Göppingen-Jebenhausen

Bereich um den Standort der Synagoge in der heutigen Boller Str. 36 auf der Württembergischen Flurkarte, Blatt NO XVII 38 von 1828. Die israelitische Gemeinde löste sich um 1900 auf, das Gebäude wurde wenig später abgebrochen. Auf der Karte ist das jüdische Viertel von Jebenhausen wiedergegeben. [Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 68 VI Nr 1357]
Bereich um den Standort der Synagoge in der heutigen Boller Str. 36 auf der Württembergischen Flurkarte, Blatt NO XVII 38 von 1828. Die israelitische Gemeinde löste sich um 1900 auf, das Gebäude wurde wenig später abgebrochen. Auf der Karte ist das jüdische Viertel von Jebenhausen wiedergegeben. [Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 68 VI Nr 1357]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Nachdem das Dorf Jebenhausen lange zwischen Württemberg und einigen Edel­leuten (Ahelfingen, Schlath und Schechingen) geteilt gewesen war, gelangte es 1467/68 ganz in den Besitz der Freiherrn von Liebenstein. Als reichsritterschaftlicher Ort gehörte es bis zur Mediatisierung durch Württemberg im Jahr 1805 zum Ritterkanton Kocher. Jebenhausen ist seit 1939 nach Göppingen eingemeindet.

Reichsfreiherr Philipp Friedrich von Liebenstein nahm im Jahr 1777 zu relativ günstigen Bedingungen Juden in Jebenhausen auf. In dem Schutzbrief, den er den ersten aus Illereichen, Buchau, Mühringen, Gemmingen und anderen Orten Süddeutschlands stammenden Ansiedlern ausstellte, erlaubte er insgesamt 20 jüdischen Familien die Niederlassung. Das jährliche Schutzgeld betrug pro Familie 12 Gulden. Die christliche Gemeinde Jebenhausen hatte den Juden „um einen billig geringen Preis" Platz zum Häuserbau anzuweisen. Die jüdische Gemeinde entstand ghettoartig abgesondert von der christlichen, geleitet von einem eigenen Vorsteher oder Barnas (der erste Vorsteher war der angesehene Elias Gutmann aus Illereichen). Obwohl das Emanzipationsgesetz von 1828 der Eigenständigkeit der jüdischen Gemeinde ein Ende machte, wohnte auch 1844 (vgl. Oberamtsbeschreibung Göppingen, S. 253) noch kein Christ im jüdischen Teil des Dorfes.

Die Herrschaft überließ den An­siedlern gegen einen jährlichen Zins von 4 Gulden einen 1 Morgen großen Begräbnisplatz (für die Beisetzung eines verheirateten Juden war 1 Gulden, für einen unverheirateten waren dagegen 30 Kreutzer zu entrichten) und erbaute gegen 2 Gulden Jahreszins ein Frauen­bad (Mikweh). Der Schutzbrief sicherte den Juden freie Religionsausübung zu. Sie durften einen Rabbiner annehmen, der nicht in die Zahl der 20 Familien eingerech­net wurde und auch kein Schutzgeld bezahlte, ebenso durften sie einen Vorsänger oder Schulmeister und einen Gemeindevorsteher (Barnas) wählen, die seit dem Nebenrezess von 1798 gleichfalls vom Schutzgeld befreit waren. Dem Gemeinde­vorsteher stand eine beschränkte Strafgewalt (Strafen bis zu 5 Gulden) zu, der jüdischen Gemeinde Entscheidungsbefugnisse in privatrechtlichen Angelegenheiten. Den Juden war freier Handel erlaubt, ausgenommen allein der Salzhandel, den sich die Herr­schaft vorbehielt. Dagegen durften sie keine Güter erwerben. Sie hatten Anteile an Weide, Wasser, Sauerwasser, doch standen ihnen keine „Gemeindeteile" zu. Der christlichen Gemeinde hatte jede Familie für die Befreiung von Gemeindediensten und -fronen jährlich 1 Gulden zu entrichten.

Die Zahl der Juden in Jebenhausen wuchs rasch an. 1800 erwarb die israelitische Gemeinde einen Platz zum Synagogenbau. 1805 zählte Jebenhausen bei 650 Ein­wohnern bereits 238 Juden. 1810 lebten 48 jüdische Familien im Ort. Nach dem Anfall an Württemberg im Jahr 1805 galten die alten Rechtsverhältnisse zunächst weiter. An die Stelle der Ortsherrschaft war jedoch der württ. Staat getreten. 1818 nahmen die Juden in Jebenhausen Familiennamen an (besonders häufig Her­kunftsnamen wie Adelsheimer, Dörzbacher, Gemminger, Laupheimer, Regens­burger, Sontheimer). 1815 wurde das Schutzgeld je Familie auf 4 Gulden ermäßigt. Durch das Gesetz von 1828 fand das Schutzverhältnis ein Ende, die Juden erhielten staatsbürgerliche Rechte.

In den Jahren nach 1840 erreichte die jüdische Gemeinde  Jebenhausen mit 550 Mitgliedern (über 46 Prozent der Gesamteinwohnerschaft) ihren höchsten Stand. Sie sank dann durch Auswanderungen, Abwanderungen und einen auffallend starken Geburtenrückgang rasch wieder ab: 1854 534, 1862 396, 1871 127, 1886 61, 1891 52 und 1910 4 Juden. Die Abwanderungen setzten bereits um 1830 ein. Zwischen 1830 und 1870 wanderten nicht weniger als 329 jüdische Bürger aus, davon allein 317 nach Nordamerika. Viele ließen sich auch in der nahen Oberamts­stadt Göppingen nieder, einige übersiedelten nach Stuttgart, Esslingen usw.

Die Juden in Jebenhausen betätigten sich vorzugsweise im Handel: Vieh- und Pferdehandel (1863 noch 25 Viehhändler) sowie Handel mit verschiedenen Waren. Einige Händler betrieben im Nebenerwerb Landwirtschaft. Die christlichen Einwoh­ner fanden häufig bei den im Durchschnitt sehr viel wohlhabenderen Juden Arbeit. Die jüdischen Bürger bauten in Jebenhausen in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts eine beachtliche, wenn auch nur kurzlebige Industrie vornehmlich in der Textilbranche auf. Die Oberamtsbeschreibung Göppingen (S. 254 f.) zollt dem jüdischen Unternehmungsgeist hohes Lob. 1852 gab es 11 jüdische Fabrikanten in Jebenhausen, von denen sechs über 3.000 Arbeiter beschäftigten (meist Heim­arbeiter - das altertümliche Verlagssystem herrschte noch vor). Das bedeutendste Unternehmen war die 1835 gegründete Firma Rosenheim Co., die baumwollene und leinene Waren herstellte, eine eigene Färberei besaß, 1842 bereits in Jeben­hausen 12 Arbeiter beschäftigte, auswärts jedoch 400. Die industrielle Entwicklung erzwang den Übergang vom Verlags- zum Fabrikationssystem. Dafür aber bot das seit 1847 an das württ. Eisenbahnnetz angeschlossene Göppingen alle Voraussetzun­gen. Die jüdischen Industrieunternehmen verlegten daher seit 1849 nacheinander ihren Sitz dorthin.

1818 richtete die jüdische Gemeinde eine Schule auf privater Basis ein. Der Unterricht fand abwechselnd in den einzelnen Judenhäusern statt. 1824 erhielt die Schule öffentlichen Charakter. 1825 wurde ein Schulhaus erbaut. Seit 1840 war die Ortsgemeinde zur Unterhaltung der israelitischen Schule (1839 115 Schüler) ver­pflichtet. 1865 wurde die öffentliche israelitische Schule aufgehoben, aber 1870 als freiwillige Konfessionsschule neu begründet, die dann bis kurz vor der Auflösung der Gemeinde bestehen blieb. 1805 erbaute die Gemeinde eine größere Synagoge, die 1862 renoviert wurde. Der Plan eines Synagogenneubaus im Jahr 1837 scheiterte.

Von 1778/79 bis 1868/74 war Jebenhausen Sitz eines Rabbinats. Der bedeu­tendste Rabbiner der Gemeinde war Kirchenrat Max Hertz, der insgesamt 44 Jahre in Jebenhausen und Göppingen wirkte. Die jüdische Gemeinde Jebenhausen wurde 1899 aufgelöst, die Synagoge abgebrochen, der Friedhof in das Eigentum der israelitischen Gemeinde Göppingen übergeführt.

Der bekannteste Sohn der Jebenhäuser Gemeinde war der Stuttgarter Kammer­sänger Heinrich Sontheim, geb. 3. Februar 1820, der zeitlebens eng mit seiner Heimatgemeinde verbunden blieb und als sogenannte Domizilant bis 1883 seine Kirchen­steuer in Jebenhausen bezahlte.

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Akermann, Manfred, Der Kam­mersänger Heinrich Sontheim - Aus dem Leben eines großen jüdischen Künstlers aus Jebenhausen, in: Feiertagsschrift der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg und Hohenzollern, Rosch Haschana 5726, September 1965, S. 21-24.
  • Beschreibung des Oberamts Göppingen, 1844.
  • Bilder vom Grundstein der Synagoge und vom Friedhof, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 80 und 89.
  • Tänzer, Aaron, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Stuttgart 1927.

 

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Göppingen-Jebenhausen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Bamberger, Naftali Bar-Giora, Die jüdischen Friedhöfe Jebenhausen und Göppingen, 1990.
  • Jüdisches Museum Göppingen in der Alten Kirche Jebenhausen, (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen Band 29), Weißenhorn 1992.
  • Kauß, Dieter, Juden in Jebenhausen und Göppingen 1777 bis 1945, (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen, Bd. 16), Göppingen 1981.
  • Munz, Georg/Lang, Walter, Die Jebenhäuser Judengemeinde und ihre Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Göppingen, in: Geschichte regional. Quellen und Texte aus dem Kreis Göppingen 2 (1982), S. 134-153.
  • Rohrbacher, Stefan, Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit, 2000.
  • Rohrbacher, Stefan, From Wuerttemberg to America. A 19th-century Village on its Way to the New World, 1989.
  • Rueß, Karl-Heinz, Die Baumwollspinnerei und –weberei Gutmann in Göppingen. Der Zwangsverkauf an die Kolb & Schüle AG in Kirchheim u. T. und die Rückerstattung, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S.315-328.
  • Rueß, Karl-Heinz, Die Israelitische Gemeinde Göppingen 1927-1945, in: Tänzer, Aron, Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Neuausgabe, Weißenhorn 1988.
  • Rueß, Karl-Heinz, Dr. Aron Tänzer. Leben und Werk des Rabbiners, in: Tänzer, Aron, Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Neuausgabe, Weißenhorn 1988.
  • Tänzer, Aron, Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1927.
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