Die Angst vor Scheintod und Lebendbestattung
Ein Scheinphänomen der Medizingeschichte
Wer möchte schon sein eigenes Leichenbegängnis erleben? Das Grauen davor (und die Lust daran) bedienen die Medien auch heute noch gern. Den Zenit seiner öffentlichen Präsenz hat das Thema aber längst hinter sich – der lag in der Sattelzeit des Übergangs in die Moderne, als grobes Bangemachen mit den Gefahren von Scheintod und vorschneller Beisetzung Innovationen in Notfallmedizin und Bestattungswesen Vorschub leistete. 1780 spielte das kurpfälzische Collegium Medicum auf dieser Klaviatur: Die traurige Erfahrung gibt uns mehrere Beispiele, dass leblos Scheinende beerdigt worden, im Grabe aufgewacht und auf eine grausame Art verzweifelnd nach abgenagtem Fleisch an Armen und Händen verschmachtet sind. Konkrete Beispiele nannte man nicht – es gab wohl keine.
Der Diskurs über die Lebenssicherung beflügelte findige Köpfe, die das sargindustrielle Marktsegment mit Glöckchen, Totenhörnern, Signalfahnen und allerlei sonstiger Rettungsapparatur bereicherten. Mancher potenzielle Kunde setzte jedoch lieber auf probate Mittel der Todessicherung wie den Stich ins Herz. Die Vorsorge dafür hat ihren Ort in Testamenten. Und in nachlassgerichtlichen Beständen von Staats- und Kommunalarchiven sind auch am ehesten Selbstauskünfte über Taphophobie (so der Fachbegriff für die Angst vorm Lebendig-Begraben-Werden) zu erwarten. Tatsächlich entlarvt eine Sichtung der Quellen den Popanz von der massenwirksamen Urangst, der in der Medizinhistorie bis heute herumspukt, als Phantom.
In einem auf Taphophobie-Spuren untersuchten Korpus von 1.024 Mannheimer Testamenten aus der Zeit zwischen 1750 und 1843 wird die Angst nur in vier Fällen manifest, in sieben weiteren deuten Verfügungen auf sie hin. Von einer Obsession kann mithin selbst für die besseren Kreise, denen die Testatoren zuzurechnen sind, keine Rede sein, von bildungsfernen Schichten ganz zu schweigen. Die bekennenden Taphophoben – je zwei Frauen und Männer, allesamt aus dem Umkreis staatsdienstlicher Berufe, zwei davon von Adel – zeigen sich im Hinblick auf die Scheintodprophylaxe recht divers, vom Begräbnis nach einsetzender Verwesung bis zur Hardcore-Version Carl Friedrich Philipp von Gemmingen-Fürfelds: Meine letzte Bitte ist, daß nach meinem Tode vor der Beerdigung man mir die Adern eröffnen und das Herz durchstechen soll, damit ich nicht etwa das Unglück habe, im Grabe wieder zu erwachen, wie man dergleichen schreckliche Beispiele mehrere hat. Wiederum also die Schein-Empirie obskurer Beispiele, die eingangs schon die pfälzischen Medizinalräte umtrieb. Denen schien übrigens eine flinke Grablegung je nach Sachlage durchaus opportun: Wäre es aber ein altes böses Weib, welches in der Haushaltung der Schwiegersöhne täglichen Hauskrieg und unter den Nachbarsweibern Zänkereien angestiftet hätte, so könnte man schon ein wenig eilfertiger mit ihrem Begräbnis sein.
Carl-Jochen Müller