Spicker, Gideon 

Geburtsdatum/-ort: 25.01.1840;  Reichenau
Sterbedatum/-ort: 18.07.1912; Münster in Westfalen, beigesetzt auf der Reichenau
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie: 1846-1857 Volksschule; danach Mithilfe in der elterlichen Landwirtschaft
1857-1861 Privatunterricht; Gymnasien Konstanz (1858-1859) und Maria Einsiedeln (1860-1861)
1861-1864 Kapuziner (Frater German) Luzern mit Profess; Studium der Philosophie und Theologie in Freiburg im Br. und Solothurn (1862-1864); Verabschiedung aus dem Orden (1864)
1865-1869 Studium der Theologie und Philosophie in München mit Promotion (Dr. phil.) bei Carl von Prantl (27. 7. 1868)
1869-1875 Privatdozent Freiburg i. Br. mit Habilitation bei Jakob Sengler (17. 7. 1870)
1875 außerordentlicher Prof. der Philosophie in Freiburg
1876-1912 ordentlicher Professor der Philosophie in Münster
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Auszeichnungen: Preußischer Roter-Adler-Orden 4. Klasse (1889); Geheimer Regierungsrat (1898); Preußischer Roter Adler-Orden 3. Klasse (1905)
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Johann Baptist (1811-1868), Landwirt und Rebmann
Mutter: Creszentia, geb. Sauter (1812-1876)
Geschwister: 4:
Emil (1842-1926)
Kilian (geb. 1848)
Linius (1850-1857)
Leo (geb. 1852)
weitere Geschwister früh verstorben
GND-ID: GND/117493295

Biografie: Clemens Siebler (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 263-265

Zwei Veröffentlichungen Spickers geben einen detaillierten Einblick in sein Leben und Schaffen: die Autobiographie „Vom Kloster ins akademische Lehramt“ (1908) und das Spätwerk „Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode“ (1910), in welchem er einem philosophischen Bekenntnis gleich die Summe seines Denkens zog. Wegen der inneren Zusammenhänge sollten die beiden Bücher ursprünglich gemeinsam erscheinen. Der auf der Insel Reichenau geborene Spicker war gleichermaßen durch die reiche Geschichte des heimatlichen Raumes und die religiösen Erlebnisse seiner Jugendjahre geprägt. Von einem starken Wissensdurst getrieben hatte er nur den einen Wunsch, etwas anderes als „Winzer und Ökonom“ zu werden. Als er bereits dem Schulalter entwachsen war, trat er 18jährig, durch Privatunterricht nur unzulänglich vorbereitet, als Hospitant in die „Oberquarta“ (5. Klasse) des Konstanzer Lyzeums (heute Heinrich-Suso-Gymnasium) ein. Da er aber den schulischen Anforderungen nicht zu genügen vermochte, wechselte er 1860 auf das Gymnasium der Benediktiner in Einsiedeln über. In der Absicht, Ordenspriester zu werden, traf er im Angesicht dieser mit großem Vermögen ausgestatteten Abtei seine Entscheidung zugunsten eines Lebens in Armut und trat 1861 bei den Kapuzinern auf dem Weselim in Luzern ein. Doch die von ihm erwartete Übung in der Tugend „des Gehorsams und der Subordination“ war nur schwerlich mit seiner unstillbaren Wissbegierde und Leseleidenschaft in Einklang zu bringen. Auch konnte er sich mit den dem Studiengang zugrunde gelegten Unterrichtsmethoden und Lernzielen nur wenig anfreunden, und mehr und mehr tat sich bei ihm eine unüberbrückbare Kluft zwischen der kirchlichen Lehre und der menschlichen Vernunft und Erfahrung auf. Daher wurde er 1864 von den Gelübden entbunden und aus dem Kloster verabschiedet.
Noch hielt Spicker an dem ursprünglichen Plan fest, Geistlicher zu werden, als er 1865 an der Universität München dank seines guten Ordenszeugnisses die Immatrikulation erwirken konnte. Vor allen anderen Professoren zog ihn dort der Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890) in seinen Bann. Wenig später jedoch wandte er sich ausschließlich dem Studium der Philosophie zu. Sein Lehrer Johannes Huber (1830-1879) ermunterte ihn, sich an einer von der Philosophischen Fakultät (1866) ausgeschriebenen Preisaufgabe („Quellenmäßige Darstellung der Lehre des Petrus Pomponatius Mantuanus“) zu versuchen, verwies ihn aber im Laufe der Bearbeitung des Themas an Carl von Prantl (1820-1888). Künftig war dieser dem Skeptizismus und Pantheismus zuneigende Philosoph der eigentliche Mentor Spickers. Mit seiner preisgekrönten Arbeit erwarb sich Spicker die Zulassung zum philosophischen Rigorosum. Von Johannes Huber auf eine in Freiburg i.Br. freigewordene Privatdozentenstelle aufmerksam gemacht, verließ Spicker 1869 München, um sich bei Jakob Sengler zu habilitieren. Die intensive Beschäftigung mit dem englischen Philosophen Shaftesbury (1671-1713) in seiner Habilitationsschrift eröffnete ihm zugleich den Zugang zur Lessingschen Geschichtsphilosophie und Religionskritik. Zum außerordentlichen Professor wurde er 1875 ernannt. Spickers Berufung zum ordentlichen Professor für Philosophie in Münster (1876) steht in enger Beziehung zum Kulturkampf. Mit der Aufwertung und Erweiterung der dortigen Philosophischen Fakultät erfolgte damals zugleich die Simultanisierung der bisher rein katholischen Akademie, und bei der ersten Besetzung der neu eingerichteten Lehrstühle kamen in konfessioneller Hinsicht sechs Protestanten und zwei (kirchlich ungebundene) Katholiken zum Zuge, unter ihnen Spicker, der als ‚liberaler Katholik‘ der preußischen Regierung genehm war. Sein Ruf nach Münster wurde in den kirchlichen Kreisen Westfalens als eine kulturpolitische Provokation empfunden, die von ihren Gegenspielern in Münster und Berlin durchaus als solche gedacht war.
Spickers Amtsübernahme war von zahlreichen Anfeindungen und Denunziationen begleitet, bei denen sich vor allem der Münsteraner Stadtdechant Hermann Josef Kappen in denkbar ungeschickter und jeder Sachlichkeit entbehrenden Weise hervorgetan hatte. Die Maigesetze waren bereits gemildert, als Spicker wegen seiner Buchveröffentlichung „Lessings Weltanschauung“ (1883) vollends in die Schlagzeilen der kirchlichen Kritik geriet. Der gegen ihn geführte Angriff gipfelte in einer Verhandlung über sein „unerträgliches Heidentum“ im preußischen Abgeordnetenhaus (4. 2. 1884) mit dem Ergebnis, dass er aus der wissenschaftlichen Prüfungskommission für das Lehramt an höheren Schulen herausgenommen wurde. Spicker, der fortan aller religiös-kirchlichen Rücksichtnahmen entbunden war, bot seinen weltanschaulichen Gegnern in der ferneren Zukunft kaum noch Angriffsflächen, auch nicht durch seine Hinwendung zur Anthroposophie, die ihn in brieflichen Kontakt mit Rudolf Steiner (1865-1925) brachte. Im übrigen schuf die formelle Beendigung des Kulturkampfes (1887) die notwendige Voraussetzung, dass dem verdienten Gelehrten auch im katholischen Münsterland die gebührende Anerkennung nicht länger versagt blieb. Hierzu hat Spicker durch seine innere Festigkeit und seinen vornehmen Charakter selbst beigetragen.
Spickers Denken war von der Überzeugung bestimmt, dass der Philosophie von den aufstrebenden Naturwissenschaften zunehmend ihr Platz streitig gemacht werde. Daher wies er ihr als vordringliche Aufgabe zu, jedes Phänomen auf seinen Wahrheitsgehalt rational zu durchdringen und zu begründen. Innerhalb der verschiedenen philosophischen Arbeitsgebiete stellte er vornehmlich der Religion gegenüber das Postulat auf, dass sie weder den Wahrheiten des Denkens noch denjenigen der Erfahrung widersprechen dürfe. Gerade in der Verletzung dieses Widerspruchsprinzips sah er die tiefere Ursache für die Entfremdung des modernen Menschen von der Religion. Spickers Austritt aus dem Kapuzinerorden zog nicht automatisch seine Abkehr von der christlichen Religion nach sich, wie er auch „den Wendepunkt der christlichen Weltperiode“ nicht als „Endpunkt“ verstanden wissen wollte, sondern als „Zeichen eines neuen Verhältnisses des Menschen zu Gott, zur Welt und zu den Kräften seiner eigenen Vernunft“ (Hoyer). Nicht unterschätzt werden darf der starke Einfluss Prantls, von dem Spicker selbst sagte, dass er ihn zum vollendeten Skeptiker gemacht habe. Andererseits fasste er gerade sein späteres philosophisches Bemühen als eine Überwindung Prantls zur Rettung der Religion und Metaphysik auf. Seine „neue weltanschauliche Position“ legte Spicker in enger Anlehnung an Lessing dar: „Vom Christentum bleibt sonach nur die Religion als Sache des Herzens mit Einschluss der Gottes- und Nächstenliebe übrig; die Konfession mit ihrer Bibel, Dogmatik, Kirche ist gefallen, an ihre Stelle tritt die Vernunft, Geschichtsphilosophie und sittliche Praxis“; und so machte er sich den Lessingschen Standpunkt ganz zu eigen, dass die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge seien. Das Resultat ist die für den Liberalismus als Geistestypus charakteristische Verankerung im eigenen Denken und in der individuellen Selbstgewissheit; und an die Stelle der lebendigen Religiosität tritt ein eigentümliches Surrogat, das von Spicker als sein Ideal und als die Essenz seines philosophischen Lebens und Strebens in die Formel gekleidet wurde: „Eine Religion in philosophischer Form auf naturwissenschaftlicher Grundlage“ (Vom Kloster ins akademische Lehramt, 10).
Spicker war seiner innersten Veranlagung nach ein zutiefst religiöser Mensch und ehrlicher Gottsucher. Der gelegentlich geäußerten Vermutung, er sei Dissident gewesen, steht nicht nur entgegen, dass er ein kirchliches Begräbnis erhalten hat. Die ungeschmälerte Aktualität von Spickers Denken wird bis in unsere Zeit bescheinigt. „An der Wende zum 20. Jahrhundert [gibt es] kaum einen anderen Denker, der den Konflikt von Glauben und Wissen mit einer ähnlichen Folgerichtigkeit in sich selbst und den Mitlebenden gegenüber ausgetragen, ihn mit einer solchen Aufrichtigkeit geschildert hat und damit so wenig einseitig und dogmatisch verfahren ist wie er“, urteilt der Münsteraner Philosoph Ulrich Hoyer.
Quellen: UA Freiburg i. Br. B 24/3655; UA Münster i. Westf. Kurator PA Nr. 417, Bestand 5, Nr. 200; Mitteilungen des Heinr.-Suso-Gymnasiums Konstanz; von Bertl Wittmann, Konstanz, Brigitte Ott-Penzkofer, Reichenau, Hartwig von Volkmann, Freiburg i. Br. u. Harald Schwaetzer, Köwerich.
Werke: Verzeichnis in: Biograph.-bibliogr. Kirchenlexikon, begr. u. hg. von F. W. Bautz, fortgef. von T. Bautz, XVII. Bd. (Ergänzungen IV), 2000, Sp. 1320 f.; ferner in: G. Spicker, Am Wendepunkt d. christl. Weltperiode, hg., eingel. u. komm. von H. Schwaetzer, mit einem Vorwort von U. Hoyer, 1998, 124; Vom Kloster ins akad. Lehramt, hg. v. H. Schwaetzer, 1999, 213 f. – Auswahl: Leben u. Lehre des Petrus Pomponatius, 1868; Die Philosophie des Grafen von Shaftesbury nebst Einleitung u. Kritik über das Verhältnis d. Religion zur Philosophie u. d. Philosophie zur Wissenschaft,1872; Lessings Weltanschauung, 1883; Die Ursachen des Verfalls d. Philosophie in alter u. neuer Zeit, 1892; Der Kampf zweier Weltanschauungen. Eine Kritik d. alten u. neuesten Philosophie mit Einschluss d. christl. Offenbarung, 1898; Vom Kloster ins akadem. Lehramt. Schicksale eines ehem. Kapuziners, 1908; Am Wendepunkt d. christl. Weltperiode. Philosoph. Bekenntnis eines ehem. Kapuziners, 1910.
Nachweis: Bildnachweise: G. Spicker, Vom Kloster ins akad. Lehramt, 1914 2. Aufl., vor Titelblatt; A. Niedermeier, Zum 150. Geburtstag, 53; H. Schwaetzer (Hg.), 1999, Buchdeckel u. nach 134; ders., 2002 Buchdeckel (vgl. Lit.).

Literatur: Verzeichnis in: Biograph.-bibliogr. Kirchenlexikon (vgl. W) Bd. XVII, Sp. 1321-1325; H. Schwaetzer (Hg.), Am Wendepunkt d. christl. Weltperiode, 131-137; ders., Vom Kloster ins akadem. Lehramt, 214-217. – Auswahl: N. N. (H. J. Kappen), Erinnerungen aus alter u. neuer Zeit von einem alten Münsteraner, 1. Teil, 1880, 196-199; E. Raßmann, Nachrichten von dem Leben u. den Schriften Münsterländ. Schriftsteller des 18. u. 19. Jh.s., 1881, 205 S.; H. Straubinger, G. Spicker – Ein neuer Gottesbegriff, in: Philosoph. Jahrb. d. Görresgesellsch. 22. Bd., H. 4, 1909, 423-444; ders., Kritik des Spickerschen Gottesbegriffes, ebd. 23. Bd., H. 1, 1910, 23-37, H. 2, 143-160, H. 3, 303-321 u. H. 4, 423-446; R. Eisler, G. Spicker, in: Philosophen-Lexikon, 1912, 603; K. Beuschlein, Die Möglichkeit d. Gotteserkenntnis in d. Philosophie G. Spickers. (Diss. phil. Würzburg), 1914; O. Krummacher, Vorwort zu G. Spicker: Vom Kloster ins akadem. Lehramt, 1914 2. Aufl., 1-6; W. Heinsius, Krisen kath. Frömmigkeit u. Konversionen zum Protestantismus, 1925, 110-116; L. Ficker, Der Kulturkampf in Münster, 1928; E. Th. Nauck (Bearb.), Die Privatdozenten d. Univ. Freiburg i. Br., Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- u. Universitätsgeschichte H. 8: Die Privatdozenten d. Univ. Freiburg 1818-1955, 1956, 102; E. Hegel, Gesch. d. Kath.-Theol. Fakultät Münster 1773-1964, Bd. 1, 1966, 312-316; W. Schleicher, G. Spicker, in: Enciclopedia filosofica, Florenz 1982, Bd. 7, Sp. 1004; A. Niedermeier, Zum 150. Geburtstag G. Spickers am 25. Januar 1840, in: Beiträge z. Weltlage, hg. vom Arbeitskreis zur geistesgemäßen Durchdringung d. Weltlage, 23. Jg. Nr. 95/96, 1990, 52-69; G. Spicker, in: Dt. Biogr. Enzyklopädie Bd. 9, 1998, 399; Kampf zweier Weltanschauungen. Metaphysik zwischen Naturwissenschaft u. Religion im Werk G. Spickers, hg. v. U. Hoyer u. H. Schwaetzer, 1999; H. Schwaetzer, G. Spicker, in: Biograph.-bibliogr. Kirchenlexikon Bd. XVII, 2000, Sp. 1312-1320; „Eine Religion in philosophischer Form auf naturwissenschaftlicher Grundlage“, G. Spickers Religionsphilosophie im Kontext seines Lebens, seines Werkes, seiner Zeit, hg. von U. Hoyer u. H. Schwaetzer, 2002.
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