Das Haus der Familie Gayer
Von Frank Lang, Museum der Alltagskultur
Wie sah das Wohnen und Leben der „kleinen Leute“ über mehrere Generationen hinweg im 20. Jahrhundert aus? Antworten darauf liefert ein virtueller Rundgang im Themenmodul „Alltagskultur im Südwesten“. Der Rundgang macht drei in ihrer Einrichtung authentisch und komplett überlieferte Wohnräume begeh- und erlebbar. Es handelt sich um die Küche, die „gute Stube“ und das Schlafzimmer einer Familie aus Nordwürttemberg. Möbel und Einrichtungsgegenstände aus über 100 Jahren zeigen, wie versucht wurde, aus dem Wenigen das Beste zu machen. Gleichzeitig liefern sie spannende Einblicke in unterschiedliche Moden, in die technische Ausstattung des Haushalts und in das gemeinsame Zusammenleben.
Seit 1989 sind Küche, „gute Stube“ und Schlafzimmer im Museum der Alltagskultur im Schloss Waldenbuch aufgebaut und gehören heute zur Ausstellung „Wohnwelten“. Für das Themenmodul wurde die Museumspräsentation zu einem virtuellen Rundgang mit Lageplan aufbereitet. Feste Einbauten wie Wände, Decken und Fußböden wurden digital rekonstruiert. Darüber hinaus sind in den virtuellen Rundgang Fotografien des einstigen Wohnhauses eingebunden, das die Familie bis Ende der 70er-Jahre bewohnte.
Die Bewohner
Die Familie Gayer (Name geändert), von der hier die Rede ist, lebte in Siegelsbach im heutigen Landkreis Heilbronn. Die meisten Familien des Ortes betrieben bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene Landwirtschaft. Viele dieser kleinen und mittleren Betriebe wurden im Nebenerwerb bewirtschaftet. Ab den 50er-Jahren vollzog sich ein Strukturwandel: Das „Bauerndorf“ wurde trotz eigener kleiner Industrieansiedlungen immer mehr zu einer Pendlergemeinde.
Familie Gayer besaß eigentlich nur die Hälfte eines Wohnhauses, die 1878 durch Tausch in ihren Besitz gelangte. Daran angebaut waren Schweineställe und ein quergestelltes Scheunen- und Stallgebäude. Hinter der Scheune lag ein Garten. Eine solches „Hakengehöft“ kommt hauptsächlich in Regionen vor, in denen die Realteilung als Erbsitte üblich war (alle Nachkommen waren zu gleichen Anteilen erbberechtigt). Nicht selten wurden dort auch Gebäude in mehrere Teile gesplittet.
Mehrere Generationen lang lebten die Gayers ganz oder teilweise von der Landwirtschaft. Heinrich Gayer (geb. 1895) arbeitete nach gescheiterten Auswanderungsplänen ab 1931 halbtags als Polizeidiener und nebenbei als Versicherungsvertreter. Im selben Jahr übernahm er sein Erbteil mit rund 1,3 Hektar Land, das er in den nachfolgenden Jahren durch Pacht und Kauf auf etwa drei Hektar vergrößerte.
Mit den wirtschaftlich ungünstigen Gegebenheiten musste sich die Familie notgedrungen arrangieren. Die Landwirtschaft war bei der Übernahme klein und veraltet. Die erweiterte Fläche reichte gerade aus, um den Vier-Personen-Haushalt mit den wichtigsten Nahrungsmitteln zu versorgen. Dass der Vater den Betrieb neben seiner Polizeidienertätigkeit bewirtschaften musste, bedeutete: Die ganze Familie hatte mitzuarbeiten.
Bearbeitet wurde die Fläche bis zur Aufgabe in den 60er-Jahren mit einer Kuh als Zugtier vor Wagen und Pflug. Neben fünf bis sechs Kühen gab es noch Schweine und Kleinvieh.
Die Einkünfte von Heinrich Gayer als teilzeitbeschäftigter Polizeidiener und Amtsbote wurden von der ganzen Familie durch Nebentätigkeiten wie Stromablesen und Kassieren von Versicherungsbeiträgen aufgestockt. Eine sparsame Haushaltsführung war unabdingbar. Geld einsparen konnte seine Frau, Johanna Gayer, vor allem dadurch, dass sie für sich und ihre Familie Kleider nähte. Sie flickte abgetragene, zerrissene Sachen oder arbeitete sie zu neuen Kleidungsstücken für die Kinder um. Auch als sie es in späteren Jahren finanziell nicht mehr nötig hatte, besserte sie weiterhin alles noch Flickbare aus und trug es weiter.
Zitierhinweis: Frank Lang, Das Haus der Familie Gayer, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 19.11.2020
Der Text stammt im Wesentlichen aus der Publikation „Museum für Volkskultur in Württemberg. Themen und Texte Teil 1. Stuttgart 1989/90“.