"Eins weiß ich noch genau, ich musste oft ohne Essen ins Bett": Erfahrungen eines Heimkindes

Beispiel eines Speiseplanes aus dem Jahr 1972, Auszug aus der Aufsichtsakte zum Kinderheim in Kelterle. Vorlage: Landesarchiv BW, AZ 022-K46 Nr. 1
Beispiel eines Speiseplanes aus dem Jahr 1972, Auszug aus der Aufsichtsakte zum Kinderheim in Kelterle. Vorlage: Landesarchiv BW, AZ 022-K46 Nr. 1

Michael Böhm ist 55 Jahre alt, IT-Techniker, verheiratet und Vater von vier leiblichen, drei Pflege- und vier Enkelkindern. Michael Böhm ist auch ein ehemaliges Heimkind. Von seiner Geburt an bis zu seinem 15. Lebensjahr verbrachte er seine Kindheit in verschiedenen Kinderheimen. Er hat viele schlechte Erinnerungen an diese Zeit und die Konsequenzen begleiten ihn bis heute.

In den letzten Jahren haben vor allem die Themen Missbrauch und Gewalt in Zusammenhang mit der Heimerziehung öffentlich Gehör gefunden und werden durch die Medien entsprechend betont. Die negativen Erfahrungen ehemaliger Heimkinder sind oftmals aber viel grundlegenderer Natur, wie beispielsweise die täglichen Mahlzeiten. Michael Böhm beschreibt das Essen im Kinderheim Tempelhof bei Crailsheim folgendermaßen:

Im Tempelhof hatten wir einen Essensplan, der leider nur einseitig war. Speiseplan darf man das nicht nennen, da es keine Speisen gab, sondern nur billiges Essen. Da dieses Kinderheim selbstversorgend war, gab es nicht viel Auswahl. Es gab fast jeden Tag Salzkartoffeln (ab und zu auch mal Kartoffelbrei) und 1–2x die Woche gebackene Leber. Es gab auch noch Einiges, besser gesagt Weniges, was man so aus Schweinefleisch herstellen kann. Was ich auch sehr eklig fand, es gab zu viel Spinat. Auch Sauerkraut stand zu oft auf dem Essensplan. […] Da der Tag durch Schule und Arbeiten (Zwangsarbeit) einen engen Zeitplan hatte, blieb auch nicht viel Zeit zum Essen. Frühs ein Marmeladenbrot oder Haferflocken mit Milch. Mittags mussten wir uns mit dem Essen beeilen und schlangen es runter, was auch zu leichten Verbrennungen im Mundraum führte. Zu oft reichte das Essen nicht aus (nur eine Portion für jeden und ein Mininachtisch) und wir mussten ‚zu oft‘ hungrig aufstehen. Weiterhin fiel der Nachtisch oft als ‚Strafe‘ aus, da ich nicht das perfekte Kind war. Ich wurde sehr häufig mit Essensentzug bestraft, besonders dann, wenn es mal was Gutes (Leckeres) gab, wie Schnitzel mit Pommes. Oder, wenn ich tagelang Zimmerarrest hatte, brachte man mir, wenn etwas übrig war, das erkaltete Essen, und es war nie viel übrig.

Die Bedeutung von gesunder und ausgewogener Ernährung war aber bereits zu Beginn der 1960er Jahre bekannt. Im Bericht über eine Ernährungsberatung im Stuttgarter Charlottenkinderheim aus dem Jahr 1962 heißt es: Nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung wird für Kinder dieses Alters durchschnittlich ein Bedarf von 60–70g Eiweiß, 45g Fett und 280g Kohlenhydrate zugrunde gelegt. Das ergibt eine Kalorienanzahl von 1800. […] Die wichtigsten Nährstoffe für das Wachstum des Kindes sind Eiweiß, Mineralstoffe und Vitamine.

Der Bericht von Herrn Böhm lässt darauf schließen, dass die Versorgung im Kinderheim Tempelhof nicht den Anforderungen an eine ausgewogene Ernährung entsprach. Es ist aber nicht nur das Was zu kritisieren, sondern auch das Wie. Die von Michael Böhm gemachten Erfahrungen, wie das Herunterschlingen, die Verletzungen im Mundbereich und der Einsatz oder Entzug von Essen als Belohnung bzw. Bestrafung leugnen die Ernährung als Grundbedürfnis des Menschen. Die Beschreibung seiner Erlebnisse ist kein Einzelfall, sondern ähnelt sehr den Berichten vieler anderer ehemaliger Heimkinder. Daher können seine Erfahrungen wohl nicht als singuläre Erscheinung im Kinderheim Tempelhof gewertet werden. Wie sich eine solche Ernährungsweise auch noch über 30 Jahre später auswirken kann, schildert Michael Böhm so:

Ich leide heute noch an massiven Essstörungen. Ich esse immer noch zu schnell und zu heiß, sodass ich mich ab und zu im Mundraum leicht verbrenne. Klar hat diese Körperregion sich auch in einer gewissen Weise daran gewöhnt. […] Nach der Heimzeit habe ich sehr viel einfach in mich hineingestopft. Meine liebe Frau hatte und hat teilweise heute noch sehr viel Geduld mit mir und ‚lehrte‘ mich richtig zu essen. Aber dennoch falle ich zu oft wieder in das alte Klischee zurück.

 Stephanie Eifert

Quelle: Archivnachrichten 53 (2016), S.28-29.

Suche