Jugend – Landerholung für Stadtkinder in Württemberg

 
Unterbringungsplan der Zentralstelle für Kinderhilfe im Rhein -Ruhrgebiet, Juli 1923 (Quelle: Landesarchiv BW, StAS Wü 65/22 T 3 Nr. 1262, Bild 2)

Kontext: Kindererholung

Die Folgen des Ersten Weltkriegs wirkten sich auf Kinder und Jugendliche verheerend aus. Seitdem die „Hungerblockade“ der Ententemächte 1916 zu großen Versorgungsengpässen im Reich geführt hatte, litt eine ganze Generation an Unterversorgung und Mangelerscheinungen. Viele junge Menschen waren aufgrund der Mangelernährung in ihrer körperlichen Entwicklung beeinträchtigt und starben noch Jahre später an den Auswirkungen während der Kriegsjahre entstandener Hungertuberkulosen. Der Krieg machte zudem zahlreiche Kinder und Jugendliche zu Waisen und Halbwaisen, wodurch sie früh erwachsen werden mussten.

Zu den ersten Herausforderungen der provisorischen Volksregierung gehörte nach Kriegsende daher die Verbesserung der Lebensmittelversorgung. In dieser Hinsicht war Württemberg in den ersten zwei Nachkriegsjahren von ausländischen Organisationen abhängig. Vor allem Fürsorgeorganisationen der Schweiz und der USA machten sich hier bei der Unterstützung württembergischer Kinder und Jugendlicher verdient. Hierzu zählte beispielsweise die Schweizer Kinderhilfsmission der “Religiösen Gesellschaft der Freunde“ (Quäker), die im Juni und Juli 1920 Lebensmittelspenden für 2.000 Kinder in Stuttgart organisierte.

Doch vermochten die von der württembergischen Landesregierung unternommenen Anstrengungen, die angesichts des vier Jahre lang währenden Krieges auch nur langfristig umsetzbar waren, in der Friedenszeit die Entwicklungsdefizite von Kindern und Jugendlichen nicht nachträglich auszugleichen. Daher organisierten die württembergischen Regierungsbehörden, wie auch andere Länder, Erholungsaufenthalte von Großstadtkindern auf dem Land. Für diese Aufgabe zeichnete sich der Verein „Landaufenthalt für Stadtkinder“ verantwortlich, dessen Hauptvertretung sich bereits 1917 zu einer Zentrale auf Reichsebene entwickelt hatte. Sein württembergischer Zweigverein organisierte im Juli 1920 Erholungsmöglichkeiten für 675 Stuttgarter Kinder auf dem Heuberg.

Die Durchführung der Landaufenthalte gestaltete sich dabei folgendermaßen: Zugelassen waren laut Vereinsstatuten 6- bis 16-jährige Kinder und Jugendliche. Die Erholungsbedürftigkeit der Kinder wurde durch einen Amtsarzt festgestellt. Nachvollziehbarerweise durften die Kinder keine ansteckenden Krankheiten, Ungeziefer oder Ausschlag aufweisen, um keine weitere Ausbreitung auszulösen. Nach Absolvierung eines Landaufenthalts in Gastfamilien wurden die Kinder gewogen. Kosten für Versicherungen und die Subventionierung von Fahrtkosten wurden durch den Verein übernommen. Auch die aufnehmenden Gastfamilien erhielten finanzielle Zuwendungen. Die Aufenthalte dauerten zwei bis drei Monate; ein Zeitraum, in dem die Kinder von der Schule beurlaubt waren. Den Eltern war es verboten, die Kinder zu besuchen, um den aufnehmenden Gastfamilien nicht zusätzlich Druck und Verantwortung aufzubürden. Entsprechend ihres Alters und ihrer Kräfte konnten die Kinder zur Mitarbeit im Haus und auf den Feldern in den aufnehmenden Familien herangezogen werden.

Landaufenthalt für Stadtkinder

Neben den Erholungsaufenthalten württembergischer Kinder innerhalb des Landes nahm der Volksstaat ab 1920 auch Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern auf.

Dabei spielte bis 1925 vor allem die schwierige Lebensmittelversorgung in Württemberg eine wichtige Rolle. So musste beispielsweise im Mai 1920 die Dauer der Aufenthalte im Oberamt Neuenbürg auf zwei Tage begrenzt werden, da die Lebensmittelversorgung von Fleisch und Milch immer noch prekär war.

Neben Neuenbürg gehörten auch Langenbrand, Birkenfeld und Bad Herrenalb zu den aufnehmenden Orten. Sie machten es immer wieder zur Bedingung, dass die Unterbringung der Kinder durch Lebensmittellieferungen aus den entsendenden Städten – hier vor allem aus dem badischen Karlsruhe, für deren Organisation der Badische Landesverein für Innere Mission zuständig war – ermöglicht werde. Im Zuge dieser Forderungen wurden nach Württemberg entsandte Kinder und Jugendliche oft selbst mit Lebensmitteln wie Zucker oder Lebensmittelkarten für Milch und Fleisch ausgestattet. Weitere Regelungen trafen das württembergische und das badische Innenministerium, die sich über einen gerechten Lastenausgleich in der Lebensmittelversorgung einigten. Wenngleich die Akten nur sehr selten konkrete Zahlen bezüglich der Kontingente an aufgenommenen Kindern bereithalten, informieren sie doch darüber, dass beispielsweise 1920 jeweils 21 Kinder für 24 Tage in Langenbrand, Grunbach, Rotensol und Kapfenhardt aufgenommen wurden. In Herrenalb wurden 1920 51 Stadtkinder untergebracht.

Einen besonderen Belastungstest stellte in diesem Zusammenhang das Jahr 1923 dar. Mit der Besetzung des Rhein- und Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen, der Ausrufung des passiven Widerstands durch die Reichsregierung und der dadurch ausgelösten Hyperinflation, kam es in diesen Gebieten zu besonders starken Engpässen in der Lebensmittelversorgung. Aus dem Unterbringungsplan der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr- und Rheingebiet vom Juli 1923 geht hervor, dass Württemberg neben Bayern Kinder und Jugendliche aus rheinischen Städten aufnahm. Das Verzeichnis gibt zudem Aufschluss darüber, in welchen württembergischen Städten Kinder untergebracht wurden. So nahm beispielsweise Heilbronn Kinder aus Bochum auf, Marbach aus dem westfälischen Buer und Neuenbürg aus Bielefeld. Wenngleich sich mit dem Ende der Hyperinflation 1923 die Lebensmittelversorgung wieder verbesserte, blieb die Kinderlandverschickung bis in die NS-Zeit erhalten.

GND-Verknüpfung: Jugend [4028859-6]

Suche