen kleinen Zirkel der „68er"-Bewegung in den Terrorismus.

„1968" und der Deutsche Herbst 1977

Das Ziel eines revolutionären Sturzes des Systems führte zu einer allmählichen Steigerung der Gewalt. Die Eskalation wurde durch die Wahrnehmung länderübergreifender Gewalt und Unterdrückung durch die „68er" einerseits und die Wahrnehmung internationalen Protests und Agitierens sogenannter „fünfter Kolonnen Moskaus" durch das Establishment andererseits beschleunigt.

Einen Wendepunkt markierte hier die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras auf der Demonstration gegen den Schahbesuch in Berlin. Sie brachte der APO einerseits einen Solidarisierungseffekt des liberalen Bürgertums, den aber andererseits die weitere Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung verspielte. Die Strategie der „Aufklärung durch Aktion und Provokation" einer militanten Minderheit stieß bürgerliche Sympathisanten ab. Der Weg der sich weiter radikalisierenden Minderheit, die sich als Speerspitze der APO sah und der Weltrevolution den Boden bereiten wollte, führte in den Terrorismus der Rote Armee Fraktion (RAF).

„1968" – eine Revolution?

Während ältere Deutungen „1968" vorrangig als schroffen Generationenkonflikt (Kulturrevolution) kennzeichneten, bei dem der progressive Studentenprotest vor dem Hintergrund der bleiernen Adenauer-Ära umso heller erstrahlt, historisieren neuere Forschungen die Chiffre „1968". Sie betten „1968" als Hochwassermarke (Wilhelm Damberg) einer gesellschaftlichen Auf- und Umbruchphase der Bundesrepublik ein. Danach ist der Wertewandel schon vor 1968 angestoßen worden, das magische Jahr lediglich ein dramatischer Kulminationspunkt gewesen. Demzufolge ist die „68er"-Bewegung nicht als der Ursprung der Liberalisierung, Demokratisierung und Verwestlichung der Bundesrepublik anzusehen. Vielmehr sei sie selbst durch den gesamtgesellschaftlichen Umbruch hervorgerufen, ja überhaupt erst ermöglicht worden. Die „68er"-Bewegung wiederum hat diesem Wandel dann seine eigentliche Dynamik und Breite (Franz-Werner Kersting) verliehen. Entscheidend dabei ist, dass die Gesellschaft im Aufbruch sich strukturell und mental bereits gewandelt hatte, die Protagonisten von „1968" dies jedoch noch nicht realisiert hatten.

Zweifellos stellte die mit „1968" verbundene gesellschaftliche und kulturelle Dynamisierung, die an die bereits im Wiederaufbau begonnene Modernisierung anknüpfte, eine Transformation dar, die zu einer weiteren Stufe der Moderne – von der Industrie- zur postindustriellen Konsumgesellschaft – führte.

Peter Exner
 

Wichtige Daten im Überblick

1966/1969

Große Koalition aus CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag; Etablierung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Profilierung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS).

1967

2. Juni | Tod Benno Ohnesorgs durch (eine) Polizeikugel(n) bei der Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin.

1968

29. Januar | Rededuell zwischen Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke auf einem Autodach anlässlich des FDP-Parteitags in Freiburg im Breisgau (29.–31. Januar)

1. Februar | Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen der Freiburger Verkehrsbetriebe

2.April | Brandstoffanschlag von Andreas Baader, Gudrun Ensslin (der späteren 1. RAF-Generation) auf Frankfurter Kaufhäuser

30.Mai | Verabschiedung der Notstandsgesetze durch die Große Koalition gegen den Widerstand der APO (Grundgesetzänderung)

1970

14.Mai | Gewaltsame Befreiung von Andreas Baader aus der Haft (gilt als Gründungsakt der Rote Armee Fraktion (RAF)

1971

1. September | Demonstration gegen die Tariferhöhung der Heidelberger Straßenbahnen („Rote-Punkt-Aktion")

1972

Januar | Gründung der „Bewegung 2. Juni"

24.Mai | Sprengstoffanschläge der RAF auf die US-Hauptquartiere in Heidelberg und Frankfurt am Main

1. Juni | Festnahme der RAF-Mitglieder Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe in Frankfurt am Main

1974

9.November | Hungerstreiktod Meins in der Justizvollzugsanstalt Wittlich

4.Dezember | Besuch des französischen Philosophen/Existenzialisten Jean-Paul Sartre im Stammheimer Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stuttgart

1975

24.April | Blutiger Überfall der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm

21.Mai | Beginn der mündlichen Verhandlung gegen Baader, Ensslin,Meinhof und Raspe im sogenannten Stammheimer Prozess (Urteilsverkündung am 28.April 1977)

1976

8./9.Mai | Selbstmord von Meinhof in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim

1977

7.April | Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe durch die RAF

28.April | Urteilsverkündung im Stammheimer Prozess: Lebenslange Freiheitsstrafen für Baader, Ensslin und Raspe

30. Juli | Ermordung des Vorstandssprechers der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, durch die RAF

5. September | Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF

17./18.Oktober | Geiselbefreiung von Mogadischu aus dem entführten Lufthansa-Passagierflugzeug Landshut; kollektiver Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim

18.Oktober | Ermordung Schleyers

1980

2. Juni | Selbstauflösung der „Bewegung 2. Juni" und Anschluss an die RAF

1998

20.April | Selbstauflösung der RAF.

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