Der Dreisprung

von Boris Lysyi

Zum ersten Mal und für längere Zeit verließ ich meine geliebte Heimat, die Stadt Belogorsk, die der Oblast Amur angehört. Der Grund dafür war, dass ich einen Aufruf dazu erhalten hatte, in die sowjetische Seekriegsflotte einzutreten. Nachdem ich meinen Dienst abgeleistet hatte, ging ich an die Hochschule für Körperkultur und Sport in Chabarowsk.

Doch die Zeit rückte an und ich machte einen zweiten Sprung, und zwar aus dem Fernen Osten in die Ukraine, in die Heimat meiner Eltern. Ausgerechnet in der Ukraine erhielt ich zum ersten Mal das Angebot, die Sowjetunion zu verlassen und wegzufahren - natürlich nach Israel. Dieses Angebot kam nicht nur einmal auf. In Browary, das bei Kiew liegt und in dem ich über 30 Jahre lang gelebt hatte, wurde eine jüdische Gemeinde gegründet (bis zum Krieg waren in Browary um die 30 Prozent der Einwohner Juden, aber...) und wir beteiligten uns mit der ganzen Familie aktiv am Leben der Jüdischen Gemeinde Browary. Meine Frau Sinaida leitete dort Klubs für Familien und Kinder, Seminare und Kurse über die Traditionen des jüdischen Volkes. Sie nahm an großen Projekten des ukrainischen Judentums teil und organisierte Festivals. Diese Liste mit den Etappen unseres jüdischen Lebens in der Gemeinde Browary ist noch lange nicht vollständig. Mit der Zeit wurde immer dringender die Erkenntnis: WIR FAHREN WEG.

Und so fuhren wir los, oder besser gesagt, machten den dritten Sprung, diesmal aber mit der ganzen Familie sowie mit der Familie unseres Sohnes Dmitri und der Familie meines Neffen Konstantin – eine „kleine“ Mannschaft, bestehend aus neun Personen. Als der Leiter der Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge in Karlsruhe um 7 Uhr morgens dort aufgetaucht war, fasste er sich erst einmal an den Kopf: Die komplette Eingangshalle des Gebäudes für Flüchtlinge stand voll von diesen gigantischen, karierten Taschen, die damals so in Mode waren. Maximal zwei Taschen pro Person waren gestattet. „Wo ist mein Ritalein?“, rief der Leiter der Aufnahmestelle, umarmte meine Tochter und ging mit uns in sein Büro, um die Dokumente für unsere Aufnahme auszustellen. Er kannte Leonid Korogodskij und wusste von ihm, dass unsere Tochter Deutsch spricht. Ich möchte noch hinzufügen, dass der „Schuldige“ dafür, dass wir im wunderschönen Heidelberg gelandet sind, genau dieser Leonid ist, der früher unser Nachbar in der Ukraine war. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

Die Jüdische Kultusgemeinde Heidelberg hat uns freundlich und frohherzig aufgenommen. Dr. Vadim Galperin, der Vorstandsvorsitzende der Gemeinde, empfing uns im Vorstandsraum und machte uns kurz bekannt mit dem Leben und dem Alltag in der Gemeinde. In unserem Gespräch stellte sich heraus, dass er in Swobodny in der Oblast Amur seinen Wehrdienst abgeleistet hat - derselben Stadt, in der auch der Autor dieses Artikels das Licht der Welt erblickt hat.

Und so lebten wir nun unter hervorragenden Konditionen - fünf Zimmer für neun Personen waren absolut ausreichend. Unsere Leute, die in der Hochphase der Einwanderungszeit nach Deutschland eingereist waren, erzählten uns, dass sie mit mehreren Familien in einem Zimmer wohnen mussten. Wir waren also in einem Übergangswohnheim. Wir machen uns vertraut mit unserer Umgebung und der ganzen Architektur. Dabei ereigneten sich kuriose Dinge. Einmal ist mein Sohn Dmitri mit seinem Sohn Borja, damals noch keine vier Jahre alt, spazieren gegangen und sah dabei ein paar Kinder spielen, nicht weit von dem Wohnheim entfernt. „Borja“, sagte Dima, „geh und spiel mit den Jungs!“ Borja lief zu den Jungs, kehrte aber schnell wieder zurück. „Was ist los, Borja?“ „Sie können nicht sprechen!“, antwortete der Junge. In der dritten Klasse jedoch sagte Borja ganz überzeugt, dass er von allen aus der ganzen Schule am besten die jeweiligen Artikel „der, die, das“ kennt.

Ein paar Worte dazu, wie uns die damalige Sozialarbeiterin unserer Gemeinde, Natalia Vronska, unterstützte. Mit Rücksicht auf unsere mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache half sie uns bei der Antragstellung. Sie arbeitete gemächlich, doch dafür genau, und erklärte uns bürokratische Sachverhalte. Dadurch gelang uns in kurzer Zeit die Registrierung und wir erhielten ein paar lebensnotwendige Dinge wie Bettsachen, Geschirr und Ähnliches. Ausländeramt, Bürgeramt, Jobcenter und andere Behörden haben wir mit ihrer Hilfe schnell und ohne Probleme durchlaufen. Und überhaupt: Man griff uns unter die Arme gleich nach unserer Ankunft in Deutschland. Auch heute können wir bei der Antragstellung auf die fachmännische Hilfe des jetzigen Sozialarbeiters der Gemeinde, Walter Wenz, zählen.

Für die Erhaltung der Ordnung und die Geschäftsführung sind unsere Mitarbeiter Herr Weis und Herr Bychovski verantwortlich. Wenn wir festliche Veranstaltungen abhalten, haben wir die Möglichkeit, ganz köstliche Gerichte zu schlemmen, zubereitet in einer echten koscheren Küche von wahren Meisterinnen ihres Faches. All dies geschieht natürlich unter unablässiger Aufsicht durch unseren Rabbiner Janusz Pawelczyk-Kissin. Er sorgt außerdem dafür, dass die Traditionen und religiösen Rituale des Judentums eingehalten werden, was ein großer Verdienst ist. In unserer alten Heimat kannten die meisten von uns nur vom Hörensagen etwas über das religiöse Leben der Juden, uns fehlte das Wissen. Hier in Heidelberg bauen wir darauf, was unser Volk bis heute am Leben erhalten hat: Die Bewahrung der jüdischen Traditionen.

Irgendwie haben wir uns wirklich schnell in das Gemeindeleben eingegliedert. Nach Möglichkeit kommen wir in die Gemeinde am Sabbat, zu religiösen und auch weltlichen Festlichkeiten. Mit großer Freude nehmen wir an Reisen durch Deutschland und Europa teil, die in der Gemeinde organisiert werden. Wir wären wahrscheinlich niemals nach Israel gekommen, doch dank unserer Gemeindeleitung hatten wir das Glück, das gelobte Land besuchen zu können. Der Vorstand spielt natürlich eine gewichtige Rolle bei der Organisation aller Bereiche unseres interessanten und vielfältigen Lebens.

Im ersten Jahr unseres Aufenthalts widmete ich mich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung, nämlich Leute im Boxkampf zu trainieren. Im Alter von 66 Jahren erhielt ich meine Lizenz, um Boxunterricht geben zu dürfen. Ich trainierte Leute, die Preise gewannen, in Wettkämpfen siegten, die in Deutschland und Baden-Württemberg schon oben auf dem Siegertreppchen standen. Ich leite den Sportverein „SC Makkabi“, bin Mitglied des Gemeindevorstandes und Chefredakteur der Gemeindezeitschrift „Schalom Heidelberg“. Bei allen meinen Vorhaben bekomme ich von meiner Familie Unterstützung und Verständnis.

„Ihr habt Glück - ihr lebt in einer wundervollen Stadt“ - sagte mal eine Freundin von uns, die jetzt in Köln lebt. Wir haben in unserer Gemeinde viele interessante Leute gefunden, die mit uns geistesverwandt sind, die bereit sind zu helfen, zu unterstützen und zu beraten - und auch wir versuchen, ihnen dasselbe zurückzugeben. [1]

Anmerkungen

[1] Dieser Text entstand im Jahr 2019 für die Publikation „25 Jahre. Neue Synagoge mit Gemeindezentrum Heidelberg“, herausgegeben von der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg.

Zitierhinweis: Boris Lysyi, Der Dreisprung, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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