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Das alemannische Landjudentum und sein Chronist - zum 55. Todestag von Jacob Picard

Jacob Picard Gedenkstätte Öhningen-Wangen [Quelle: Landeszentrale für politische Bildung]

Jacob Picard wurde 1883 als eines von sieben Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wangen bei Öhningen geboren. Der Ort liegt am Rand der Halbinsel Höri, die zum Domizil vieler Künstler wurde. 1895 zog die Familie Picard nach Konstanz, wo Jacob sein Interesse an Literatur ausbauen und die Abiturprüfung ablegen konnte. Danach begann er Germanistik und Geschichte zu studieren, entschloss sich aber bald aus rationalen Gründen auf Jura umzusteigen. Er promovierte 1913 in Heidelberg, wo ihn die lebendige Literaturszene beeindruckte. Das Schreiben hatte er nicht aufgegeben. Im selben Jahr erschien sein erster Gedichtband. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem zwei seiner Brüder zu Tode kamen, meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Ab 1919 lebte er einige Jahre in Konstanz, nach der Heirat 1924 mit der Ärztin Frieda Gerson in Köln, wo er auch für den Rheinisch-Westfälischen Schriftstellerverband arbeitete. Die glücklose Ehe wurde um 1929/30 geschieden. Während der gesamten Zeit hatten ihn die Erinnerung an seine Jugend auf der Höri und das Leben der alemannisch-jüdischen Landbevölkerung nicht losgelassen. 1933 zog Picard nach Berlin, wo er sich unter dem auferlegten Berufsverbot und schwieriger werdenden Bedingungen vermehrt diesem Thema zuwandte. Bis 1936 erschienen bei der „Jüdischen Buchvereinigung“ mehrere längere Novellen, die bei Schriftstellern wie Hermann Hesse oder Stefan Zweig Anklang fanden. So würdigte Hesse den Reichtum an Anekdoten und Überlieferungen, in denen Würde, Frömmigkeit und Größe zum Ausdruck kommen. Das von Picard geschilderte Judentum war in den Dörfern der Region Hochrhein und Bodensee verankert, verdiente wie die christliche Bevölkerung den Lebensunterhalt auf einfache Weise und gestaltete das Leben wie diese nach eigenen religiösen Grundsätzen. Als viele Juden in Städte abwanderten, verschwand diese Lebenswelt. Viele von ihnen betrachteten die alten Zustände als rückständig und armselig. Picard vertrat die Ansicht, dass die Abgrenzung, die den Alltag zwischen Juden und Christen in den Dörfern bestimmte, keine Ausgrenzung war sondern Toleranz, die jenseits der städtischen Ghettos eine persönliche Freiheit ermöglichte.

Zwischen 1936 und 38 konnte Picard für einige Zeit auf die Höri zurückkehren. In Horn bei Gaienhofen schrieb er die autobiographischen „Erinnerungen eigenen Lebens“ und den Erzählband „Der Gezeichnete“. 1940 gelang ihm in letzter Minute die Emigration. Nach einer Odyssee durch mehrere Länder gelangte er in die USA und hielt sich mit Hilfsarbeiten über Wasser. Ab 1945 konnte er mithilfe eines Stipendiums die Biografie des 1848er Generals Franz Sigel verfassen, unter dem sein Großvater gekämpft hatte. Trotz der Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1946 lebte er nach eigenen Aussagen „in Amerika in Deutschland“. Als Picard Deutschland 1957 erstmals wieder besuchte, fand er ein anderes, von der Kultur des Ostens bestimmtes Judentum vor. Die Erinnerung an das selbstbewusste, dabei tief religiöse alemannische Landjudentum schien ausgelöscht zu sein. Erst 1963 erschien die Neuauflage seiner Erzählungen, 1964 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis. Mit über 80 Jahren kehrte Picard 1965 nach Deutschland zurück. Er starb am 1. Oktober 1967 ein einem Konstanzer Altersheim.

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