Gradenwitz, Otto 

Geburtsdatum/-ort: 16.05.1860; Breslau
Sterbedatum/-ort: 07.07.1935; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Rechtshistoriker
Kurzbiografie: 1876 Abitur in Breslau, Studium der Rechtswissenschaft in Breslau, Berlin, Heidelberg, Leipzig
1879 1. Juristisches Staatsexamen; Praxis in Wiesbaden und Berlin
1880 Dr. jur. in Berlin (Thema der Dissertation: „Über den Begriff der Voraussetzung“); Militärdienst in Straßburg
1885 Habilitation in Berlin (Thema der Habilitationsschrift: „Interpolationen in den Pandekten. Kritische Studien“)
1890 außerplanmäßiger Prof. in Berlin
1895 außerordentlicher Prof. in Königsberg/Ostpreußen
1896 ordentlicher Prof. in Königsberg
1907 ordentlicher Prof. in Straßburg
1909 ordentlicher Prof. in Heidelberg
1928 emeritiert. Übersiedlung nach Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Bankier in Breslau, seit 1876 Rentner in Wiesbaden
Mutter: aus Wiesbaden
Geschwister: 1 (?)
GND-ID: GND/116807229

Biografie: Wolfgang Leiser (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 142-144

Der Fachmann der antiken Rechtsgeschichte nennt den Namen Gradenwitz mit Respekt als den des Begründers der juristischen Papyrologie, eines genialen Interpolationenforschers und Bearbeiters unentbehrlicher Lexika. Der dem Fach ferner stehende Heidelberger Student verbindet mit dem Namen geradezu ungeheuerliche Anekdoten (wer sie nicht selbst aus dem „Volksmund“ gehört hat, möge die Kostprobe bei Kunkel nachlesen!). Der Mann wird hinter seiner Fama fast ungreifbar, Anknüpfungspunkt von Geschichten, die teilweise akademische Wandersagen sind. Das ist zu einem gewissen Grad ihm selbst zuzuschreiben; es war nicht seine „Schuld“, sondern seine Absicht. Als er starb, hieß es im Nachruf: „Einsam wie sein Leben war auch sein Tod. Nur wenige Freunde haben ihn auf seiner letzten Fahrt begleitet“. Gradenwitz war so einsam, daß heute kaum noch die biographischen Daten zu ermitteln sind. Auf Anregung von H. Planitz hat er zwar eine längere Selbstbiographie geschrieben und darin viel von sich geredet; es gelingt ihm das Kunststück, sich dennoch letztlich zu verstecken.
„20. Juli 1880 Dr. iur. in Berlin ... Dissertation: Über den Begriff der Voraussetzung, auf welche hin ich als Kanonier im Feldartillerie-Regiment Nr. 15 in Straßburg, im Januar 1881, von Bekker aufgefordert ward, mich in seiner Fakultät zu habilitieren. Meine Bedenken gegen dieses Wagnis traten zurück, als ich im September beim Offiziersexamen durchfiel, denn zum Anwalt hatte ich nicht das Zeug und als Richter kam ich mir in der militärischen Stellung eines Gefreiten für Preußen unmöglich vor ... Ein Unfall im Gebirge, im Sommer 1882, brachte mir durch einen Schädelbruch Invalidität beim Heere und damit wieder das Bewußtsein der gesellschaftlichen Qualifikation zum preußischen Richterstande, veranlaßte mich aber doch nicht, auf den Plan der Habilitation zu verzichten ...“ Das ist 1925 geschrieben. Es ist nicht, wie man annehmen könnte und wie es in die Zeit paßte, die bittere Satire eines Juden auf die preußischen Verhältnisse, sondern die Satire eines an sich selbst leidenden Mannes auf sich selbst: Gradenwitz war ein preußischer Konservativer und glühender Bewunderer Bismarcks. Er litt unter seinem Judentum, fühlte sich (zu Recht oder Unrecht) mannigfach diskriminiert, vermochte aber doch nicht, einen Schnitt zwischen sich und Preußen zu machen. So trug er seine „wertmindernde Eigenschaft“ in skurrilster Weise vor sich her („Sie sind doch hoffentlich Antisemit? Jeder anständige Deutsche ist Antisemit!“), zog sich in sich selbst zurück und hielt die Leute mit gespielter Verrücktheit, die ihm zur zweiten Natur wurde, vom Leibe. Hinter dieser Fassade verbarg sich ein weicher, verletzlicher, Freundschaft mit Dankbarkeit und Liebe vergeltender Mann (siehe den schönen, menschlich warmen Nachruf auf seinen Mentor und Freund E. I. Bekker).
Bekker und Gradenwitz – ein seltsameres Freundespaar hat kaum gelebt; die alte Weisheit, daß Gegensätze einander anziehen, wird hier fast überstrapaziert. Der Dritte im Bunde war Th. Mommsen. Daß diese drei miteinander harmonierten, ehrt jeden in gleicher Weise. Bekker hatte die wissenschaftliche Fähigkeit des jungen Gradenwitz erkannt, Mommsen die in ihrer Einseitigkeit geniale philologische Begabung. Mommsen setzte Gradenwitz um 1885 in Berlin auf die Bearbeitung des Wörterbuchs der klassischen Rechtswissenschaft (Vocabularium jurisprudentiae Romanae) an. Gradenwitz arbeitete mit Begeisterung, Hingabe und Erfolg, machte sich, bestärkt durch Mommsen, Hoffnung auf einen Lehrstuhl in der Reichshauptstadt. Aus Gründen, die wohl verschieden bewertet werden können, blieb er indes zehn Jahre als unbesoldeter Nichtordinarius ohne äußere Anerkennung sitzen, um dann als außerordentlicher Professor ins ferne Königsberg berufen, oder, wie er es sah, verbannt und von seiner Aufgabe getrennt zu werden. Die zehn Jahre in Berlin und die anschließenden zwölf in Königsberg, wo er, der nach den Worten Mommsens „die Brücke zwischen Jurisprudenz und Philologie aufrecht“ erhielt, allenfalls „auf dem trockenen Lande“ Brücken bauen konnte, haben Gradenwitz zutiefst verletzt. Die Rufe nach Straßburg und Heidelberg konnten nurmehr lindern, aber nicht heilen: In Berlin gab es für Gradenwitz keinen Lehrstuhl, in dieser Stadt, nach der er sich sehnte, konnte er nur als Emeritus und Privatmann leben und sein Grab finden.
In Heidelberg wurde Gradenwitz 1910 Gründungsmitglied der Akademie der Wissenschaften, rief 1918 das Papyrus- (Rechtsgeschichtliche) Institut ins Leben, gab 1925 den Index zum Codex Theodosianus heraus und erstellte den Heidelberger Konträrindex der griechischen Papyrusurkunden (erschienen 1931); der persönlich anspruchslose Mann hat diese Arbeiten mit erheblichen Summen aus eigener Tasche finanziert. 1928 ließ er sich vorzeitig emeritieren, verließ in wunderlichem Protest die Neckarstadt, um sie nie mehr zu betreten, d.h. höchstens noch den Bahnhof, den er als „exterritorial“ ansah.
Die ihm noch verbleibenden Jahre hat Gradenwitz teils in Rom, teils in Berlin verbracht. Wie er den Anbruch des Dritten Reiches ertrug, ist unbekannt; das Grab hat ihn psychisch wohl vor Schlimmerem bewahrt.
1925 hatte Gradenwitz die Autobiographie mit einer merkwürdigen Bilanz seines wissenschaftlichen Lebens beschlossen: „Was der Herr Major mir schuldig ... Was dem Herrn Major ich schuldig ...“, und er zog den Saldo zu seinen Ungunsten. Der Passus ist vielen aufgefallen, er leitet sogar den Nachruf ein, den eine italienische Fachzeitschrift auf Gradenwitz brachte. Verstanden wurde er offenbar nicht: Er bedeutet eine Identifizierung mit „Just“ (nachzulesen in Lessings „Minna von Barnhelm“, 1. Aufzug 8. Auftritt).
Nachweis: Bildnachweise: In Autobiographie vor S. 41 und bei W. Kunkel a. a. O. S. 11

Literatur: Autobiographie in: Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 3 (1929); W. Kunkel, Otto Gradenwitz, in: Ruperto-Carola 28 (1960), 10 f.; Gradenwitz-Anekdoten, hg. von D. Seckel, in: Ruperto-Carola 64 (1980); Nachrufe von P. Koschaker und E. Kießling, in: Z. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, roman. Abt. Bd. 36 (1936), IX f. (mit Bibliographie).
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)