Bad Mergentheim mit Unterbalbach
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Der Deutsche Orden fasste in Mergentheim schon früh Fuß. 1219 begründete er hier eine Kommende. 1340 erlangte er für seinen Markt Mergentheim, mit dessen Befestigung er zehn Jahre zuvor begonnen hatte, von Kaiser Ludwig dem Bayer Stadtrecht. Mergentheim blieb bis 1809 im Besitz des Deutschen Ordens und fiel dann an Württemberg. Es war seit 1526 Sitz des Deutschmeisters, der nach dem übertritt Albrechts von Preußen zum evangelischen Glauben auch das Amt des Hochmeisters bekleidete.
Die erste Ansiedlung von Juden in Mergentheim geht ins 13. Jahrhundert zurück. Das Nürnberger Memorbuch berichtet, dass hier während der von dem fränkischen Ritter Rindfleisch ausgelösten Verfolgungen am 30. Juni 1298 16 Juden erschlagen wurden. 1312 werden wieder Juden genannt. 1336 brach eine neue Verfolgung über die hiesige jüdische Gemeinde herein. Der Deutschmeister Wolfram von Nellenburg wollte Mergentheim für die Ermordung der Juden bestrafen. Die Stadt vermochte jedoch am 28. Oktober 1336 ein Privileg von Kaiser Ludwig dem Bayer zu erlangen, worin dieser verfügte, dass die Bürger von Mergentheim für die Missetat, die sie an seinen Kammerknechten, den Juden, verübt hätten, nur von ihm selbst zur Rechenschaft gezogen werden sollten. 1341 erlaubte der Kaiser dem Komtur und dem Deutschen Haus in Mergentheim, hier fünf sesshafte Juden zu haben und zu behalten. Der furchtbare Judenpogrom im Gefolge des Schwarzen Todes forderte im Jahr 1349 auch in Mergentheim seine Opfer. Zahl und Namen der Erschlagenen sind nicht bekannt. 1355 ließ sich der Deutschmeister Philipp von Bickenbach das Privileg von 1341 bestätigen. In den nächsten hundert Jahren brachten es einige Mergentheimer Juden durch ihre Tätigkeit im Geldgeschäft zu großem Reichtum: 1385 musste der Jude Abraham für seine Freilassung aus der Haft der Reichsstadt Rothenburg die riesige Summe von 11.000 Gulden bezahlen, wobei Ulrich von Hohenlohe die Bürgschaft für 9.700 Gulden übernahm und dafür die Stadt Weikersheim mit Zubehör verpfändete, die bis dahin Abraham innegehabt hatte. 1387 machte Isaak Süßkind beim Landrichter in Rothenburg eine Forderung von 100 Mark Silber geltend und wurde damit auf dessen vom Johanniterorden käuflich erworbene Mergentheimer Herrenmühle verwiesen. 1459 zahlte der Deutschmeister Ulrich von Lentershagen dem Juden Smahel ein Darlehen in Höhe von 1.200 Gulden zurück, das dieser dem Deutschen Orden eingeräumt hatte. Die Zahl der im 14. und im 15. Jahrhundert in Mergentheim ansässigen Juden war wohl stets sehr gering.
Auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1495 verlieh Kaiser Maximilian dem Deutschen Orden das Regal, künftig ständig Juden halten zu dürfen. Es war damit ins Ermessen des Ordens gestellt, wie vielen Juden er die Niederlassung in seinem Territorium gewähren wollte. Die Zahl der Juden in Mergentheim blieb aber weiterhin sehr beschränkt. 1516 wohnte hier nur ein Jude, Seligmann, in der Burggasse. 1530 durften sich Benedikt und sein Schwiegersohn Salomon mit ihren Familien und ihrem Gesinde in der Stadt niederlassen und ein Haus erwerben. Sie waren, solange sie hier wohnten, den christlichen Bürgern rechtlich gleichgestellt. Es wurde ihnen jedoch verboten, auf Wucher zu leihen, Kirchengeräte oder ungedroschene Frucht als Pfänder anzunehmen und Geld darauf zu leihen, ebenso ohne Wissen der Herrschaft mit Ordensuntertanen Handel zu treiben oder Verträge abzuschließen. Auf die Beschwerden der Untertanen erließ der den Juden wenig günstig gesinnte Deutschmeister Walter von Cronberg im Jahr 1540 auf dem Reichstag zu Augsburg ein Mandat, das gedruckt und an die Komture und Amtsleute verteilt wurde. In dem Mandat verbot der Deutschmeister allen Ordensangehörigen und Untertanen, von Juden etwas zu entleihen, mit ihnen Handel zu treiben, Güter oder Gerechtsame an sie zu verpfänden oder ihnen irgend etwas zu verschreiben. Zwei Jahre später erwirkte der Deutschmeister von König Ferdinand ein Dekret, das dieses Verbot wiederholte, und 1545 ein in seinen Bestimmungen noch strengeres. Diese Privilegien gegen den Judenwucher wurden später noch mehrfach bestätigt. 1559 schrieb eine kaiserliche Verordnung vor, dass die Juden zu ihrer „besseren Erkenntnis" einen gelben Ring am Rock oder an der Kappe allenthalben unverborgen tragen sollten.
Die Mergentheimer Juden befassten sich jedoch nicht ausschließlich mit Geld- und Handelsgeschäften. 1575 bis 1579 war hier Dr. Moses Lucerna als Hof- und Stadtarzt tätig. Auch im 16. und 17. Jahrhundert waren stets nur wenige jüdische Familien in der Stadt ansässig. Ihre Namen wechselten häufig. Sie wohnten zumeist in der Holzapfelgasse, der späteren Judengasse.
Mitte des 16. Jahrhunderts räumte das Mergentheimer Patriziergeschlecht der Süzel den Juden in Mergentheim und den umliegenden Orten einen ¼ Morgen großen Begräbnisplatz zu Unterbalbach gegen einen bestimmten Pachtzins ein. Als nach dem Aussterben der Süzel der Deutsche Orden Unterbalbach erworben hatte, gestattete er 1590 den Juden die Benutzung des Friedhofs gegen einen Jahreszins von 16 Gulden und erlaubte darüber hinaus seinen jüdischen Schutzverwandten zu Mergentheim, lgersheim, Markelsheim und Unterbalbach, auch „auswärtige und fremde Glaubensgenossen" dort beisetzen zu dürfen. Im 17. und 18. Jahrhundert fanden demzufolge auf dem Friedhof, der mehrfach vergrößert wurde (1702 z.B. um 4 Morgen), auch „fremdherrische" Juden aus Orten wie Weikersheim, Laudenbach, Stetten, Mulfingen, Hollenbach, Hohebach usw. ihre letzte Ruhestätte. Der Orden erhob von den Judenleichen, die sein Gebiet passierten, Zoll. Die Beerdigung von Juden war mancher Beschränkung unterworfen. So durften Beisetzungen an christlichen Sonn- und Feiertagen nur bei Nacht erfolgen. Im 18. Jahrhundert wurde der Friedhof wiederholt geschändet, so dass die Juden beim Deutschmeister um die Erlaubnis einkamen, dort ein Wachthaus errichten zu dürfen. Um 1730 legten die Weikersheimer Juden mit Genehmigung von Graf Ludwig von Hohenlohe sehr zum Missfallen des Deutschen Ordens und der Mergentheimer Juden einen eigenen Friedhof an, den die Juden in Laudenbach und anfänglich auch die Juden in Niederstetten mitbenutzten. Die Weikersheimer gaben als Gründe für ihren Entschluss an, sie wollten nicht auch noch den neuen Mergentheimer Obervorgänger Noe Samuel Isaak als ihren Vorgänger [etwa geistliches Oberhaupt] anerkennen und zu seinem Gehalt beitragen, nachdem sie bisher schon bei jedem Begräbnis in Unterbalbach eine Rekognitionsgebühr und den dreifachen Durchgangszoll hätten entrichten müssen. Der Unterbalbacher Friedhof, seit 1810 im badischen Staatsgebiet gelegen, blieb bis in die Zeit des Nationalsozialismus der Begräbnisplatz der Mergentheimer Juden. Er ist einer der größten, ältesten und eindrucksvollsten israelitischen Friedhöfe unseres Landes.
1621 hatte jeder Mergentheimer Jude jährlich 4 Gulden fränkisch Schutzgeld zu entrichten. 1628 waren es 10 Reichstaler. Nach dem Schutzbrief, den der Hoch- und Deutschmeister Caspar von Stadion in jenem Jahr erteilte, durften die Juden nur die notwendigen Ehehalten [= Dienstboten] und Brötlinge [= Rabbiner, Lehrer usw., deren Lebensunterhalt die Schutzjuden zu bestreiten hatten] halten, keinen fremden Glaubensgenossen länger als acht Tage ohne ausdrückliche Erlaubnis der Herrschaft beherbergen, verheiratete Kinder nicht länger als ein Jahr bei sich behalten, keine christlichen Säugammen haben, während sie Fronen, Steuern, Schatzung, Anlag und dergleichen Beschwerungen wie die Ordensuntertanen tragen mussten.
Klagen der Mergentheimer Bürgerschaft, insbesondere der Krämer und der Handelsleute, über die Konkurrenz der Juden waren nicht selten. Es fehlte auch nicht an Anschuldigungen wegen angeblicher Missachtung des christlichen Glaubens und der kirchlichen Zeremonien. Während der Besetzung der Stadt durch die Schweden 1631-34 hatten die jüdischen Einwohner nicht unwesentlich (3 Gulden pro Kopf und Woche) zu der Mergentheim auferlegten Kontribution beizutragen. Nach Kriegsende verfügte der Statthalter, dass die Judenschaft die von der Stadt und dem Orden zu entrichtenden rückständigen Schweinfurter Festungsbaugelder zusammenzubringen und herzuleihen habe. 1658 erhielten die Juden, die damals in der Stadt mehrere eigene Häuser besaßen, die Erlaubnis zum Bau einer Synagoge. 1663 verfügte der Hochmeister Caspar von Ampringen, der, wie er später einmal äußerte, zunächst gesonnen gewesen war, „Gott zu Ehren die Judenschaft zu kassieren", die Juden sollten alle Sonn- und Feiertage wie in Rom eine christliche Predigt hören und den dazu verordneten Prediger bezahlen, oder aber ein für alle Mal 1.000 Gulden zur Renovation der Stadtkirche oder alljährlich für diesen Zweck 100 Gulden entrichten. Bei den in regelmäßigen Zeitabständen (meist 10 Jahre) gegen bestimmte Gebühren vorgenommenen Erneuerungen ihrer Schutzbriefe hatten sie zu geloben, dass sie niemals von christlichen Glaubensdingen reden, sich an Sonn- und Feiertagen, besonders jedoch in der Woche von Palmsonntag bis Ostern, still und eingezogen verhalten wollten. Zusammen mit den jüdischen Einwohnern von Edelfingen, Igersheim, Markelsheim und Ailringen hatten sie elf herrschaftliche Jagdhunde und die nötigen Postpferde zu halten sowie einen Teil des Gehalts des Mergentheimer Postmeisters aufzubringen. Von allen Juden, die die Stadt betraten, wurde ein sog. Judenzoll bzw. Weg- und Pflastergeld erhoben, dessen Höhe sehr unterschiedlich bemessen war, je nachdem ob es sich um einen schutzverwandten oder einen „fremdherrischen" Juden, um einen Fußgänger oder Reiter handelte.
Immer wieder versuchten die Mergentheimer Zünfte, den Handel der Juden einzuschränken oder ganz zu unterbinden. Die „Gravamina der Stadt Mergentheim wider die Juden" von 1646, die 1657 eine Art Zweitauflage erlebten, legen darüber ein beredtes Zeugnis ab. 1657 forderte die Bürgerschaft, die Juden sollten unter einem Rauch, d. h. in einem Haus, wohnen, beim Absterben der Alten dürften keine Jungen mehr in die Stadt aufgenommen werden. Die Proteste fanden aber bei der Deutschordensregierung wenig Gehör. Immerhin bewirkten sie, dass die Juden wieder besondere Kennzeichen tragen mussten. 1695 erhielten die Mergentheimer Juden die Erlaubnis, in Anbetracht der kriegerischen Zeiten bei ihren Reisen zu Pferd Pistolen mitführen zu dürfen.
1700 zählte die Stadt 40 jüdische Einwohner. 1704 waren folgende Juden ansässig: Calman Model, Hirsch Manasses, Hertz, Moyses, Wolf und die Mutter von Moyses. Die Abgaben, die die jüdischen Schutzverwandten von ihrem Handel damals an das Kontributionsamt der Stadt entrichteten, beliefen sich auf die ansehnliche Summe von 3.600 Gulden. In dem Schutzbrief, den der Hoch- und Deutschmeister Franz Ludwig Pfalzgraf bei Rhein 1705 ausstellte, wurde das Schutzgeld von 10 auf 15 Reichstaler erhöht, den Juden der Handel mit Korn, Wein, Vieh, Pferden usw. ohne Einschränkung, dagegen der Handel mit Gewürzen und Spezereien nur viertel-, halb- und zentnerweise, nicht aber lot- oder pfundweise erlaubt.
Sie hatten den Kauf und Verkauf der herrschaftlichen Pferde zu übernehmen. 1750 gestattete der Hoch- und Deutschmeister den Aufenthalt von 16 jüdischen Familien in der Stadt.
Für den Deutschen Orden erlangten im 18. Jahrhundert einige Juden als Bankiers und Großkaufleute eine große Bedeutung: In den zwanziger und dreißiger Jahren war es der Mergentheimer Obervorgänger Noe Samuel Isaak, der auch im Dienst der Herzöge von Bayern stand, im Salz- und Weinhandel zwischen Württemberg und Bayern eine wichtige Rolle spielte und Beziehungen zu dem württembergischen Geheimen Finanzrat Süß Oppenheimer unterhielt. Noe gehörte zu den Unternehmern großen Stils. Über seine Glaubensgenossen soll er wie ein Diktator geherrscht haben. Seinen Bruder, Michael Isaak, und dessen Sohn, David Michael Isaak, der zugleich Noes Schwiegersohn war, ernannte der Hoch- und Deutschmeister Clemens August Herzog zu Bayern 1740 bzw. 1744 zu Hoffaktoren des Deutschen Ordens. Ihnen folgte 1761 der aus Oedheim stammende Baruch Simon, der hier ein Haus erwarb und in der israelitischen Gemeinde zu hohem Ansehen gelangte. 1784 übersiedelte er als Hofbankier des Hochmeisters Maximilian, der zugleich Kurfürst von Köln war, nach Bonn, kehrte aber später nach Mergentheim zurück und starb hier hochbetagt im Oktober 1802. Baruch Simon, auch Baruch Bonn, war der Großvater des Schriftstellers Heinrich Börne (1786-1837), der als einer der Führer des „Jungen Deutschland" politisch wie literarisch im Geistesleben seiner Zeit eine geachtete Stellung einnahm. Börne weilte als Knabe öfters im Haus des Großvaters in Mergentheim.
Die Juden im Deutschordensgebiet besaßen im 18. Jahrhundert unter der Aufsicht der Regierung eine lockere Landesorganisation. Bereits 1728 war in Mergentheim ein Landesrabbiner angestellt, dem zugleich die religiöse Oberaufsicht über die Deutschordensjuden auch außerhalb der Stadt übertragen war. Von 1742 bis 1763 stand Naftali Hirsch Katzenellenbogen, der 1800 als Oberrabbiner von Mannheim starb, als Rabbiner den Deutschordensjuden im Tauber- und Neckarkreis vor. Seine Nachfolger in Mergentheim waren Abraham Broda (gest. 1790), Josef ben David Gersfeld (1790-99) und Salomon Kohn (1801-11). Die israelitische Gemeinde Mergentheim besaß das Recht der freien Religionsausübung. Sie durfte mit Zustimmung der Regierung Rabbiner, Vorsänger, Schulmeister und Beschneider anstellen, die als Brötlinge der Judenschaft vom Schutzgeld befreit waren. Die Rabbiner hatten eine beschränkte Jurisdiktionsgewalt inne (Richter erster Instanz für Juden; zweite Instanz war seit 1784 das Mergentheimer Judenamt). Die Söhne und Töchter der Schutzjuden, die sich verheirateten, hatten für sich um den Schutz nachzusuchen. Ende des 18. Jahrhunderts genossen sie fremden Juden gegenüber einen Vorzug, da sie in der Residenz Mergentheim nur ein Vermögen von 1.500 Gulden, auf dem Land von 1.000 Gulden nachweisen mussten, jene aber 3.000 Gulden bzw. 2.000 Gulden. In Handel und Wandel waren sie den christlichen Untertanen gleichgestellt. Sie mussten seit 1737 ihre Schuldbücher in deutscher Sprache führen. Handelsgeschäfte jeder Art waren der zuständigen Behörde anzuzeigen und von dieser zu protokollieren.
Nach der Annexion Mergentheims durch Württemberg (1809) änderte sich an den bestehenden Verhältnissen zunächst nur wenig. Als Rabbiner wirkten Hirsch Levi Kunreuther (1813-19) und Moses Schach (1819-28). Bei der Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg 1828/32 behielt Mergentheim sein Rabbinat, das nunmehr die Gemeinden Mergentheim, Wachbach, Edelfingen, Igersheim und Dörzbach umfasste. Es blieb bis zum Jahr 1939 Rabbinatssitz. In diesem Jahr wurde auch die israelitische Gemeinde Mergentheim aufgelöst. Dem Rabbinat standen vor: Salomon Wassermann (1835-56), Dr. Max Sänger (1856-67), Samson Gunzenhauser (1867-93), Dr. Hirsch Sänger (1893-1909), Dr. Moritz Kahn (1910-39).
Die israelitische Gemeinde Mergentheim erlebte im 19. Jahrhundert einen Aufschwung. 1799 zählte die Stadt 90 jüdische Einwohner, 1810 79, 1824 107, 1831 110, 1843 98, 1854 115, 1869 176, 1886 250, 1900 276, 1910 271 und 1933 196.
Aus dem Ersten Weltkrieg kehrten fünf jüdische Bürger nicht zurück: Max Falk, Max Pappenheimer (Fliegerleutnant, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse und der Württ. Goldenen Verdienstmedaille), Moritz Schloß, Bernhard Sichel und Max Strauß.
Die 1658 erbaute und 1762 erweiterte Synagoge blieb der Mittelpunkt des Gemeindelebens bis 1938. Die Chewra-Kadischa-Bruderschaft (gegründet 1798), die ihren Mitgliedern Pflege der Kranken, Geleiten der Toten zum Bezirksfriedhof nach Unterbalbach auferlegte, erfreute sich bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1939 hohen Ansehens. Neben ihr bestanden einige weitere karitative Vereine wie der Israelitische Frauenverein.
Nach der Emanzipation im 19. Jahrhundert erlangten die jüdischen Bürger rasch im öffentlichen wie im wirtschaftlichen Leben der Stadt einen geachteten Platz. Das althergebrachte Misstrauen der christlichen Bürgerschaft gegen die Juden verschwand. 1933 bestanden u. a. folgende jüdische Geschäfte und Unternehmen: Kunstdüngerhandlung Fa. Adler u. Co.; Mehl- und Getreidehandlung Hermann Adler; Getreide- und Landesproduktenhandlung Justin Edelstein; Großschlächterei David und Max Fröhlich; Manufakturwarengeschäft Emil Furchheimer; Handlung für Getreide- und Mühlenfabrikate Moses Hess; Bäckerei Max Hirschhorn; Manufaktur- und Schuhwarengeschäft Sigmund Igersheimer; Handlung für Mühlenfabrikate Nathan und Sigmund Ostheimer; Haushaltswarengeschäft Sally Prager; Metzgerei Jakob Salomon; Manufakturwarengeschäft Bernhard Strauß; Einheitspreisgeschäft Siegfried Weil; Lederhandlung Hirsch Westheimer; Branntweinbrennerei Würzburger; Textilgeschäft Ignaz Eichenbronner; Öl- und Fetthandlung Fisch u. Co. (Inh. Isidor Schiff). Daneben waren mehrere Vieh- und Pferdehändler ansässig. Eine gutgehende ärztliche Praxis unterhielt Dr. Hirnheimer. Um die Jahrhundertwende waren die jüdischen Firmen noch zahlreicher gewesen.
Nach 1933 ging die jüdische Bevölkerung durch Auswanderung rasch zurück. 1939 lebten noch 87 Juden in Mergentheim. Der Druck der Partei war vor allem für die jüdischen Geschäftsleute sehr bald spürbar. 1936 musste die israelitische Gemeinde für ihre Kinder eine Privatschule errichten, die bis 1940 bestand. Im Oktober 1938 wurde Lehrer Adolf Zucker, der die polnische Staatsangehörigkeit besaß, nach Polen ausgewiesen. Zu seinem Nachfolger bestimmte der Israelitische Oberrat Manfred Bernheim. In der sog. Kristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es hier zu üblen Ausschreitungen: Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden demoliert, mehrere Juden, unter ihnen der allgemein geachtete Rabbiner Dr. Kahn, schwer misshandelt. Die Inneneinrichtung der Synagoge wurde zerschlagen. Die Täter rekrutierten sich aus den Reihen der Mergentheimer SA und anderer Parteiformationen. In den Jahren 1941 und 1942 traten von hier und von anderen Orten aus 41 Mergentheimer Juden den Weg in die Deportation an, außerdem noch 11 jüdische Bürger, die erst nach dem 30. Januar 1933 hier zugezogen waren. Aus der Deportation ist niemand zurückgekehrt.
Die Thora und die übrigen Kultgegenstände hatte Spediteur Mühleck vor der Vernichtung bewahrt. Er übergab sie nach Kriegsende dem amerikanischen Armeerabbiner Dr. Kahan. Die Synagoge wurde renoviert und 1946 neu geweiht, bald aber wieder geschlossen und 1957 abgebrochen. Von der langen und wechselhaften Geschichte der Mergentheimer Juden kündet heute noch der Friedhof in Unterbalbach.
Literatur:
- Archiv Yad Washem/Jerusalem, Gemeindefragebogen 27 und 465, Bad Mergentheim.
- Baiter, Die Israeliten im wirtembergischen Franken, Württ. Franken, Bd. 5, Heft 3, 1861.
- Beschreibung des Oberamts Mergentheim, 1880.
- Bild von der Synagoge (Innenraum), in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 101.
- Ders.: Die Israeliten in Mergentheim, Württ. Franken, Bd. 8, Heft 1, 1868.
- Die Juden in Mergentheim, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs Jg. 2, Nr. 10, 15. August 1925, S. 249-253.
- Diehm, Franz, Geschichte der Stadt Bad Mergentheim, Bad Mergentheim 1963.
- Renz, Gustav Adolf, Die Juden in Mergentheim. Eine geschichtliche Darstellung, Bad Mergentheim 1943.
- Schnee, Heinrich, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 3-5, Berlin 1955, 1963 und 1965.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Bad Mergentheim, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
- Behr, Hartwig, Die Ausplünderung der Besitzer einer Viehhändler- und Großschlachterfirma – die Mergentheimer Firma David Fröhlich und Sohn. Exportschlächterei, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 383-394.
- Behr, Hartwig, Zur Geschichte des Nationalsozialismus im Altkreis Mergentheim 1918-1949, Niederstetten 2020.
- Deeg, Emil, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bad Mergentheim-Neunkirchen, in: Fränkische Nachrichten vom 1., 3. und 5. September 1980.
- Deeg, Emil, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bad Mergentheim-Neunkirchen, 1980-1985.
- Fechenbach, Hermann, Die letzten Mergentheimer Juden, 1972.
- Germania Judaica, Bd. 2, 2. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 538f.
- Germania Judaica, Bd. 3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 861-866.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Herkner, Edwin, Neunkirchen. ...die Geschichte unseres Heimatortes Neunkirchen in die Erinnerung zurückzurufen und „in ewige Gedächtnis zu stellen“, damit „die dunkle Vergangenheit sie nit verzehre“.
- Löwenstein, Leopold, Zur Geschichte der Juden in Mergentheim, in: Blätter für jüdische Geschichte und Literatur, Jg. III, (1902), S. 7-9, S. 11-14, S. 53-56, S. 81-84, S. 97-101.
- Zwischen Heimat und Exil. Der Künstler Hermann Fechenbach 1897-1986. Ausstellungskatalog 1997, hg. von Deutschordensmuseum Bad Mergentheim.