Reiseberichte des Mittelalters

Von Peter Rückert

Definition der Quellengattung

Reiseberichte sind „Zeugnisse der Mobilität und der Wahrnehmung des Eigenen wie Fremden“ (E. Bünz). Die Texte berichten von Erfahrungen bei Reisen, die vom Autor selbst gemacht bzw. weitergegeben werden. Es handelt sich also um Selbstzeugnisse, die einen gewissen literarischen Anspruch erheben und nach entsprechender Interpretation verlangen.

Historische Entwicklung und Überlieferung

Muslimische Männer und Frauen (Holzschnitt), aus: Bernhard Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam, Mainz 11.02.1486 (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:1-152250, Image 167)
Muslimische Männer und Frauen (Holzschnitt), aus: Bernhard Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam, Mainz 11.02.1486 (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:1-152250, Image 167)

Das Einsetzen der Überlieferung von Reiseberichten im 14. Jahrhundert dürfte zugleich das Entstehen des Typus markieren. Als Autoren erscheinen vor allem Geistliche und wohlhabende Bürger, d.h. in erster Linie Mitglieder städtischer Eliten. Ein analytisches Quelleninventar der Reiseberichte aus dem deutschsprachigen Raum[1] erfasst für den Zeitraum 1334 bis 1531 lediglich 154 Zeugnisse, die im weiteren Sinne als Reiseberichte gelten können. Eine aktuelle Zusammenstellung für den deutschen Südwesten führt knapp 30 Reiseberichte vom mittleren 14. Jahrhundert bis ins frühe 16. Jahrhundert an.[2] Vielfach handelt es sich um bereits gedruckte Texte, so dass die Zusammenstellung noch durch weitere Archiv- und Bibliotheksfunde vermehrt werden kann.

Die Überlieferung der Texte für den deutschen Südwesten ist meist sehr schmal und beschränkt sich in der Regel auf eine einzige Handschrift. Nur wenige, prominentere Reiseberichte fanden eine weitere Verbreitung, die sich in einer breiteren handschriftlichen Dokumentation niederschlägt. Entsprechend gelangten Reiseberichte hier auch nur im Ausnahmefall zum Druck. Deutlich wird, dass sich zahlreiche Reiseberichte im Kontext von Familien- oder Hausbüchern erhalten haben und gar nicht zur weiteren Verbreitung bestimmt waren. Es ging hier oftmals um die Erinnerung an ein besonderes Erlebnis eines Familienmitglieds und damit auch um dessen Sozialprestige.

Fragen nach Zweck und Anlass der Reiseberichte bedürfen noch weiterer Untersuchung; eine Quellenkunde des Reiseberichts nimmt damit allmählich Gestalt an.[3]

Aufbau und Inhalt

Die Textumfänge der erhaltenen Reiseberichte sind sehr unterschiedlich; oftmals finden sich die Texte in der Form verschiedener Textbausteine zusammengestellt. Dies gilt vor allem für Pilgerberichte, die bei weitem dominante Form der Reiseberichte im späten Mittelalter. Auch ist mit einer Vermischung von Selbsterlebtem und übernommenem Wissen zu rechnen.

Die Sprache der Reiseberichte ist weitgehend deutsch. Lateinische oder lateinisch-deutsche Texte bilden die Ausnahme. Neben den Text tritt oft das Bild; Textillustrationen mit Landschafts- oder Personendarstellungen besitzen vielfach einen eigenen (kunst-)historischen Wert.

Absolut dominantes Reiseziel ist das Heilige Land mit Jerusalem, manchmal auch mit der Sinai-Halbinsel und dem Katharinenkloster. Weit weniger Berichte beschreiben Reisen zu den beiden anderen großen Pilgerstätten der Christenheit, Rom und Santiago de Compostela. Neben den Pilgerreisen werden in Einzelfällen auch Reisen zu europäischen Fürstenhöfen, manchmal auch als Kombination zwischen beidem, beschrieben. Jedenfalls geht es bei den Reiseberichten fast ausnahmslos um Fernreisen, die in aller Regel als Pilgerfahrten unternommen wurden.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Tiere im Heiligen Land (Holzschnitt), aus: Bernhard Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam, Mainz 11.02.1486 (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:1-152250, Image 127)
Tiere im Heiligen Land (Holzschnitt), aus: Bernhard Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam, Mainz 11.02.1486 (Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:1-152250, Image 127)

Reiseberichte beziehen ihren besonderen Quellenwert aus der Augenzeugenschaft der Verfasser und gewähren darüber hinaus Einblick in Sichtweisen des späten Mittelalters, die sie gerade für kulturgeschichtliche Fragestellungen zu einer herausragenden Quellengattung machen. Berichte über eine Durchreise durch den deutschen Südwesten sind allerdings selten.

Als Selbstzeugnisse (Ego-Dokumente) und als Quellen für die Wahrnehmung des Fremden finden Reiseberichte seit längerem die verstärkte Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft und ihrer Nachbardisziplinen. Neben den Reiseberichten im eigentlichen Sinn dokumentieren vielfältige Quellenarten zeitgenössische Reiseunternehmungen. Hervorzuheben sind hierbei vor allem Rechnungen und Briefe.

Im Hinblick auf die Quellenkritik ist von zentraler Bedeutung, inwieweit die Darstellung auf Augenzeugenschaft oder auf Kenntnis literarischer Quellen beruht.[4] In vielen spätmittelalterlichen Reiseberichten fließt beides zusammen. Die Berichte der Jerusalempilger wirken aufgrund des einheitlichen Reiseweges (Seeweg über Venedig) und des durch die Heiligen Stätten mehr oder minder vorgegebenen Reiseverlaufs stereotyp, bieten aber gerade dadurch interessante Vergleichsmöglichkeiten. Die neuere Forschung hat deutlich gemacht, dass die Sicht- und Wahrnehmungsweisen vielfach individuell geprägt waren, während spezifisch „ständische" Sichtweisen nur eine geringe Rolle spielten. Die literarische „Machart“ der Reiseberichte verlangt in ihrer Heterogenität freilich einen je eigenen textkritischen Zugang.[5]

Als Anlass zur Erstellung der Reiseberichte wie auch hinsichtlich ihres Zwecks dürften Selbstdarstellung und Memoria eine wichtige Rolle gespielt haben. Daneben ging es vielfach auch um die Weitergabe praktischer Informationen für die Reiseorganisation.

Von besonderer Bedeutung für den deutschen Südwesten ist die berühmte Pilgerreise Graf Eberhards im Bart von Württemberg, die ihn 1468 ins Heilige Land führte und durch mehrere Reiseberichte gut dokumentiert ist.[6] Hierzu sind in jüngster Zeit auch neue Textzeugen erfasst worden, welche die Bedeutung der Parallelüberlieferung und deren komplementäre Auswertung beispielhaft betonen.

Das Unterwegssein an sich hat auch im späten Mittelalter nur in Ausnahmefällen zu Reiseaufzeichnungen geführt. Deshalb ist zu bedenken, dass die erhaltenen Reiseberichte kein sozialgeschichtlich ausgewogenes Bild der Mobilität der Zeit bieten können.[7] Erst unter dem Einfluss des Humanismus und der europäischen Expansion nach Übersee werden die Schreibanlässe seit dem späten 15. Jahrhundert individueller.

Der Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit führte vor allem durch die Reformation zu einem Wandel der Reiseberichte. Mit der Ablehnung der Pilgerfahrten waren dann natürlich auch Pilgerberichte nicht mehr so gefragt. Die Wahrnehmung von Mensch und Umwelt veränderte sich. Seit dem 16. Jahrhundert wurde die humanistische Bildungsreise zum Vorbild für die adligen Kavalierstouren, die nun vielfach von Reiseberichten dokumentiert sind.

Hinweise zur Benutzung

In den Beständen des Landesarchivs Baden-Württemberg sind bislang keine mittelalterlichen Reiseberichte im engeren Sinne nachgewiesen. Die bekannten Textzeugen finden sich in den Bibliotheken (unter den Handschriftensammlungen bzw. „Alten Drucken“). Hinsichtlich der Benutzung ist auch auf den Artikel zu den Reiseberichten der Neuzeit zu verweisen.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Reisen als Ausdruck familiärer Traditionen, Pilgerfahrten als Inszenierung herrschaftlicher Repräsentation, Pilgerziele als Orte der Selbstvergewisserung und Identitätswahrnehmung werden mit dem aktuellen Forschungsstand der Reiseforschung greifbar.[8] Die unbefriedigende Editions- und Forschungslage verspricht gleichwohl noch wesentliche neue Erkenntnisse im Umgang mit den Reiseberichten als spezifischer Quellengruppe, wobei vor allem die Problemkreise um kulturelle Kontakte und deren Spuren und Wirkungen zu weiteren kultur- wie landesgeschichtlichen Auswertungen Anregung bieten.

Anmerkungen

[1] Europäische Reiseberichte, 1. Tl.
[2] Honemann, Reiseberichte.
[3] Reichert/Rückert, Reisen.
[4] Zum Folgenden ausführlicher Bünz, Reiseberichte.
[5] Reichert/Rückert, S. 18.
[6] Eberhard im Bart.
[7] Bünz, Reiseberichte.
[8] Reichert/Rückert, Reisen, S. 18.

Literatur

  • Bünz, Enno, Reiseberichte (Spätmittelalter), publiziert am 17.08.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Reiseberichte (Spätmittelalter) (21.02.2018).
  • Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, hg. von Gerhard Faix/Folker Reichert (Lebendige Vergangenheit 20), Stuttgart 1998.
  • Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie, hg. von Werner Paravicini:
  • 1. Tl. Deutsche Reiseberichte, bearb. von Christian Halm (Kieler Werkstücke D/5), 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Frankfurt a.M. u.a. 2001.
  • 2. Tl. Französische Reiseberichte, bearb. von Jörg Wettlaufer (Kieler Wertstücke D/12), Frankfurt a.M. u.a. 1999.
  • 3. Tl. Niederländische Reiseberichte, nach Vorarbeiten von Detlev Kraack bearb. von Jan Hirschbiegel (Kieler Werkstücke D/14), Frankfurt a.M. u.a. 2000.
  • Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Rainer Babel/Werner Paravicini (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2005.
  • Halm, Christian/Hirschbiegel, Jan, Reiseberichte, ethnographische und geographische Schriften, in: Aufriß der historischen Wissenschaften. 4. Bd.: Quellen, hg. von Michael Maurer, Stuttgart 2002, S. 215–238.
  • Herbers, Klaus/Plötz, Robert, Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans „Ende der Welt", München 1996.
  • Honemann, Volker, Reiseberichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit aus dem Südwesten des Deutschen Reiches, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 68 (2009), S. 63-72.
  • Die Pilgerfahrt des Hans von Waltheym im Jahre 1474, hg. von Friedrich Emil Welti, Bern 1925.
  • Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben und seinen Randgebieten in Oberbayern, Franken, Württemberg, Vorarlberg und Tirol. Reiseberichte aus 11 Jahrhunderten, hg. von Hildebrand Dussler, Weißenhorn 1968.
  • Reichert, Folker, Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum heiligen Land 1521, Regensburg 2005.
  • Reichert, Folker, Eberhard und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter. Ein unbekannter Pilgerbericht, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 64 (2005), S. 57-84.
  • Reichert, Folker/Rückert, Peter, Reisen und Reiseliteratur im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 68 (2009), S. 11-18.
  • Wettlaufer, Jörg, Gesandtschafts- und Reiseberichte, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift, hg. von Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel/Dems. (Residenzenforschung 15.III), Ostfildern 2007, S. 361-372.
  • Wolf, Gerhard, Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989, S. 81-116.

Zitierhinweis:  Peter Rückert, Reiseberichte des Mittelalters, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL […], Stand: 26.02.2018.

 

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