Vom „Burgfrieden " zur Novemberrevolution

Die Sozialdemokratie in Situationsberichten an das württembergische Ministerium des Innern

Mitteilung des württembergischen Landespolizeiamtes über Personenverzeichnis des sog. radikalen Sozialismus vom 14. 5. 1918 (Landesarchiv HStAS E 150 Bü 7314)
Mitteilung des württembergischen Landespolizeiamtes über Personenverzeichnis des sog. radikalen Sozialismus vom 14. 5. 1918 (Landesarchiv HStAS E 150 Bü 7314)

Verhalten der Sozialdemokratie während des Krieges, unter diesem Titel legte gleich zu Kriegsbeginn 1914 das württembergische Innenministerium eine Aktensammlung an, in der die landesweite Beobachtung der Sozialdemokraten zusammengetragen wurde. Diese an die Zeit der Sozialistengesetze erinnernden Überwachungs- und Spitzelberichte gerieten im Lauf der Kriegsjahre zunehmend auch zur Protokollierung der erbitterten Auseinandersetzung zwischen Kriegsgegnern und Befürwortern innerhalb der Sozialdemokratie.

Überragender Protagonist aufseiten der Kriegsgegner und heftigster Widersacher der sozialdemokratischen Unterstützer des Burgfriedens war Friedrich Westmeyer, Ex-Redakteur der Schwäbischen Tagwacht, Landtagsabgeordneter und vor allem Organisator des linken Parteiflügels. Was für Berlin Karl Liebknecht war, war für Stuttgart Friedrich Westmeyer, der beliebteste und am meisten gehasste Mann, wie es in einer späteren biografischen Würdigung heißt. Der mit Clara Zetkin und anderen kompromissloseste Kriegsgegner in Württemberg wurde selbst ein Opfer des Krieges, er starb im November 1917 in einem Feldlazarett an der Westfront. Nach Erhalt der Todesnachricht schrieb Rosa Luxemburg an Clara Zetkin nach Stuttgart: Westmeyer ist ein großer Verlust. Ich dachte immer, er würde noch in großen Zeiten eine Rolle spielen.

Diese Rolle sollten andere spielen, und zunächst nicht in der Hauptstadt Stuttgart, sondern in der südlichen Provinz Württembergs. Es waren die Rüstungsarbeiter in Friedrichshafen, die im Oktober 1918 in einer Großdemonstration ein Ende des Krieges forderten. Die Antikriegswelle erfasste auch Stuttgart, radikalisierte sich, erzwang die Abdankung von König Wilhelm II. und mündete in die Bildung des Volksstaats Württemberg.

In den Akten des Innenministeriums spiegelt sich nicht nur die Entwicklung der historischen Spaltung der Sozialdemokratie (Mehrheitssozialdemokraten, USPD, Spartakus, KPD) über die Frage der Kriegsunterstützung wider. Darüber hinaus dokumentieren sie die Abläufe von der Auseinandersetzung über den Burgfrieden, der einsetzenden Kriegsmüdigkeit bis hin zur Novemberrevolution und deren Nachwehen im Jahre 1919. So öffnet sich ein spannendes Zeitfenster zu den handelnden Akteuren und württembergischen Schauplätzen der sog. Heimatfront, mit detailreichen Schilderungen und Einzelbegebenheiten, aber auch den regelmäßigen Lageberichten und Einschätzungen des Büros für Sozialpolitik in Berlin.

Michael Hensle

Quelle: Archivnachrichten 48 (2014), S.19.

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