Von Agnes Schormann
Bei Stiftsstatuten (kurz Statuten) handelt es sich um eine schriftliche Niederlegung von Normen, also normgebende Dokumente, die im Kontext eines Chorfrauen- bzw. Chorherrenstifts (auch Kanonissen- bzw. Dom-, Kollegiatstift genannt) entstanden sind. In Statuten wurden die Regeln oder auch Gewohnheiten niedergeschrieben und zusammengefasst, nach welchen die Chorfrauen bzw. Chorherren lebten und an welche sie gebunden waren. Es wird bei diesen geistlichen Gemeinschaften zwischen Säkular- oder Regularstiften unterschieden, wobei letztere neben den Statuten auch eine Ordensregel hatten, wie beispielsweise die Augustiner-Chorfrauen oder -herren.
Stiftsstatuten sollten für die Zukunft handlungsleitend sein und dies meist unabhängig von früheren Normen, es sei denn mit Ausweisung auf bestehenbleibende ältere Regelungen.[1] Sie wurden also immer wieder ergänzt, erweitert oder sogar ganz neu ausgehandelt.
In einem intensiven Aushandlungsprozess zwischen den Kanonikern bzw. Kanonissen, ihren Familien und den geistlichen Mächten im Umfeld der Stifte wurden die Statuten erarbeitet. Die Frauen- wie Männergemeinschaften hatten dabei oft auch das Recht, sich selbst Statuten zu geben.[2] Daneben waren es vor allem Bischöfe und Konzilen, die Statuten für die Stifte erarbeiteten oder auch bereits bestehende Statuten bestätigten.[3] Vor allem in den selbst gegebenen Stiftsstatuten verständigten sich die geistlichen Gemeinschaften mit ihrer Umgebung auf immer neue und neu interpretierte Lebens- und Gottesdienstordnungen. Dabei wurde von den Stiftsangehörigen auch versucht, strategisch geschickt oder politisch instrumentalisiert auf Krisen, Reformversuche von außen oder auf die drohende Auflösung in der Reformation zu reagieren. Dagegen versuchten gerade Bischöfe oder Konzilen die Stifte durch aufgetragene Statuten mit neuen, meist strengeren Regeln, zu reformieren. Anhand des Inhalts der Statutenbestimmungen lassen sich Probleme erkennen, mit denen sich ihre Verfasser konfrontiert sahen. Auf diese Weise reflektierten sie „monastische Wirklichkeit; Verbote signalisieren ein von der Norm abweichendes tatsächliches Verhalten“[4].
Die Stiftsstatuten können, auch wenn sie in einem Aushandlungsprozess entstanden sind, grob in zwei Oberkategorien aufgeteilt werden:
1. Von innen kommende: Das heißt, meist von dem/r Vorsteher/Vorsteherin des Stifts veranlasste oder gemeinsam im Stiftskapitel bestimmte neue Regeländerungen oder -ergänzungen. 2. Von außen gegebene: Von einer übergeordneten Stelle, meist vom Bischof, aufgetragene neue Regelungen.
Eine ebenfalls als Statuten zu bezeichnende Quellengattung soll hier noch erwähnt werden, da sie den Stiftsstatuten in Form und Inhalt ähneln: Es sind die in klösterlichen Gemeinschaften entstandenen Regeln und Gewohnheiten.[5] So kann etwa die Carta caritatis der Zisterzienser zu den als Statuten bezeichneten Regeldokumenten gezählt werden.[6] Diese Quellengattung wird hier allerdings nur zur Differenzierung genannt, da es im Folgenden ausschließlich um die im oder für das Stift entstandenen Statuten gehen soll.
Stiftsstatuten können an allen Chorfrauen- und Chorherrenstiften während des gesamten Mittelalters bis hin in die Frühe Neuzeit entstanden sein.[7]
Im frühen und hohen Mittelalter wurden höchstwahrscheinlich die meisten der Regeln und Gewohnheiten, nach welchen die Gemeinschaften leben sollten, mündlich überliefert. Ab dem späten Mittelalter hingegen wurden diese Normen schriftlich aufgezeichnet,[8] weswegen heute die meisten uns bekannten normgebenden Texte aus dem späten Mittelalter oder der Frühen Neuzeit stammen. Frühe Statuten stammen etwa vom Ende des 13. Jahrhunderts aus dem Stift Sindelfingen;[9] ein Beispiel für spät verzeichnete Statuten findet sich im Statutenbuch des Kanonikerstifts Waldkirch aus dem 18. Jahrhundert.[10]
Latein wurde als Sprache der Statuten vor allem im Früh- und Hochmittelalter verwendet, im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit vor allem Deutsch, allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Die meisten Stiftsstatuten entstanden im Kontext von Reformen und Konzilen,[11] da gerade hierbei die Reformer versuchten, eine meist strengere Regeländerung anzustreben, Probleme zu beseitigen sowie ein nach ihren Vorstellungen geordneteres Leben herbeizuführen.
Stiftsstatuten können in unterschiedlichster Art vorkommen und zwar sowohl was den Inhalt als auch was das Format betrifft. Statuten können in Form einer Urkunde verfasst sein oder aber auch als zusammengebundene Blätter etwa in Form eines Libells auftreten. Inhaltlich können Stiftsstatuten einzelne Aspekte des stiftischen Lebens betreffen oder aber auch umfangreiche Regelwerke mit mehreren Kapiteln aufweisen.
Ein „typisches“ Exemplar zu definieren ist daher kaum möglich, trotzdem soll an dieser Stelle das Format des Regelwerks vorgestellt werden. Dieses besteht aus mehreren Regelkapiteln, manchmal auch mit Überschriften.[12] Dabei fängt es, um die Sprache der Diplomatik zu verwenden, meist mit einer Invocatio, der Anrufung Gottes, z.B. In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen [13] und/oder der Intitulatio, also dem Namen und Titel des Ausstellers an. Im idealtypischen Fall werden auch der bzw. die Empfänger genannt sowie der Grund der Niederschrift. Auf diesen einleitenden Teil folgt der eigentliche Inhalt, die Regeln und Gewohnheiten, die in verschiedene Kapitel mit Überschriften gegliedert sind. Bei den Oberstenfelder Statuten von 1262 sind dies 16 Kapitel. Sie beinhalten an erster Stelle die Regelung des Gottesdienstes, welcher die Grundlage eines Stifts darstellt, denn nicht umsonst werden die Geistlichen als Chorfrauen oder -herren bezeichnet. Weitere Regeln beinhalten u.a. die Einsetzung der Ämter, die Aufnahme neuer Mitglieder, die Kleidervorschrift, den Ausgang aus dem Stift und weitere geistliche oder weltliche Angelegenheiten. Nach den 16 Regelkapiteln endet der Text der Oberstenfelder Statuten ohne eine bei einer idealtypischen Urkunde übliche Signumszeile, Datierung oder Ähnliches. In den frühen Statuten des Stifts Sindelfingen hingegen findet sich eine Signumszeile.[14]
Die Mehrzahl der erhaltenen Stiftstatuten gelangte mit den Stiftsarchiven im 19. Jahrhundert im Zuge der Säkularisation in die wissenschaftlichen Archive. Spätere Abschriften können auch heute noch neu entdeckt werden.[15]
Grundsätzlich bieten die Stiftsstatuten zunächst die Namen des Normgebers und eventuell auch des Empfängers, so kann der Name der Äbtissin/des Abtes eines Stifts als Empfänger, aber auch als Aussteller aufgeführt sein. Gebenenfalls werden auch Mitglieder eines Konvents genannt. In dieser Hinsicht können Stiftsstatuten urkundliches oder briefliches Material ergänzen, etwa zur Untersuchung einer Stifts-Prosopographie.
Vor der Auswertung muss jedoch eine Quellenkritik stattfinden, die zumindest folgende Punkte klären sollte:
Wird dies beachtet, so bieten diese Quellen zudem einen tiefen Einblick sowohl in den Alltag als auch in das geistliche Leben der Stiftsgemeinschaften.[16] Die Statuten können dabei als ein Komplex von Normen bezeichnet werden.[17] Zudem ist es bei der Interpretation wichtig zu beachten, dass die Stiftsstatuten einen Soll-Zustand darstellen können.[18] Gerade die bischöflichen Statuten haben üblicherweise eine starke Reformfunktion. Neben diesem Soll-Zustand lassen sich aber auch Aussagen über das geistliche und weltliche Leben der Gemeinschaft treffen, über die Aufgaben der Amtsträger und über die Art, wie diese gewählt wurden.[19] Bei den Stiftsstatuten, die von der Gemeinschaft des Stifts veranlasst wurden, bei welchen kein Reform- oder Konzilkontext im Hintergrund steht, lassen sich Aussagen über die Probleme der Zeit treffen wie Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaften oder aber finanzielle Probleme. Denn „der Wunsch oder die Notwendigkeit, Traditionen und Gewohnheiten schriftlich zu fixieren“, entsprang meistens eben diesen Schwierigkeiten, mit denen sich die Gemeinschaften konfrontiert sahen.[20]
Die Stiftsstatuten sind, sofern diese im Archiv verwahrt werden, uneingeschränkt nutzbar und unterliegen keinen Sperrfristen. Einige der Statuten wurden digital aufgearbeitet und sind über die jeweiligen Archivportale online einsehbar.[21] In analoger Form können die Stiftsstatuten vor Ort durch Bestellung der Archivalien eingesehen werden.
Der Begriff der Stiftsstatuten wird in der Forschung unterschiedlich genutzt.[22] Zum einen werden als Statuten nur Dokumente bezeichnet, die alle Verfassungsfragen des Stifts regelten,[23] zum anderen nur Regelungen, die über Einzelaspekte hinausgehen und von dem/der Vorsteher/Vorsteherin und der Gemeinschaft gemeinsam beschlossen wurden,[24] oder aber nur die bischöflichen oder konziliaren „Verfügungen“. Sabine Klapp fasst ihn breiter auf: Den Terminus „Statuten“ benutzt sie für die von Konzilen und Bischöfen ausgestellten normativen Dokumente und für Dokumente aus dem Stift selbst. Dabei verweist sie auf die sorgfältige Quellenkritik (s.o.), um diese Quellen nutzbar zu machen.[25]
Zitierhinweis: Agnes Schormann, Stiftsstatuten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 19.06.2017.