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Auf der Suche nach der besseren Welt - die Blumhardts in Boll

Das in den 1820er Jahren erbaute Kurhaus von Bad Boll, Quelle WLB Stuttgart, Graphische Sammlung
Das in den 1820er Jahren erbaute Kurhaus von Bad Boll, Quelle WLB Stuttgart, Graphische Sammlung

1852 richtete der Pfarrer Johann Christoph Blumhardt zusammen mit seiner Familie im Kurhaus von Bad Boll ein Zentrum für Leib- und Seelsorge ein. Vorausgegangen war die Heilung einer jungen Frau in Möttlingen bei Calw, wo Blumhardt seit 1938 als Pfarrer tätig war. Die Gottliebin Dittus, so der Name, wurde von Geistererscheinungen heimgesucht, begleitet von Krämpfen und Blutungen. Sie redete mit Stimmen. Gegenstände wie Glasscherben oder Nägel wuchsen aus ihrem Körper heraus. Schließlich waren auch die beiden Geschwister betroffen. Blumhardts Berichte muten heute seltsam an. In katholischen Gemeinden hätten die Vorgänge vielleicht eine andere Wendung genommen, doch Blumhardt war ein Anhänger des Pietismus und setzte auf das Gebet. Die Erscheinungen verschwanden, die junge Frau wurde wieder gesund.

Einige Jahre zuvor hatte es mit Friederike Hauffe, der Seherin von Prevorst, einen ähnlichen Fall gegeben. Sie begab sich zu Justinus Kerner in Behandlung, der als Oberamtsarzt in Weinsberg tätig war und starb 1829. Die von ihr gezeigten Symptome deuten nach heutigen medizinischen Maßstäben auf Schizophrenie hin. Doch die Welt in der ersten Hälfte des 19. Jh. war eine andere. Der Einfluss Johann Albrecht Bengels (1687-1752), einem Hauptvertreter des Pietismus und Lehrer am evangelischen Stift Denkendorf, wirkte sich gleich auf mehrere Generationen württembergischer Pfarrer aus. Seine Auslegung des Neuen Testaments, der Offenbarung nach Johannes und seine Berechnungen führten zu dem Ergebnis, dass die Wiederkehr Christi unmittelbar bevorstehe. Damit verbunden sei das Jüngste Gericht, der Kampf mit dem Bösen. Ereignisse wie die Hungersnot von 1816/17 schienen die Annahme zu stützen.

Aus der Begeisterung, die nach der Heilung der Gottliebin und ihrer Familie die Gemeinde in Möttlingen erfasste, entwickelte sich eine Buß- und Erweckungsbewegung, die für regen Zustrom auswärtiger Besucher sorgte. Liberale Kreise und die kirchliche Oberbehörde sahen die Vorgänge kritisch, konnten Blumhardt aber keine unlauteren Absichten unterstellen. Er verfolgte das Streben nach dem Reich Gottes, ausgedrückt durch Barmherzigkeit und Seelsorge, dem Wohl für Körper und Geist. 1852 zogen die Familien Blumhardt und Dittus nach Boll, wo Umgebung und Räumlichkeiten gute Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Anliegens boten. Nach dem Tod Johann Christoph Blumhardts übernahm sein Sohn Christoph Friedrich das Zentrum. Auch er sah die Not der Menschen, wollte eine bessere Welt, Wahrheit und Gerechtigkeit. Doch schlug er am Ende des Jahrhunderts einen anderen Weg ein. Aus seiner Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und sozialen Missverhältnissen entstand eine ausgeprägte Kritik am herrschenden Kapitalismus. Er forderte Reformen, wurde Sozialdemokrat. Von 1901 bis 1906 war Christoph Blumhardt Abgeordneter im Württembergischen Landtag.

Das Zentrum für Leib- und Seelsorge in Boll zog viele bekannte Persönlichkeiten an. Hier kehrten Eduard Mörike, Ottilie Wildermuth, Friedrich Mann, Hermann Hesse und Gottfried Benn ein. In der Villa Vopelius entstand dazu eine literarische Gedenkstätte, getragen von der Evangelischen Akademie Bad Boll und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach .

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