Jüdisches Leben im Schwaben der Frühen Neuzeit (ca. 1500-1806) – Ein Überblick
Von Stefan Lang
![Schutzbrief der Stadt Esslingen für die in die Stadt aufgenommenen Juden Lazarus von Burgau und Simon von Schwabach, Bild 1. Urkunde, 1. Januar 1542 [Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg] Schutzbrief der Stadt Esslingen für die in die Stadt aufgenommenen Juden Lazarus von Burgau und Simon von Schwabach, Bild 1. Urkunde, 1. Januar 1542 [Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg]](/documents/10157/19356394/Schutzbrief+Juden+Stadt+Esslingen.jpg/21f29b9a-1b07-46c7-a909-29bff4056f35?t=1643900968015)
Schutzbrief der Stadt Esslingen für die in die Stadt aufgenommenen Juden Lazarus von Burgau und Simon von Schwabach, Bild 1. Urkunde, 1. Januar 1542 [Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg]
Dauerhafte Vertreibungen seit dem 15. Jahrhundert
Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurden die meist im urbanen Rahmen ansässigen Juden in fast ganz Schwaben sukzessive vertrieben. Die Gründe bestanden meist aus einer durch Verfolgungen, steuerlichen Belastungen und christlicher Konkurrenz im Kreditwesen stark reduzierten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sowie fortwährenden negativen Stereotypen – vom Wuchervorwurf zu vermeintlicher Gotteslästerung bis hin zu Ritualmordbeschuldigungen. Diese dauerhaften Vertreibungen begannen 1430 im Bodenseeraum und zogen sich in mehreren Phasen bis zum frühen 16. Jahrhundert, wobei bedeutende jüdische Zentren wie Konstanz, Heilbronn oder Augsburg ihr Ende fanden. Ab dem Regierungsantritt 1493 ließ sich dann König Maximilian I. die finale Abtretung der kaiserlichen Rechte über die Juden mit hohen Abschlagssummen bezahlen, wodurch die verbliebenen Gemeinden von Ulm, Reutlingen, Giengen, Nördlingen oder Schwäbisch Gmünd durch Ausweisungen von der Landkarte verschwanden. Fast alle schwäbischen Reichsstädte nahmen danach bis weit ins 19. Jahrhundert keine Juden mehr innerhalb ihrer Stadtmauern und Landgebiete auf – die einzige dauerhafte Ausnahme bildete ab 1572 das kleine Buchau am Federsee. Das Herzogtum Württemberg blieb den Juden als Siedlungsraum bis 1806 ebenfalls weitgehend verschlossen, nachdem Eberhard im Bart 1492 testamentarisch ihre Ausschließung verfügt und in den Landständen einen kontinuierlichen Träger dieser Position gefunden hatte.
Ausbildung neuer Siedlungsstrukturen seit dem frühen 16. Jahrhundert
Durch diese ausgrenzenden Maßnahmen begann im frühen 16. Jahrhundert eine neue Phase des jüdischen Lebens in Schwaben, das damals als für Christen und Juden gleichermaßen einen Identifikationsraum und regionalen Bezugspunkt darstellte. „Schwaben“ umfasste in der Frühen Neuzeit die Territorien des Schwäbischen Reichskreises, die vorderösterreichischen Herrschaftsbereiche wie die Herrschaft Hohenberg, die Markgrafschaft Burgau, die Landgrafschaft Nellenburg sowie die zahlreichen Kleingebiete der Schwäbischen Reichsritterschaft. Aus aktueller Perspektive würde „Schwaben“ ungefähr das Bundesland Baden-Württemberg ohne die einst kurpfälzischen Gebiete sowie Bayerisch-Schwaben und Teile des Allgäus beinhalten.
Eindeutige Siedlungsbewegungen von Juden aus den Städten in das Umland sind allerdings kaum nachzuvollziehen, zudem muss man die recht überschaubare Größe der ausgewiesenen Gemeinden berücksichtigen. Vielmehr ist über die gesamte Frühe Neuzeit im Hinblick auf jüdische Ansiedlungen eine hohe Fluktuation der Orte sowie eine hohe Mobilität der Juden zu beobachten, wobei es häufige Kontakte zum fränkischen und pfälzischen Raum gab. Kulturelle und personelle Verbindungen der schwäbischen Juden existierten außerdem zu den verbliebenen städtischen Zentren Frankfurt und Worms, aber auch nach Oberitalien und Osteuropa.
Konkrete Siedlungsmöglichkeiten existierten für die Juden in Schwaben nach 1500 zunächst beim Adel, wie bei den Grafen von Hohenzollern in Hechingen und Haigerloch, den Grafen von Montfort sowie den Grafen von Oettingen, zudem phasenweise in den badischen Markgrafschaften. Auch in vorderösterreichischen Gebieten der Habsburger, wie der Markgrafschaft Burgau mit dem Zentrum Günzburg, der Herrschaft Hohenberg um Rottenburg und Horb sowie der Landgrafschaft Nellenburg um Aach im Hegau lebten noch Juden. Allerdings wurden sie bis ins frühe 17. Jahrhundert hauptsächlich auf Druck der Landstände hier ebenfalls ausgewiesen.
Die Duldung von Juden war wie schon im Mittelalter generell stets wirtschaftlich motiviert und zuweilen auch von der individuellen Neigung der jeweiligen Regenten abhängig. Besonders relevant für die jüdische Siedlungslandschaft Schwabens zwischen 1500 und 1806 sollten die reichsunmittelbaren Kleinterritorien der Reichsritter, Freiherren und Barone werden, denn für diese konnten die Juden wirtschaftlich wichtige Funktionen erfüllen. Sie brachten jährliche Schutzgelder in die Kassen und förderten den Handel von den städtischen Zentren aufs Land. Jüdische Kredite waren in den Dörfern gerade vor dem Horizont der langsam einsetzenden „Kleinen Eiszeit“ zur Überwindung von Subsistenzkrisen und zur Planung landwirtschaftlicher Prozesse von Bedeutung. Ab etwa 1520 ist eine starke Zunahme von Juden bei niederadeligen Schutzherren zu beobachten, die sich zunehmend von den größeren Landesherrschaften emanzipierten und den Judenschutz ferner zur Demonstration ihrer Reichsunmittelbarkeit nutzten.
Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz
Die Aufnahme von Juden erfolgte in der Regel über individuelle oder kollektive Schutzbriefe, die meist über einen bestimmten Zeitraum galten und einen für beide Vertragspartner akzeptablen Kompromiss darstellten. Integriert war häufig die Übernahme reichsrechtlicher Elemente, die den Juden nach umfassenden kaiserlichen Privilegien unter Kaiser Karl V. eine bessere Rechtsstellung und höheren Schutz garantierten. Einige erhaltene Schutzbriefe zeigen, dass den ritterschaftlichen Juden die Nutzung von Gemeindegütern ebenso gestattet wurde wie beachtliche wirtschaftliche Freiräume. Dabei ist ersichtlich, wie gegenüber ausländischen Kreditpartnern oft eine nahezu freie Zinsgestaltung erlaubt wurde, während von einheimischen Untertanen nur ein begrenzter Prozentsatz erhoben werden durfte. Dies sorgte immer wieder für Konflikte mit den benachbarten Obrigkeiten, die ihrer Bevölkerung Handel mit und Kreditleihe von Juden streng verboten oder reglementiert sowie kaiserliche Privilegien dagegen erwirkt hatten. Infolgedessen landeten viele Rechtsstreitigkeiten bei den kaiserlichen Gerichten, wie dem Hofgericht in Rottweil, dem Landgericht Schwaben bei Ravensburg und oft im Appellationsfall am Reichskammergericht. Dort wurden die Juden auch aufgrund des durch Johannes Reuchlin definierten Status als „cives romani“ als gleichberechtigte Verhandlungspartner akzeptiert. Daher gab es zwischen 1530 und 1566 auf der Ebene der Reichstage und im Schwäbischen Reichskreis speziell wegen der sehr zahlreichen rottweilischen Prozesse und den daraus folgenden Ächtungen von Schuldnern mehrfach Forderungen nach einer Vertreibung der Juden aus ganz Schwaben. Letztlich blieben diese speziell durch die Reichsstädte und ab 1550 massiv durch Herzog Christoph von Württemberg angeregten Maßnahmen allerdings ohne Ergebnis, da man weder auf die Reichsritterschaft noch auf Vorderösterreich stark genug einwirken konnte. Stattdessen betrieben die schwäbischen Kreisstände fortan einen weitgehenden Boykott des für jüdische Kreditgeber eminent wichtigen Rottweiler Hofgerichts, was diesen Rechtsweg in der Folgezeit weitgehend ausschaltete und derartige Konflikte auf die territoriale Ebene verlagerte. Zu diesem Zweck hatte sich auch ein Großteil der schwäbischen Kreisstände ebenso wie die Reichsritterschaft Schwaben und einzelne Niederadelsgeschlechter Privilegien gegen jüdische Kreditverträge ausstellen lassen.