Sozialhilfeakten

Von Katharina Ernst

Bericht des Wohlfahrtsamts Stuttgart zur Person einer Antragstellerin und deren Lebensumständen, 1929, (Quelle: Einzelfallakte aus der Einheit Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 201/1 Sozialamt Nr. 481)
Bericht des Wohlfahrtsamts Stuttgart zur Person einer Antragstellerin und deren Lebensumständen, 1929, (Quelle: Einzelfallakte aus der Einheit Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 201/1 Sozialamt Nr. 481)

Definition der Quellengattung

Bei Sozialhilfeakten handelt es sich um massenhaft gleichförmige Einzelfallakten, die beim örtlichen Träger der Hilfe zum Lebensunterhalt entstehen. In Baden-Württemberg sind die kreisfreien Städte und Kreise zuständig; Kreise können die Aufgaben an Gemeinden in ihrem Zuständigkeitsbereich übertragen. Je nach Dauer und Umfang der Hilfebedürftigkeit (von einmaliger, situationsgebundener Hilfebedürftigkeit über gelegentliche Hilfebedürftigkeit bis hin zu jahrzehntelangem Bezug von Sozialleistungen) variieren Umfang und Laufzeit der einzelnen Akten erheblich.

Historische Entwicklung[1]

Mit dem Gesetz des Norddeutschen Bundes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 wurde für die Gewährung von Fürsorgeleistungen zum ersten Mal der Wohnsitz des Hilfebedürftigen im Gegensatz zu seinem Herkunftsort entscheidend. Dieses Gesetz trat im Königreich Württemberg und im Großherzogtum Baden aufgrund des Reichsgesetzes vom 8. November 1871 am 1. Januar 1873 in Kraft. Für die konkrete Ausgestaltung der Armenfürsorge waren die Länder zuständig. Sie hatten Ortsarmenverbände und Landarmenverbände einzurichten. In Württemberg wurden die Gemeinden zu Ortsarmenverbänden bestimmt und zunächst die Amtskörperschaften, später die Kreise zu Landarmenverbänden. In Baden wurden die politischen Gemeinden zu Ortsarmenverbänden, die Kreise zu Landarmenverbänden. Die organisatorische Umsetzung vor Ort konnte sehr unterschiedlich sein. In Stuttgart wurde beispielsweise 1873 ein „Armenbureau“ eingerichtet, das später in „Armenamt“ und dann in „Städtisches Fürsorgeamt“ umbenannt wurde. Bis 1910 bestand in Stuttgart parallel die Almosenpflege, die für das Rechnungs- und Kassenwesen des Ortsarmenverbands sowie für die Verwaltung der Armenstiftungen und der städtischen Speiseanstalten zuständig war.

Die Armenfürsorge war politisch diskriminierend. Wer Fürsorgeleistungen erhielt, hatte beispielsweise kein Wahlrecht. Das Reichsgesetz betr. die Einwirkung von Armenunterstützung auf öffentliche Rechte vom 15. März 1909, RGBl 1909, 319 gab dieses Prinzip nicht auf, es nahm aber etliche Unterstützungsleistungen als nichtdiskriminierend aus (Krankenunterstützung, Anstaltspflege von Behinderten, Jugendfürsorge-, Erziehungs- und Berufsausbildungsleistungen, Leistungen zur Behebung einer vorübergehenden Notlage sowie Erstattungsleistungen).

Die Fürsorge war bedarfsorientiert und konnte bei Bedürftigkeit gewährt werden; sie war anders als eine Versicherung nicht an Beiträge gebunden. Die Leistungen waren nicht standardisiert. Es gab keinen Rechtsanspruch der Bedürftigen auf eine Fürsorgeleistung. Dies änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg: Erstmals konnten Männer, die Wehrdienst leisteten, für ihre Familien Fürsorge beanspruchen, sofern eine Bedürftigkeit bestand. Das Reich tritt hier zum ersten Mal als Fürsorgeinstanz in Erscheinung. In der Weimarer Republik hatte das Reich gesetzgeberischen Vorrang auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege.

Eine wesentliche Neuordnung erfuhr das Fürsorgewesen durch das Inkrafttreten der Reichsfürsorgeverordnung vom 1. April 1924. Die Landes- und Bezirksfürsorgeverbände lösten die Orts- und Landarmenverbände ab. Welche Körperschaften als Landes- und Bezirksfürsorgeverbände tätig wurden, bestimmte die Landesgesetzgebung. Als Aufgaben der öffentlichen Fürsorge waren darin festgelegt die soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte und -hinterbliebene, für Sozial- und Kleinrentner, für Schwerbeschädigte und Schwererwerbsbeschränkte, für hilfebedürftige Minderjährige, die Fürsorge für Wöchnerinnen und die allgemeine Armenfürsorge. Für die Hilfegewährung zuständig war nun der Bezirksfürsorgeverband, in dessen Bereich sich der Hilfsbedürftige gerade befand. Zuständig für die Kosten blieb der Bezirksfürsorgeverband, in dem der Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Verordnung regelte nicht, unter welchen Voraussetzungen Fürsorge zu gewähren war und wie diese konkret aussah. Dies war den „Reichsgrundsätzen über Voraussetzungen, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ vorbehalten, die am 1. Januar 1925 in Kraft traten. Sie unterschieden zwischen einer gehobenen Fürsorge für Kleinrentner, Sozialrentner und Kriegsopfer. Hilfebedürftige im Allgemeinen sollten das Lebensnotwendige sowie das zur Erhaltung oder Herstellung der Gesundheit und/oder Arbeitsfähigkeit Erforderliche erhalten. Arbeitsscheue oder solche Hilfsbedürftige, die sich selbst in ihre Notlage gebracht hatten, sollten nur beschränkte Fürsorgeleistungen erhalten.

Die organisatorische Umsetzung in den Kommunen konnte wiederum sehr unterschiedlich sein. In Stuttgart wurde beispielsweise das Jugendamt mit der Kriegsfürsorgestelle zum „Wohlfahrtsamt“ vereinigt. Dessen Zuständigkeit erstreckte sich auf die Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Rentenempfänger der Invaliden- und Angestelltenversicherung, Klein- und Sozialrentner sowie (seit 9. Oktober 1924) für Arbeitslose und hilfsbedürftige Minderjährige. Für alle übrigen Hilfsbedürftigen blieb weiterhin das Fürsorgeamt zuständig.

Das Dritte Reich brachte rechtlich keine großen Veränderungen im Bereich der Sozialpolitik. Jedoch war die Zielrichtung der Fürsorge und Wohlfahrtspolitik nun eine andere, sie stand jetzt ganz im Dienst der sogenannten „Volksgesundheit“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die Sozialpolitik in Westdeutschland an die alten Strukturen an. Rechtsgrundlage blieb zunächst die Reichsverordnung von 1924. Neu hingegen war, dass über die Rechtsprechung den Hilfebedürftigen ein gesetzlicher Anspruch auf Fürsorge zuerkannt wurde.

Am 1. Juni 1962 trat das Bundessozialhilfegesetz BSHG in Kraft. Darin wurde die Sozialhilfe neu konzipiert und ausgebaut mit „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ und der Idee der Prävention und Rehabilitation. Unter den Änderungen des BSHG sind die Jahre 1969 (Ausweitung der Leistungen), 1974 (Änderungen im Behindertenrecht, der häuslichen Pflege und der Modernisierung der Gefährdetenhilfe) und 1985 (Einführung des ‚Warenkorbs‘ zur Bemessung des Lebensunterhalts) Meilensteine.

Weitreichende Änderungen im Sozialrecht traten zum 1. Januar 2005 mit der Einführung von „Hartz IV“ in Kraft, sie werden hier nicht mehr behandelt.

Aufbau und Inhalt[2]

Angelegt sind die Unterlagen innerhalb einer Akte überwiegend in chronologischer Reihenfolge, wobei dieses System nicht immer vollständig angewandt wurde und auch beispielsweise die Unterlagen von Ehepartnern teilweise vermischt vorliegen. Bei den jüngeren Akten sind – wenn notwendig und möglich – zuweilen Unterfaszikel mit den jeweiligen oben genannten Einzelkategorien gebildet, gelegentlich wurden auch Rechnungen gesondert zusammengestellt.

Zentrale Dokumente

a) Kaiserzeit bis 1945: Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, ob es sich bei der Akte um einen einmaligen Unterstützungsvorgang oder um eine Hilfe über einen längeren Zeitraum handelt. Letzterer Typus verfügt zumeist spätestens seit den 1920er Jahren über eine Grundkarte mit tabellarischen Einträgen über Art und Dauer der Förderung. Zusätzlich oder alternativ ist ein einfacherer Leistungsbogen mit tabellarischen Einträgen über Leistungen, z.B. Geld, Kohle oder Lebensmittel der Akte beigefügt, der vor allem bei singulären Förderungen benutzt wurde.
Als zentrale Formulare sind Grundbögen für Ledige, Verheiratete oder Witwen und Waisen sowie Kriegsgeschädigte vorhanden, die über Familienstand, Beruf sowie über etwaige Fürsorgeleistungen und Fürsorgetätigkeiten informieren. Im Vernehmungsprotokoll finden sich weitere persönliche Angaben zu Beruf, Einkommen, Familienstand, Wohnverhältnissen, Aufenthaltsorten wie auch Fragen zur Beurteilung der Bedürftigkeit. Aufgenommen wurden hier ebenso ein Verzeichnis der Unterstützungen und sonstige Beschlüsse der Armendeputation.
Beim Ausfüllen des jeweiligen Antragsbogens hatte der Antragssteller die Gründe für sein Gesuch darzulegen sowie seine Einkünfte und Ausgaben offen zu legen, worauf eine Beurteilung des Amts folgte. Gleiches gilt für Anträge auf Erziehungsbeihilfe. Seit den späten 1920er Jahren und verstärkt ab 1933 wurden sogenannte Monatsbögen oder monatliche Unterstützungsgesuche geführt. Diese umfassten eine knappe Darstellung von Vermögen und Schulden, monatlichen Einnahmen und Ausgaben sowie einen Antrag für den einzelnen benötigten Zuschuss zu Miete und/oder Lebensunterhalt, auch wenn dieser jeden Monat identisch war. Häufig bilden Anspruchsberechnungen, aber auch andere Rechnungen an die Sozialbehörde, beispielsweise über Krankenhausaufenthalte, größere Bestandteile der Akten.
Elementar sind auch Fragebögen für aktuelle und frühere Arbeitgeber der Antragsteller über Einkommen und Arbeitsmotivation derselben. Detaillierte Einblicke bieten Berichte und Beurteilungen der Amtsvertreter, insbesondere des Außendienstes, der die Lebenssituation der Antragsteller/Fürsorgeempfänger vor Ort überprüfte.

b) Bundesrepublik: Auch die Sozialhilfeakten aus der Zeit der Bundesrepublik verfügen über eine tabellarisch aufgebaute Grundkarte, auf der die Leistungen dokumentiert werden.
Zentral sind wiederum die Antragsbögen auf Sozialhilfe (Weiterbewilligung oder einmalige Hilfe) oder für diverse Zuschüsse. Den Anträgen stehen dann die Bescheide und Anordnungen (z.B. Auszahlungsanordnungen) des Amts gegenüber. Die konkrete Bedarfsberechnung orientiert sich an den Regelsätzen für bestimmte Leistungen (Miete, Mobiliar, Kleidung etc.). Davon abweichende zusätzliche Vergünstigungen, sogenannte Stiftungsgaben, die nicht die unmittelbare Grundversorgung betreffen, bedürfen einer genauen Begründung.
Durch verschiedene Informationsblätter wird der Antragsteller/Sozialhilfeempfänger über den rechtlichen Rahmen des Bezuges und die damit verbundenen Pflichten in Kenntnis gesetzt. Von Sozialhilfeempfängern ausländischer Staatsangehörigkeit oder Asylbewerbern werden Kopien der Aufenthaltsgenehmigung und der Ausweise aufgenommen.
Inhaltlich am ergiebigsten sind auch hier die bisweilen enthaltenen Berichte des Amts und seines Außendienstes, Gleiches gilt für Gesprächsnotizen und die Bedarfsrechtfertigungen der Sozialhilfeempfänger.

Ergänzende Dokumente

a) Kaiserzeit bis 1945: Neben den zentralen Dokumenten und Formularen beinhalten die Akten umfangreiches weiteres Schriftgut. Zunächst sind hier verschiedene Korrespondenzen des Amtes zu nennen: mit Landesbehörden, anderen kommunalen Sozialämtern (Informationsaustausch über die Bedürftigen), Arbeits-, Gesundheits- und Meldeämtern, medizinischen Einrichtungen, Krankenkassen, Anwälten und Nachlassgerichten. Dazu sind gelegentlich Auszüge aus Straf- und Familienregistern beigelegt, ebenso Anweisungen zur Pflichtarbeit oder Landhilfe. Korrespondierend zu letztgenannten Dokumenten gibt es die entsprechenden Arbeitsnachweise. Hierzu sind auch die Teilnahmescheine an der zeitweilig existierenden „Selbsthilfe der Erwerbsbeschränkten GmbH“ zu rechnen. Ärztliche Zeugnisse oder Gutachten, z.B. die Überprüfung der physischen und psychischen Arbeitsfähigkeit, sind ebenfalls überliefert, bis hin zu Vorschlägen und Durchführungen von Sterilisationen im Sinne des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ während des Dritten Reichs.
Eher selten stößt man auf Berichte von Unterstützungssuchenden über die eigene konkrete Lebenssituation oder von Nachbarn/Vermietern über den Lebenswandel der Vorgenannten. Manchmal sind ferner Gutscheine über bestimmte Unterstützungen (Fahrgutscheine, Badegutscheine) erhalten.

b) Bundesrepublik: Die ergänzenden Dokumente sind mit denen der vor-bundesrepublikanischen Zeit inhaltlich weitgehend identisch, allerdings in steigendem Maß umfangreicher. Auch hier machen Korrespondenzen mit anderen kommunalen Ämtern, medizinischen Einrichtungen, Anwälten oder Banken sowie dem Antragsteller/Sozialhilfeempfänger selbst und möglichen Unterhaltspflichtigen einen großen Teil der Akten aus. Unterlagen anderer Ämter (Arbeitsamt, Einwohnermeldeamt) sind gleichfalls vorhanden. Dazu kommen eine erhebliche Menge an Rechnungen, Quittungen, Bankauszügen, Behandlungs- und Versicherungsnachweisen und Kopien von Mietverträgen, Ausweisen etc. zur Dokumentation und Bekräftigung der Angaben.

Übersicht der Dokumente

● Zentrale Dokumente (Kaiserzeit bis 1945):
- Grundkarte/Grundbogen
- Leistungsbogen
- Vernehmungsprotokoll
- Antragsbogen
- Monatsbogen/Monatliches Unterstützungsgesuch
- Anspruchsberechnungen/Rechnungen
- Fragebögen für aktuelle und frühere Arbeitgeber
- Berichte/Beurteilungen des Amts

● Zentrale Dokumente (Bundesrepublik):
- Grundkarte
- Antragsbögen
- Bescheide
- Anordnungen
- Bedarfsberechnung/Stiftungsgaben
- Informationsblätter
- Kopien von Aufenthaltsgenehmigungen/Ausweisen (bei Ausländern)
- Berichte des Amts/Gesprächsnotizen/Bedarfsrechtfertigungen

● Ergänzende Dokumente (Kaiserzeit bis 1945):
- Korrespondenz des Amts
- Auszüge aus Straf- und Familienregistern
- Anweisungen zur Pflichtarbeit/Landhilfe
- Arbeitsnachweise/Teilnahmescheine
- Ärztliche Zeugnisse/Gutachten
- Berichte von Unterstützungssuchenden
- Gutscheine

● Ergänzende Dokumente (Bundesrepublik):
- Korrespondenz des Amts
- Unterlagen anderer kommunaler Ämter
- Rechnungen/Quittungen/Bankauszüge
- Behandlungs- und Versicherungsnachweise
- Kopien von Verträgen (z.B. Miete).

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass im Verlauf der Zeit der Umfang an auszufüllenden und abgelegten Dokumenten in erheblichem Maße zugenommen hat. Schon während der 1920er Jahre stieg die Zahl der formal identischen Bedarfs- und Nachweisformulare (z.B. die Monatsbögen oder Pflichtarbeitsnachweise) rapide an. Ebenso wandelten sich Antragsformulare von relativ ausführlich gehaltenen Fließtextdarstellungen des Antragstellers/Sozialhilfeempfängers hin zu eher tabellarisch gestalteten Rubriken, bei denen teilweise nur noch das betreffende Feld angekreuzt oder mit wenigen Worten ausgefüllt werden musste. Darüber hinaus tragen bei den jüngeren Akten eine Vielzahl von Durchschlägen, Mehrfertigungen, Informationsmaterialien und Belegen zum Anwachsen der Akten ohne wesentliche Steigerung des inhaltlichen Quellenwerts bei.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Sozialhilfeakten haben Bedeutung insbesondere für die Armuts- und Sozialforschung. Sie bieten die Möglichkeit, formale Sozialhilfeverläufe zu rekonstruieren und die Begleitumstände der Sozialhilfe zu erforschen.[3] Die Akten beinhalten dabei Informationen über die Familienverhältnisse, persönliche Daten der Sozialhilfeempfänger, Beruf, Einkommen/Ausgaben, Mobilität, Wohnverhältnisse und das weitere soziale Umfeld.

Insbesondere wenn Berichte des Sozialamts und seines Außendienstes enthalten sind, bietet sich die Möglichkeit, konkrete Lebenssituationen der Sozialhilfeempfänger zu untersuchen. Sozialhilfeakten eignen sich dabei jedoch nicht als Quellen für eine „Geschichte von unten“. Die Sicht der Empfänger der Sozialhilfe ist aus diesen Akten auch dann nicht zu ermitteln, wenn man sie „gegen den Strich bürstet“.

Zahlreiche historische Entwicklungen führen dazu, dass jemand über eine gewisse Zeit oder langfristig seinen Lebensunterhalt nicht selbst sichern kann. Diese Entwicklungen wie wirtschaftliche Veränderungen, Massenarbeitslosigkeit, Krieg, Fluchtbewegungen sind daher grundsätzlich im Spiegel von Sozialhilfeakten untersuchbar.

Schon aufgrund der üblichen Auswahl nach Modell, aber auch aufgrund der Struktur und des Inhalts von Sozialhilfeakten können Genealogen und Nutzer, die an bestimmten einzelnen Personen interessiert sind, in diesen Akten allenfalls Zufallsfunde erwarten.

Die Auswertungsmöglichkeiten hängen entscheidend davon ab, nach welchem Modell Sozialhilfeakten in das jeweilige Archiv übernommen wurden. Als massenhaft gleichförmige Fallakten werden Sozialhilfeakten in der Regel in Auswahl übernommen. Es gibt verschiedene Vorgehensweisen, die sich fast alle danach richten, was unter den jeweiligen Bedingungen vor Ort praktikabel ist. Verbreitet sind Klumpenstichproben nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens, nach Geburtsdatum, nach einer geographischen Auswahl oder nach einer Kombination der genannten Varianten, sowie systematische Stichproben (z.B. jede 10. Akte); ein weiterer Ansatz ist die echte Zufallsauswahl. Matthias Buchholz hat nachgewiesen, dass allein die echte Zufallsauswahl statistische Repräsentativität für sich beanspruchen kann.[4] Ist es für das Ziel der Nutzung erforderlich, die Hilfebiografien von Einzelpersonen oder Familien über lange Zeiträume zu verfolgen, ist dies nur dort möglich, wo eine Klumpenstichprobe nach Buchstaben übernommen wurde.

 

Hinweise zur Benutzung

Bei Sozialhilfeakten handelt es sich um Archivgut, das Rechtsvorschriften des Bundes über die Geheimhaltung unterliegt (Sozialgeheimnis). Sie dürfen nach LArchG §6 Abs. 2 und §6a frühestens 60 Jahre nach Entstehung im Archiv genutzt werden. Das Bundesarchivgesetz in seiner damals gültigen Fassung, auf die LArchG §6a verweist, sah keine Möglichkeit der Verkürzung dieser Frist vor. In seiner Fassung vom 10. März 2017 sieht das Bundesarchivgesetz in §12 Abs. 3 vor, dass die 60jährige Schutzfrist um maximal 30 Jahre verkürzt (oder verlängert) werden kann, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Für wissenschaftliche Forschungsvorhaben aus dem Sozialleistungsbereich ist unter Umständen ein Zugang möglich, der sich nicht aus dem Archivrecht ergibt, sondern aus §75 SGB X.[5]

Anmerkungen

[1] Hier wird die Zeit vom Kaiserreich bis 2004 betrachtet. Die weitreichenden Änderungen im Sozialrecht zum 1. Januar 2005 werden nicht mehr betrachtet. Vgl. zum Folgenden Sachße/Tennstedt, Geschichte sowie Stolleis, Geschichte.
[2] Die Analyse des Aufbaus und Inhalts von Sozialhilfeakten wurde anhand der im Stadtarchiv Stuttgart verwahrten Sozialhilfeakten von Stefan Lang im Rahmen eines Abschnitts seines Archivreferendariats im Jahr 2007 erarbeitet.
[3] Vgl. Buhr, Dynamik, S. 103.
[4] Vgl. Buchholz, Überlieferungsbildung. Perspektivisch ist die Übernahme von vollständigen Stammdatensätzen aus einem Sozialhilfe-Fachverfahren verbunden mit einer reduzierten Auswahlarchivierung von Einzelfallakten interessant, sowohl was die Menge des Archivguts angeht wie auch die Auswertungsmöglichkeiten für die Nutzung.
[5] Vgl. Reinhardt, Nutzung.

 

Literatur

  • Buchholz, Matthias, Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität (Archivhefte 35), 2. Auflage, Köln 2011.
  • Buhr, Petra, Dynamik von Armut. Dauer und Bedeutung von Sozialhilfebezug (Studien zur Sozialwissenschaft 153), Opladen 1995.
  • Dehlinger, Alfred, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. 1, Stuttgart 1951.
  • Reinhardt, Christian, Die wissenschaftliche Nutzung von Archivgut mit Sozial- und Steuerdaten, in: Archivar 66 (2013), S. 439–443.
  • Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart u.a. 1988.
  • Stiefel, Karl, Baden 1648–1952, Bd. 2, Karlsruhe 1979.
  • Stolleis, Michael, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland: ein Grundriß, Stuttgart 2003.
  • Bewertung personenbezogener Sozialhilfeakten – ein Praxisleitfaden für Kommunalarchive, hg. von Katharina Tiemann, Münster 2015.

Zitierhinweis: Katharina Ernst, Sozialhilfeakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 12.07.2017.

 

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