Jüdisches Leben im Kreis Esslingen

Bild der ehemaligen Synagoge in Esslingen
Die ehemalige Synagoge in Esslingen [Copyright: Landesarchiv FaBi Kreisbeschreibung ES]

Jüdisches Leben im Kreis Esslingen war fast ausschließlich auf die Städte Esslingen und Kirchheim konzentriert. Im Mittelalter gab es in beiden Städten jüdische Gemeinden; im 19./20. Jh. nur in Esslingen; in Kirchheim bestand eine Filialgemeinde zu Göppingen. In allen anderen Orten (darunter in Nürtingen, Plochingen, Neuffen) lebten im 19./20. Jh. nur einzelne jüdische Familien, die zu den jüdischen Gemeinden in Esslingen oder Bad Cannstatt gehörten.

Im mittelalterlichen Esslingen trugen jüdische Kauf- und Handelsleute vom 13. bis 16. Jh. zu der zeitweise großen wirtschaftlichen Blüte der Stadt bei. Die erste jüdische Gemeinde (vor 1348) hatte ihre Synagoge am heutigen Hafenmarkt, der Friedhof lag im Bereich des Schillerplatzes. Prächtig illustrierte jüdische Gebetbücher, die um 1290 in Esslingen geschrieben wurden und in Bibliotheken Europas und der USA aufbewahrt werden, sind wichtige Zeugen von der damaligen Bedeutung der Gemeinde. Nicht lange währte die Zeit des relativ ungestörten Zusammenlebens von Christen und Juden. Als es während der Pestzeit auch in Esslingen zu Ausschreitungen gegen Juden kam, denen man die Brunnenvergiftung unterstellte, flohen diese am 27. Dezember 1348 in ihre Synagoge und kamen in den Flammen des von ihren Verfolgern angezündeten Gotteshauses ums Leben. Im Laufe der zweiten Hälfte des 14. Jh. zogen wiederum etwa 20–25 jüdische Familien in die Stadt und bildeten eine neue Gemeinde. Nach dem Städtekrieg um 1455 verließen die meisten jüdischen Familien auf Grund der verschlechterten Wirtschaftslage die Stadt. 1530 mussten die damals in Esslingen lebenden Juden in einem Ghetto zusammenziehen (in der Judengasse, seit 1937 Schmale Gasse). 1542 beschloss der Rat der Stadt die Ausweisung aller Juden aus der Stadt. Bis Anfang des 19. Jh. kam es nur zu ganz vereinzelten jüdischen Niederlassungen im Bereich des Kreises Esslingen, insbesondere, weil im Herzogtum Württemberg, zu dem der Großteil der Orte gehörte, seit 1492 ein Niederlassungsverbot für Juden bestand.

Im 19./20. Jh. war Esslingen von großer Bedeutung für die jüdischen Gemeinden ganz Württembergs. Es war seit 1806 die erste, nun im Gebiet des Königreiches Württemberg liegende Stadt, in der nach Jahrhunderten wieder eine jüdische Gemeinde entstehen konnte. König Friedrich hatte zur Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung Esslingens mehrere jüdische Familien aufgenommen. In den folgenden Jahrzehnten leisteten jüdische Gewerbetreibende und Fabrikanten große Beiträge beim Aufbau Esslingens zu einer wichtigen Industriestadt Württembergs. Exemplarisch kann die Handschuhfabrik Firma Jeitteles genannt werden (1880: 130 Arbeiter), deren Waren in die ganze Welt verschickt wurden und höchste internationale Preise bekamen. Überregionale Bedeutung erhielt Esslingen vor allem durch die am Lehrerseminar seit 1820 durchgeführte Ausbildung auch der jüdischen Lehrer ganz Württembergs, zum anderen durch die 1842 erfolgte Gründung des Israelitischen Waisenhauses Wilhelmspflege (zunächst in der Entengrabenstraße, seit 1913 oberhalb der Burg). Dieses war bis zur zwangsweisen Schließung in der NS-Zeit 1939, zuletzt unter dem Hausvater Theodor Rothschild, eine zentrale soziale Einrichtung der jüdischen Gemeinden ganz Württembergs. Das jüdische Gemeindezentrum mit Betsaal (Synagoge), Religionsschule und Lehrerwohnung konnte 1819 in einem mittelalterlichen Fachwerkhaus eingerichtet werden.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 kam innerhalb weniger Jahre das Ende der jüdischen Gemeinden in Esslingen (und Kirchheim). Bis 1938/40 wurden alle jüdischen Betriebe arisiert. Ein Teil der jüdischen Einwohner konnte emigrieren, die letzten wurden 1941/42 deportiert. Am 10. November 1938 wurde auch in Esslingen die Synagoge geschändet, die Inneneinrichtung zerstört und verbrannt. Zu schrecklichen Szenen kam es beim Überfall von Nationalsozialisten auf das Israelitische Waisenhaus. Mindestens 38 jüdische Esslinger, dazu viele Kinder des Waisenhauses kamen nach den Deportationen auf furchtbare Weise ums Leben, darunter Theodor Rothschild im Ghetto Theresienstadt.

Die heute in Esslingen und Umgebung lebenden jüdischen Personen gehören zur Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (Synagoge in Stuttgart).

Joachim Hahn

Veröffentlicht in: Der Landkreis Esslingen. Hg. v. der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Esslingen (Kreisbeschreibungen des Landes Baden-Württemberg). Ostfildern 2009, Bd. 1, S. 202f.)
 

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