Baeyer, Hans Emil 

Andere Namensformen:
  • Ritter von Baeyer (seit 1885)
Geburtsdatum/-ort: 28.02.1875; Straßburg
Sterbedatum/-ort: 21.01.1941; Düsseldorf
Beruf/Funktion:
  • Orthopäde, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1895–1901 Studium d. Medizin in Jena u. München
1901–1914 Promotion in München: „Über Chromsäurevergiftung“, dann Assistent bei Max Verworn (1863–1921) am Physiolog. Institut d. Univ. Göttingen u. ab 1903 bei Ottmar von Angerer (1950–1918) u. Fritz Lange (1864 –1952) an d. chirurg. Univ.- Klinik München
1908 IV. 26 Privatdozent nach Habilitation im Fach Chirurgie in München: „Über Fremdkörper im Organismus“
1914 IX.–1919 IV. Kriegseinsatz als landessturmpflicht. Arzt u. fachärztl. Beirat für Orthopädie in preuß. Diensten, ab 31. 1. 1915 ao. Professor in München, ab 16. 7. 1917 ao. Professor in Würzburg u. Direktor des „König-Ludwig-Hauses“, ab 1.10.1918 etatmäß. ao. Professor in Heidelberg u. Überstellung an das XIV. Bad. Armeekorps
1918–1919 ärztl. Leiter beim Bau d. orthopäd. Klinik Schlierbach
1919 III. 22 u. IX. 1 o. Honorarprofessor, dann o. Professor
1922 Eröffnung d. Orthopäd. Klinik in Schlierbach unter Leitung Baeyers
1929 Wielandheim, Bad. Landeskrüppelheim, im Bereich d. Klinik in Schlierbach eröffnet
1931 Vorsitzender d. Dt. orthopäd. Gesellschaft
1933 Vorwürfe wegen Unregelmäßigkeiten in d. Klinik u. im Landeskrüppelheim, mit Bericht vom 26.5. ohne Beanstandungen eingestellt; im Juli Hauptvortrag für Deutschland beim Internat. Kongress für Orthopädie in London; Untersuchung d. „arischen“ Abstammung, am 21.10. Beschluss des bad. „Reichsstatthalters“ betr. Zurruhesetzung B.s zum 1. 3. 1934 aufgrund von § 3 des Gesetzes zur Wiederherst. des Berufsbeamtentums
1934 –1941 Betrieb einer orthopäd. Privatpraxis in Düsseldorf
1938 u. 1941 erster u. zweiter Herzinfarkt
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Eisernes Kreuz am weißen Band (1916); Bad. Kriegsverdienstkreuz (1917)
Verheiratet: 1903 Hildegard, geb. Merkel (1882–1958), Tochter des Geheimrats Prof. Dr. Johannes Merkel
Eltern: Vater: Adolf Johann Friedrich Wilhelm (1835–1917), Prof. u. 1905 Nobelpreisträger für Chemie (NDB I 534)
Mutter: Adelheid, geb. Bendemann (1847–1910)
Geschwister: Otto (1877–1946), Prof. für Physik an d. Landw. HS Berlin
Kinder: 4; Walter (* 1904), Prof. für Medizin, Lieselotte (* 1907), Erich Otto (* 1909) u. Hans Jacob (* 1912)
GND-ID: GND/11603792X

Biografie: Fred Ludwig Sepaintner (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 13-16

Baeyer gehörte zu den Wegbereitern der Orthopädie als selbständiger Disziplin im Bereich der Medizin, bis der Nationalsozialismus seinem Wirken als Wissenschaftler ein Ende setzte. Untrennbar mit seinem Namen ist die Geschichte und frühe Bedeutung der Orthopädischen Klinik der Univ. Heidelberg in Schlierbach verbunden.
Die Familie Baeyer, ursprünglich wohl ev. Emigranten aus Salzburg, wie Baeyer selbst schrieb, lebte seit dem 16. Jh. in der Pfalz, bis sie in der Zeit Friedrichs des Großen nach Preußen zog und in der Nähe Berlins angesiedelt wurde. Baeyers Großvater war preußischer General. Seinem Vater, einem der damals herausragenden Chemiker in Deutschland, Entdecker des künstlichen Indigos und Träger des Pour le mérite für Wissenschaft, war 1905 der Nobelpreis für dieses Fach verliehen worden. Mütterlicherseits entstammte Baeyer einer preußischen Juristen-, Architekten- und Medizinerfamilie; sein Großvater J. E. Hitzig, Kammergerichtsdirektor, veröffentlichte Biographien über A. von Chamisso und E.T.A. Hoffmann. Der Bruder der Großmutter, Architekt und Erbauer u. a. der Berliner Börse, der Reichsbank und der Technischen Hochschule in Charlottenburg, war Präsident der Akademie für Künste in Berlin und Träger des Pour le mérite für Kunst. Baeyers Bruder war ein Jugendfreund des späteren Kaisers Friedrich.
Bald nachdem Baeyer geboren war, machte sich sein berühmter Vater, der damals seit drei Jahren in Straßburg Chemie gelehrt hatte, samt Familie auf, die Nachfolge Justus’ von Liebigs (1803–1873) in München anzutreten. Dort wuchs Baeyer auf und besuchte die Schule, die er mit der Abgangsprüfung des Real- u. humanist. Gymnasiums abschloss. Sein Medizinstudium absolvierte Baeyer dann in Jena und München, wo er 1901 promoviert wurde und am 12. Juli dieses Jahres die ärztliche Approbation erhielt. Seit Anfang dieses Monats hatte er bereits für die folgenden knapp zwei Jahre eine Assistentenstelle am Physiologischen Institut der Universität Göttingen inne. Die nächste Anstellung führte ihn wieder in die Stadt seiner Jugend zurück, wo er ab Mai 1903 an der Chirurgischen Klinik arbeitete. In diesem Fachbereich wurde Baeyer fünf Jahre später habilitiert.
Im September 1914 meldete sich Baeyer als Kriegsfreiwilliger, beim preußischen Heer, wie er selbst mitteilt, um ins Feld zu kommen, eine Aussicht, die er in einer bayerischen Einheit nicht gehabt hätte. Wenn er im unmittelbaren Kampfgebiet dennoch nicht eingesetzt wurde, so lag dies an seinen fachbezogenen Aufgaben, der Verwundetenbetreuung. Von der Etappe in Frankreich wurde er bald nach Trier versetzt, vor allem, um die Zustände in den Lazaretten verbessern zu helfen. Zwei Jahre später kam er nach Ettlingen, wo er, wie noch einmal vor seiner Berufung nach Heidelberg, das orthopädisch-kriegschirurgische Lazarett leitete. Dann begann, bis 1919 neben dem Militäreinsatz, sein akademisches Wirken, zuerst als ao. Professor in Würzburg. Dort wurde er als zweiter Direktor Nachfolger in der Leitung des bereits ein halbes Jahr nach Eröffnung des „König-Ludwig-Hauses“ verstorbenen Jakob Riedinger. Die 1916 gegründete Anstalt des Unterfränkischen Vereins für Krüppelfürsorge war mit der Universität verbunden.
Damit war die Weichenstellung für den künftigen Lebensweg Baeyers endgültig erfolgt: sein wissenschaftliches und praktisches Wirken für die Orthopäde. Dieser sich allmählich von der Chirurgie verselbständigende Fachbereich war in den Kriegsjahren und danach vor allem auf die Fürsorge für Verwundete konzentriert. Der damals 43- jährige Baeyer machte in kürzester Zeit auf sich aufmerksam und als der Wissenschaftler 1918 dem XIV. Bad. Armeekorps überstellt wurde, geschah dies bereits mit Blick auf seinen künftigen Einsatz in Heidelberg: als Lehrer der Orthopädie und fachlicher Berater bei den allmählich anlaufenden Arbeiten an einer eigenen orthopädischen Klinik. Dafür war bereits eine Stiftung mit 3 Mio. Goldmark eingerichtet. „Zur Ausarbeitung des Bauprogramms … bedürfen wir der dauernden sachverständigen Beratung und Mitwirkung Professor von Baeyers.“, hieß es im Schreiben des Bad. Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 29. Juni diesen Jahres. 1919 wurde Baeyer der erste o. Professor dieses Fachs in Heidelberg, unico loco von der medizinischen Fakultät dazu vorgeschlagen.
Baeyer begleitete also den Fortschritt des von Karl Caesar (vgl. S. 56) geleiteten Baues der Schlierbacher Klinik von Anfang an. 1919 fand das Vorhaben bereits seinen ersten Abschluss und 1922 nahm die Klinik unter Baeyers Leitung die Arbeit auf. Welche Bedeutung diesem Bereich damals beigemessen wurde, lassen nicht nur die schnell aufeinander folgenden Beförderungen Baeyers erkennen: im März 1918 etatmäßiger ao. Professor, ein Jahr später o. Honorarprofessor und am 1. September 1919 bereits o. Professor. Kaum war die neue Klinik eröffnet, begannen auch schon die Arbeiten an ihrer Erweiterung zum „Bad. Landeskrüppelheim“, dem ab 1929 arbeitenden „Wielandheim“. Auch hierbei war der Anteil Baeyers entscheidend, war er es doch, auf den die Konzeption des Faches als „funktionelle Orthopädie“ zurückgeht, die eine umfassende medizinische und soziale Rehabilitation schwerst Bewegungsgeschädigter anstrebte.
Baeyers fachliche Vorstellungen stellten einen wichtigen Schritt dar hin zur modernen Biomechanik. Sein Ansatz setzte sich allgemein durch, wobei seine Veröffentlichungen, etwa „Orthopädische Behandlung der Nervenkrankheiten“ und „Bewegungslehre und Orthopädie“, beide 1925 erschienen, „Der lebendige Arm“, 1930, bis hin zu „Grundlagen der Orthopädischen Mechanik“, 1935, in ganz Deutschland richtungweisend wirkten. Ein weiterer Schwerpunkt seiner publizistischen Tätigkeit galt der sozialmedizinischen Seite seines Fachs, wie sein „Führer durch die Krüppelfürsorge mit den gesetzlichen Bestimmungen für das Reich und Baden“ sichtbar macht, den er 1929 zusammen mit Helene Kunst vorlegte. Baeyer bemühte sich aber auch von Anfang an um Breitenwirkung. Das lässt seine seit 1914 bis 1926 in vier Auflagen erscheinende Schrift „Kinderturnen“ erkennen, in der er sich u. a. ausdrücklich an Eltern und Erzieher wandte und Anregungen zur körperlichen Kindererziehung bereits im Vorschulalter gab.
„Ein Quentchen jüdischer als erlaubt“, so überschrieb Wolfgang Eckart seinen Beitrag über Baeyer in dem Buch „Die Universität Heidelberg und der Nationalsozialismus“ und in dieser Feststellung ist das jähe Ende der wissenschaftlichen Karriere des wohl bedeutendsten dt. Orthopäden der frühem Zeit bereits vorweggenommen. „Seine väterliche Großmutter, Eugenie Hitzig, ist die Tochter des jüdischen Kriminaldirektors Julius Eduard Hitzig, und sein mütterlicher Großvater Emil Bendemann der Sohn des Rentiers Anton Bendemann und der jüdischen Fanny von Halle“, so fasste der „Sachverständige für Rasseforschung“ im Berliner Innenministerium am 15. August 1933 seine vorläufigen Ergebnisse gegenüber der zuständigen bad. Regierungsstelle zusammen, die diese dem Rektor der Heidelberger Universität bekanntgab. Auch wenn diese „Untersuchung der Abstammung“ als „noch nicht völlig abgeschlossen“ gekennzeichnet war, beeilte sich der bad. Kultusminister, sogleich über den Dienstweg von Baeyer die Geburtsurkunde der Großmutter einzufordern. Der im Frühjahr 1933 erhobene Vorwurf, Unregelmäßigkeiten in der Kassen- und Wirtschaftsführung in der Klinik und im Landeskrüppelheim begangen zu haben, hatte sich zwar schon im Mai 1933 als unhaltbar herausgestellt, nun aber halfen alle Verweise auf seine eigenen großen Verdienste um sein Fach und die seiner noblen Vorfahren, selbst die Nähe zum Kaiserhaus nicht mehr weiter: der „Jude“ musste gehen, und die Führung des Landes war eilfertig.
Auch wenn noch einige Zeit gestritten wurde, an den Mut der Stellungnahme des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 5. April 1933 reichte keine spätere Verlautbarung mehr heran. Darin hatte der Internist Richard Siebeck (1883–1965) unumwunden festgestellt, „dass das deutsche Judentum Teil hat an den großen Leistungen der Wissenschaft“ und darauf hingewiesen, „wie dringend es ist, dass das Rechtsbewusstsein erhalten bleibe“. Das direkt auf Baeyer bezogene Gutachten des Stellvertretenden Dekans der Medizinischen Fakultät vom 7. September 1933 wirkt dagegen bereits kraftlos, fast wie das Abspulen einer Pflichtübung. Entrüstung aus dem Ausland, Wortgefecht im Professorenkreis – in der Sache änderte sich nichts mehr: Am 4. November 1933 wurde Baeyer auf dem Dienstweg über Rektor und Dekan die vom bad. „Reichsstatthalter“ am 21. Oktober verfügte „Zurruhesetzung“ zum 1. März 1934 zugestellt.
Er versammelte zwar noch andere Betroffene um sich und noch immer in der Universität schwirrenden Gerüchten um seine angeblichen Unregelmäßigkeiten trat er im Januar 1934 mit der Forderung um Veröffentlichung des Untersuchungsberichts vom 26. Mai 1933 entgegen, am Ende seiner universitären Karriere änderte dies nichts. Baeyer verließ Heidelberg und eröffnete eine orthopädische Privatpraxis in Düsseldorf.
Dennoch wirkten Baeyers Verdienste weiter und pikanterweise würdigte sie auch noch das NS-Organ „Völkischer Beobachter“ am 11. März 1935 in seiner Süddeutschen Ausgabe im Beiblatt „Kulturpolitik und Unterhaltung“ unter „Aus Kunst und Wissenschaft“. Die Univ. Heidelberg beeilte sich sogleich, auf Baeyers vorzeitige Zurruhesetzung mit Verweis auf die „Rechtsgrundlage“ hin-zuweisen und diente in solchen Fragen künftige Dienste an.
Baeyer schrieb noch „Über die Grundlagen der orthopädischen Mechanik“ und veröffentlichte das Werk 1935. Das ihm widerfahrene Unrecht scheint er hingegen nie überwunden zu haben. 1938 erlitt der 63-jährige einen ersten, drei Jahre später einen zweiten Herzinfarkt, dem er erlag.
Quellen: UA Heidelberg PA 826 u. 3171, v. Baeyer
Werke: Auswahl: Über Chromsäurevergiftung, Diss. med. München (18 S.), 1901; Über Fremdkörper im Organismus, Habil. med. München (120 S.), 1908, auch als: Beiträge zur klin. Chirurgie Bd. LVIII, H. 1, 1908, 1–120 (mit 18 daran angeh. Tafeln); (mit F. Winter) Kinderturnen, 1914, 41926; Orthopädische Behandlung d. Nervenkrankheiten, 1925; Bewegungslehre d. Orthopädie, 1925; (mit Helene Kunst) Führer durch die Krüppelfürsorge mit den gesetzlichen Bestimmungen für das Reich u. Baden, 1929; Der lebendige Arm, 1930; Grundlagen d. orthopädischen Mechanik, 1935.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg, Bildersammlung; Kurpfälz. Museum H; Herbert Gawliczek u. Hansotto Hatzig, Chronik d. Ärzte Heidelbergs, 1985, 150

Literatur: Wer ist’s, 1935, 52; L. Fischer, Biogr. Lexikon d. hervorr. Ärzte d. letzten 50 Jahre, 2 Bde. 1932–1933, Bd. 1, 58; W. U. Eckart, Ein Quentchen jüdischer als erlaubt: Hans Ritter von Baeyer, in: ders. u. a. (Hgg.), Die Univ. Heidelberg im Nationalsozialismus, 2006, 834 ff.
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