Perspektiven der Forschung

von Hans-Walter Schmuhl

Repros von Postkarten, die von Verschickungskindern nach Hause geschickt wurden. Detail der im November 2023 auf dem Kongress in Bad Salzdetfurth vom „Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V.“ präsentierten Ausstellung [Quelle: Corinna Keunecke, Landesarchiv Baden-Württemberg]
Repros von Postkarten, die von Verschickungskindern nach Hause geschickt wurden. Detail der im November 2023 auf dem Kongress in Bad Salzdetfurth vom „Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V.“ präsentierten Ausstellung [Quelle: Corinna Keunecke, Landesarchiv Baden-Württemberg]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Mittlerweile liegt eine ganze Reihe wichtiger Studien zum Kinderkurwesen in der Bundesrepublik Deutschland vor. Wie könnte es mit der Forschung weitergehen?

1. Die vergleichenden Perspektiven sollten weiter ausgedehnt werden. Wichtig wäre, die Forschungen, die sich zumeist auf eine Einrichtung, einen Einrichtungsträger, eine Entsendestelle, einen Kostenträger, einen Ort oder eine Region fokussieren, miteinander zu vernetzen, Foren des Austauschs zu schaffen, die vielen Einzelbefunde aufeinander zu beziehen, um zu verallgemeinernden Aussagen in vergleichender Perspektive zu gelangen. Gab es Unterschiede zwischen einzelnen Heimen und/oder zwischen verschiedenen Heimträgern – etwa zwischen Heimen in privater Trägerschaft, Heimen der Diakonie und Caritas und Einrichtungen öffentlicher Träger? Wie stellen sich verschiedene Heimtypen, etwa Erholungsheime und Heilstätten, im Vergleich dar? Ein Desiderat ist auch ein systematischer deutsch-deutscher Vergleich, auf lange Sicht könnten Vergleiche auf internationaler Ebene möglich werden.

2. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, weiter in die Geschichte zurückzugehen und die tieferen Wurzeln des Kinderkurwesens in Deutschland freizulegen. Das gilt etwa im Hinblick auf das Konzept insbesondere der Kindererholungskuren, das sich seit dem späten 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Hier überrascht der starke pädagogische, man könnte auch sagen: psychagogische Impuls, der sowohl aus der Bäderheilkunde als auch aus der Kinderheilkunde in das Kurkonzept einfloss. Dabei schwingen Zivilisationskritik, Antimodernismus und Großstadtfeindschaft mit, Ideen aus der Lebensreform- und Wandervogelbewegung scheinen auf. Das machte das Kinderkurkonzept anschlussfähig für völkische Milieus und auch für den Nationalsozialismus. Diese Ideengeschichte der Kinderkuren genauer zu untersuchen, erscheint lohnenswert.

3. Kontinuitätslinien, die vom Nationalsozialismus über die Epochenzäsur von 1945 hinweg in die frühe Bundesrepublik hineinreichen, sollten näher in den Blick genommen werden. Das betrifft zum einen personelle Netzwerke, etwa bei den in den Kurheimen tätigen Ärzten und Ärztinnen, Jugendleiterinnen oder Betreuerinnen. Zu fragen wäre auch nach Kontinuitätslinien in den Erziehungspraktiken – zu diesem Zweck müsste man die Forschungen zur Hitlerjugend und zum BDM, zur Kinderlandverschickung, vielleicht auch zum Reichsarbeitsdienst, ganz allgemein zur Sozialform des nationalsozialistischen Lagers mit heranziehen.

4. Die Kinderkurheime sollten in einem größeren Kontext betrachtet werden. Sie reihen sich ein in ein breites Spektrum „anderer Orte“ – wie sie der französische Soziologe Michel Foucault genannt hat –, exterritorialer Räume, in die Menschen abgeschoben wurden, die aufgrund von körperlicher oder geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung, abweichendem Verhalten oder Delinquenz nicht in die herrschende gesellschaftliche Ordnung passten. Die Forschung zum Kinderkurwesen lässt erkennen, dass dieser Anstaltskosmos sehr viel größer war, dass sehr viel mehr Menschen als bisher angenommen in Kontakt mit diesen Sonderwelten gekommen sind. Daraus ergibt sich die Frage, welche Rückwirkungen diese fast schon kollektive Erfahrung auf die gesellschaftliche Ordnung hatte – dienen die „anderen Orte“ im Sinne Foucaults doch immer auch der gesellschaftlichen Disziplinierung, indem sie als stete Drohung im Raum stehen, sich konform zu verhalten. Es ist von daher nur folgerichtig, dass die „Schwarze Pädagogik“ und ihre Auswirkungen auf mehrere Generationen von Kindern und Jugendlichen in der frühen Bundesrepublik jetzt wieder stärker in den Fokus des Forschungsdiskurses geraten sind. Dazu ist ein disziplinenübergreifender Diskurs notwendig – Geschichtswissenschaft, Soziologie, Pädagogik und Psychologie müssen zusammenwirken, um hier voranzukommen.

5. Die unwürdige Behandlung, die Kinder während der Kur erfahren mussten, führte in vielen Fällen zu nachhaltigen Verletzungen des Selbst, die bei den Betroffenen mit einem wahren Gefühlssturm verbunden waren: Bestürzung, Schmerz, Angst, Verwirrung, Wut, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, vor allem aber eine tiefe Scham, die sich zu einem überwältigenden „Gefühl der absoluten Verworfenheit“ (Léon Wurmser) steigern und tief in das emotionale Gedächtnis einbrennen kann. Es stellt sich die Frage, wie sich die durch den Kuraufenthalt verursachte traumatische Scham ausgewirkt hat, welche Erinnerungen hinter einer Wand von ohnmächtiger Sprachlosigkeit eingekapselt wurden und wie sich solche Leerstellen auf die Biographie auswirkten – vielleicht sogar bis in die nächste Generation hinein? Bei der Lektüre der wenigen Beiträge zu einer Geschichte der Scham fällt auf, dass nicht selten ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen der Erfahrung des Nationalsozialismus und seines Zusammenbruchs und einem starken Schamgefühl. Bundespräsident Theodor Heuss knüpfte in einer viel beachteten Rede am 7. Dezember 1949, in der er, in Abgrenzung gegenüber der These einer Kollektivschuld, von einer Kollektivscham der Deutschen sprach, an diese Grundstimmung an. Gab es bereits in der Generation der Eltern der Verschickungskinder schambesetzte Leerstellen? Entwickelte sich aus dem Zusammentreffen starker, mit Diktatur, Krieg und Kapitulation verbundener Schamgefühle auf Seiten der Eltern und durch die Kur ausgelösten Schamgefühlen auf Seiten der Kinder vielleicht eine unheilvolle Wechselwirkung?

6. Hier schließt sich die Frage nach der Resilienz an: Warum haben manche Verschickungskinder die Kur als schweres Trauma erlebt, das sich auf ihr ganzes weiteres Leben auswirkte, während andere sich kaum noch oder gar nicht mehr an ihre Kur erinnern, wieder andere positive Erinnerungen daran haben? Eine These lautet, dass Kinder, die bereits vor der Kur keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten, besonders intensiv und dauerhaft unter den leidvollen Erfahrungen der Kur litten. Gab es keine vertrauensvolle kommunikative Ebene zwischen Eltern und Kindern, verstanden die Kinder nicht, warum sie zur Kur geschickt wurden – sie betrachteten sich als abgeschoben, ausgegrenzt, nicht mehr gewollt. Nicht wenige waren davon überzeugt, dass sie nie wieder in ihr Elternhaus zurückkehren könnten. Während der Kur fühlten sich solche Kinder in besonderem Maße verlassen und ausgeliefert – sie hatten keine Hoffnung auf Rückkehr in ihre vertraute Welt. Nach der Kur herrschte, wenn die Kinder keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten, in den Familien Sprachlosigkeit. Die Kinder wagten es oft nicht, über ihre leidvollen Erfahrungen zu sprechen, mussten auch erleben, dass ihnen nicht geglaubt wurde. Das Vertrauensverhältnis zu den Eltern war nachhaltig gestört, bestimmte Beziehungsmuster hatten sich eingeschliffen und wirkten weiter fort. Kinder mit sicherer Bindung erzählten zu Hause eher von erlittenem Leid, erfuhren Trost, Zuwendung und Solidarität, etwa wenn sie mitbekamen, dass die Eltern sich beschwerten. Das konnte es ihnen erleichtern, ihre leidvollen Erfahrungen zu verarbeiten.

7. Welche Veränderungen sind über die Zeit hinweg bei den Kinderkuren feststellbar? Wie wirkten sich die Zäsur von 1968, die neuen sozialen Bewegungen der 70er-Jahre, die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit, die wachsende mediale Aufmerksamkeit, die neuen pädagogischen Ansätze, das Nachrücken einer neuen Generation von Betreuerinnen und Betreuern, die veränderte Haltung der Eltern, die Durchsetzung des Züchtigungsverbots in den Schulen auf die Kinder- und Jugendkuren aus? Es scheint lohnend, die 70er-, 80er-Jahre stärker in den Blick zu nehmen. Zu fragen wäre, welche Faktoren den Wandel verursachten, begünstigten, beschleunigten und welche Faktoren ihn hemmten.

Literatur

  • Foucault, Michel, Von anderen Räumen (1967), in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne/Stephan Günzel, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2012, S. 317-327.
  • Marks, Stephan, Scham. Die tabuisierte Emotion, Ostfildern 2021.

Zum Autor: Dr. Hans-Walter Schmuhl ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und freiberuflicher Historiker. Er hat verschiedene Arbeiten über geschlossene Heime für Menschen mit Behinderungen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Fürsorgeerziehung sowie über Kinderkurheime veröffentlicht.

Zitierhinweis: Hans-Walter Schmuhl, Perspektiven der Forschung, URL: […], Stand: 21.02.2024.

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