Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Kinder und Jugendliche

Wiedergutmachungsbescheid für die zehnjährige Waise Hildegard. Quelle: Landesarchiv BW, StAS Wü 33 T 1 Nr. 1814
Wiedergutmachungsbescheid für die zehnjährige Waise Hildegard. Quelle: Landesarchiv BW, StAS Wü 33 T 1 Nr. 1814

Obwohl sie von den alliierten Siegermächten politisch vorgegeben war, kam die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in den westlichen Besatzungszonen zunächst nur schleppend voran. Erst seit 1949 wurden von den deutschen Länderregierungen Gesetze erlassen, die den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung Ansprüche auf Entschädigung einräumten, und auch jetzt noch sahen sich die Antragsteller allerlei Vorurteilen und Misstrauen ausgesetzt. Selbst Kinder und Jugendliche wurden – je nachdem, welcher Herkunft sie waren – von den Wiedergutmachungsämtern mit Argwohn und Herablassung behandelt.

Die zehnjährige Hildegard, deren Mutter im Dezember 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück umgekommen war, hoffte vergeblich auf Wiedergutmachung. Hildegard war aus einer Liebesbeziehung ihrer Mutter mit einem polnischen Kriegsgefangenen hervorgegangen. Zwar hätte – so die Argumentation des Landesamts für die Wiedergutmachung Tübingen vom April 1953 – die Verfolgung einer Frau wegen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen einen Wiedergutmachungsanspruch begründen können, jedoch nur dann, wenn der Verkehr gleichzeitig eine gegen die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gerichtete politische Haltung zum Ausdruck gebracht hätte. Da die Beziehungen ihrer Mutter zu dem Polen allerdings reine Liebesbeziehungen darstellten, ging die Waise leer aus.

Doris L. hatte mehr Erfolg. Als Tochter eines jüdischen Arztes und sogenannter jüdischer Mischling ersten Grades war ihr während der NS-Herrschaft eine höhere Schulbildung verwehrt geblieben, sodass sie als rassisch Verfolgte eine pauschale Entschädigung zur Nachholung ihrer Berufsausbildung erhielt. Der zuständige Sachbearbeiter unterstützte den Antrag sogar mit dem Bemerken, dass die Schülerin nach ihrer sozialen Stellung einen Anspruch darauf habe, in die höhere Beamtenlaufbahn zu gelangen.

Ganz anders ging es Rudolf R. Nachdem er bereits 1946 als rassisch Verfolgter anerkannt worden war, wurden während der Bearbeitung seines Wiedergutmachungsantrags Ende 1950 Probleme präjudiziert, wenn es im behördlichen Schriftverkehr heißt: R. ist Ausländer und Zigeuner. Die Beschaffung der notwendigen Unterlagen stößt daher auf erhebliche Schwierigkeiten, oder: Sollte sich die Vermutung bestätigen, dass R. ein typisch asozialer Zigeuner ist, kann mit einer Wiedergutmachung nicht gerechnet werden.

Im Herbst 1952 wurde Rudolf für seine sechsjährige KZ-Haft, in die er 1939 als 15-Jähriger geraten war, trotzdem entschädigt. Bemerkenswert ist die Begründung, dass er im Alter von 15 Jahren noch nicht als arbeitsscheu und asozial gewertet werden konnte und er deshalb wegen seiner Rasse benachteiligt worden ist. Genau dieses Argumentationsmuster wurde seiner älteren Schwester, die Jahre später einen eigenen Antrag stellte, zum Verhängnis. Das Landgericht Tübingen stellte in seiner Urteilsbegründung fest, dass ihr Antrag u. a. deshalb nicht zum Erfolg habe führen können, weil die Klägerin nicht aus den Verfolgungsgründen des § 1 Bundesentschädigungsgesetz, sondern als arbeitsscheue und asoziale Zigeunerin verhaftet worden sei.

Franz-Josef Ziwes

Quelle: Archivnachrichten 55 (2017), S. 25.

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