Lässt sich Leid mit Geld aufwiegen?
Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts am Beispiel von Walter Vielhauer
Der Begriff der Wiedergutmachung für den Versuch, die Opfer des Nationalsozialismus für die erlittene Verfolgung zu entschädigen, ist bis heute umstritten. Zwar hat er sich in der Geschichtswissenschaft als rechtshistorischer Terminus durchgesetzt – dennoch illustriert nicht nur die hebräische Bezeichnung shilumim (dt. Buße, Vergeltung) die Unmöglichkeit, die Gräueltaten der NS-Herrschaft wieder gut zu machen.
Die Wiedergutmachungspraxis der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit auf Basis des 1956 verabschiedeten Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) bedeutete nichts weniger, als aus dem Leid der Opfer des NS-Regimes Ansprüche auf bestimmte Geldsummen abzuleiten. Wie langwierig sich der bürokratische Prozess zur Feststellung solcher Entschädigungszahlungen gestaltete, zeigt z. B. die mehrere hundert Seiten umfassende Wiedergutmachungsakte des Heilbronner Silberschmieds Walter Vielhauer, die im Staatsarchiv Ludwigsburg als eine von über 60.000 Entschädigungsakten überliefert ist.
Der verheiratete Familienvater Walter Vielhauer stellte bereits ungewöhnlich früh, im Jahr 1948, seinen Entschädigungsantrag als politisch Verfolgter bei der Betreuungsstelle für politisch, rassisch und religiös Verfolgte in Heilbronn. Walter Vielhauer beantragte Entschädigung für Schaden an Freiheit durch insgesamt 11 Jahre und 10 Monate Haft u. a. in den Konzentrationslagern Mauthausen, Dachau und Buchenwald und für damit verbundene Haftkosten in Höhe von 1.800 Reichsmark. Er beantragte außerdem Entschädigung für Schäden an Körper und Gesundheit aufgrund einer halbseitigen Gesichtslähmung, einer chronischen Bronchitis und mehrerer ausgeschlagener Zähne sowie für Schäden am wirtschaftlichen Fortkommen aufgrund der Entlassung aus seiner Arbeitsstelle im Jahr 1933. Auch verlangte er die Erstattung von Vermögensschäden durch Beschlagnahmungen (u. a. ein Fahrrad und mehrere Bücher) und durch einen Fliegerschaden an der elterlichen Wohnung im Jahr 1944. Als Beweise erbrachte Walter Vielhauer eidesstattliche Erklärungen, medizinische Gutachten, Zeugenaussagen von Mithäftlingen, Häftlingskarten, Auszüge aus dem Strafregister und entsprechende Anklageschriften über widerständische Agitationen, die zu seiner Verhaftung geführt hatten.
Bevor der Entschädigungsantrag beschieden wurde, erhielt Walter Vielhauer im Zeitraum von 1947 bis 1949 verschiedene Beihilfen zur Linderung seiner aktuellen Notlage und zur Erstattung von akut notwendigen Gesundheitsmaßnahmen in Höhe von insgesamt 1.300 DM. Der endgültige Wiedergutmachungsbescheid erreichte Walter Vielhauer 15 Jahre nach der Antragstellung am 15. Juli 1962. Er erhielt eine Kapitalentschädigung für 144 Monate Haft in Höhe von 21.500 DM, eine Erstattung von Verdienstausfällen in Höhe von 7.837 DM sowie eine Entschädigung für gesundheitliche Beeinträchtigungen in Höhe von 12.007 DM. Zudem wurde Walter Vielhauer eine monatliche Rente in Höhe von rund 200 DM zugesprochen. Noch bis zu seinem Tod im Jahr 1986 wurde sein Bescheid mehrfach angepasst und zum Beispiel um Kosten für Heilverfahren nachträglich ergänzt. Negativ beschieden wurde der Antrag auf Erstattung der entzogenen Gegenstände mit Verweis aus das Rückerstattungsrecht.
Ebenfalls abgewiesen wurde der Antrag auf Entschädigung für Fliegerschäden, da zwischen diesen Kriegssachschäden und den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen kein […] Zusammenhang festgestellt wurde (LABW, StAL EL 350 I Bü 2409).
Die Entschädigungspraxis nach dem BEG orientierte sich im Kern daran, den sozialen Status der Verfolgten aus der Zeit vor 1933 wiederherzustellen. Damit zementierte das Gesetz ehemalige Klassenzugehörigkeiten in die Nachkriegszeit hinein. Insgesamt wurden bis Ende 2020 Individualentschädigungen in Höhe von 48,5 Milliarden Euro geleistet. Einschließlich aller weiteren Leistungsformen wie Rückerstattung und Globalabkommen wurden bis Ende 2020 79,3 Milliarden Euro ausbezahlt.
Nastasja Pilz
Quelle: Archivnachrichten 64 (2022), Seite 38.
Ergänzende Angaben:
Walter Vielhauer (1909-1986) war Gewerkschafter, KPD-Funktionäer und aktiver Widerstandskämpfer während des NS-Zeit. Ab 1933 war Vielhauser in Haft. Bis 1944 befand er sich in Dachau und gehörte einer dort gegründeten Geheimgruppe an. Nach deren Enttarnung und einigen Monaten Dunkelarrest erfolgte die Verlegung ins KZ Buchenwald, wo ebenfalls eine Widerstandsgruppe existierte, der Vertreter verschiedener Nationen angehörten. Im April 1945 wurde das KZ Buchenwald durch US-Truppen befreit. Im Sommer 1945 wurde Vielhauser von der US-Militärregierung als Bürgermeister in Heilbronn eingesetzt.