Wittig, Georg Friedrich Karl 

Geburtsdatum/-ort: 16.06.1897; Berlin
Sterbedatum/-ort: 26.08.1987;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Chemiker, Nobelpreisträger
Kurzbiografie: 1907-1916 Humanistisches Wilhelmsgymnasium in Kassel
1916 Mai-1916 Jul. Student in Tübingen
1916 Jul.-1919 Dez. Kriegsteilnehmer, ab Oktober 1918 Gefangenschaft
1920 Jan.-1923 Apr. Student in Marburg
1923 25. Apr. Promotion zum Dr. phil.: „Untersuchungen über o-Oxydphenil und über die Bildung von Diphenochinonen“
1923 Mai-1932 Jun. Assistent, ab 1930 Oberassistent
1926 10. Feb. Habilitation: „Zur Erschließung der Benzo-g-pyrone“
1932 Jul.-1937 Okt. außerordentlicher Professor an der Universität Marburg
1932 Jul.-1937 Okt. außerordentlicher Professor und Abteilungsleiter des Chemischen Instituts der Technischen Hochschule Braunschweig
1937 1. Nov.-1944 Jan. planmäßiger außerordentlicher Professor für organische Chemie an der Universität Freiburg
1944 Feb.-1956 Sep. ordentlicher Professor und Institutsdirektor an der Universität Tübingen
1956 1. Okt.-1967 Okt. ordentlicher Professor und Institutsdirektor an der Universität Heidelberg
1957 Ehrendoktor der Universität Sorbonne Paris
1979 Nobelpreis für Chemie (zusammen mit H. C. Brown)
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1930 Waltraut, geb. Ernst (1900-1978)
Eltern: Vater: Gustav Ewald Hermann (1867-1945), Kunstmaler, Professor an der Kunstgewerbeschule Kassel
Mutter: Martha Albertine, geb. Dombrowski (1874-1944)
Geschwister: 3:
Walter (geb. 1899)
Olga Bertha (geb. 1902)
Gustav Adolf (geb. 1905)
Kinder: 3:
Erika, verheiratete Gesuato (geb. 1933)
Waltraut (1935-1958)
Ursula (geb. 1937)
GND-ID: GND/117727121

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 404-407

Wittig wurde in eine Künstlerfamilie geboren. Sein Vater stammte aus Glogau, Schlesien, studierte in Berlin und landete mit seiner Familie schließlich im Frühjahr 1902 in Kassel, wo er bis 1932 als Professor an der Kunstbewerbeschule tätig war. Der junge Wittig schwankte längere Zeit, ob er Maler oder Musiker werden sollte. Es existiert ein ausgezeichnetes Selbstportrait von 1912. Als begabter und begeisterter Pianist spielte er täglich stundenlang. Erst ein Zufall, das Handbuch „Chemie im Haushalt“, erweckte sein Interesse für die Chemie. Er begann leidenschaftlich zu experimentieren, die elterliche Küche dazu nutzend, machte Versuche, so sein Bruder Gustav, die nicht ohne Überraschungen und Geruchsbelästigungen für die Familie ausgingen.
Wittig entschied, dass er für die Kunst nicht genug begabt sei, behielt sie aber als Hobby. Nach dem humanistischen Gymnasium begann er sein Chemiestudium in Tübingen, musste aber bald zum Militär; offensichtlich ein guter Soldat wurde er zum Leutnant befördert. 1918 geriet Wittig in englische Gefangenschaft, blieb dort bis Herbst 1919. Als er zurückkehrte, kam er an die Universität Marburg, aber nur mit Mühe, als „Kriegsteilnehmer“ erkämpfte er sich einen Laborplatz bei dem Organiker K. von Auwers. An den Wochenenden kehrte Wittig nach Kassel zurück, um mit Freunden zu wandern. Zur noch größeren Leidenschaft geriet später das Bergsteigen, das er im Alter mit dem Abenteuer der wissenschaftlichen Arbeit verglich.
Nach seiner Promotion bekam Wittig die Stelle eines Unterrichtsassistenten in der anorganischen Abteilung, setzte aber seine Arbeit in der organischen Chemie fort, obwohl er den Arbeitsplatz für die Habilitation mit anderen zu teilen und nachmittags den Schreibtisch auszuräumen hatte. Wittigs erste Arbeiten betrafen Untersuchungen zur Synthese heterozyklischer Verbindungen und führten ihn in die Probleme der Stereochemie, die ihm zum stetigen Hintergrund wurde. Nach der Habilitation las Wittig über „Heterozyklische Ringsysteme“, über „Synthetische Methoden der organischen Chemie“, aber auch über „Grundzüge der Stereochemie“, der er 1930 sein einziges Lehrbuch widmete.
In die Jahre in Marburg fallen zwei wichtige Ereignisse im Leben Wittigs. Er hatte seine zukünftige Ehefrau kennengelernt, die 1926 ebenfalls über heterozyklische Verbindungen bei K. von Auwers promovierte. Während des ganzen Lebens stand sie beruflich an der Seite ihres Mannes, einige literarische Arbeiten publizierten beide zusammen. Das andere Ereignis war die Freundschaft mit Karl Ziegler, der sein Partner im Bergsteigen wurde und das Gebiet der metallorganischen Verbindungen für Wittig eröffnete.
1932 folgte Wittig dem Ruf an die Technische Hochschule Braunschweig. Als außerordentlicher Professor las er dort über „Chemie der aromatischen Verbindungen“ und „Chemie der heterozyklischen Verbindungen“. Seine Forschungsarbeiten schlossen damals stereochemische Probleme von behinderten Reaktionen und behinderten Drehungen ein. Vorwiegend untersuchte er aber Reaktionen der Mono- und Diradikale, insbesondere im Zusammenhang mit Autooxidationserscheinungen und deren Inhibition. Außerdem erweiterten sich seine Interessen auf metallorganische, besonders auf lithium-organische Verbindungen, da letztere als Schlüssel für Synthesen von Modellsubstanzen dienten, die er für seine Studien benötigte.
Nach einigen Jahren schweren politischen Drucks sah sich Wittig gezwungen, im Mai 1937 der NSDAP beizutreten, weil nur die formelle Bindung an die Partei es ihm ermöglichte, an der Hochschule für wissenschaftliche Leistung und weltanschauliche Duldsamkeit zu kämpfen, wie er sich später rechtfertigte. Die Umstände in Braunschweig blieben jedoch schwierig. Deshalb nahm Wittig nach Freiburg Urlaub, wo er unter H. Staudinger die Stelle eines planmäßigen außerordentlichen Professors bekam. In Freiburg blieb Wittig bis zum Frühjahr 1944. Dann wurde er zum ordentlichen Professor und Institutsdirektor nach Tübingen berufen. Er meldete sich in Freiburg beim Zellenleiter der NSDAP ab, unterließ aber die Anmeldung bei der Partei in Tübingen. Trotzdem wurde er im Herbst 1945 durch die französische Besatzungsbehörde seines Amtes enthoben und nur dank energischer Unterstützung durch den Rektor und Kollegen rehabilitiert. Die endgültige politische Entlastung durch die Spruchkammer folgte erst im Juni 1949.
Trotz aller Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeiten waren die Jahre in Freiburg und Tübingen besonders fruchtbar. Sein Hauptgebiet war damals die Entwicklung eines besonderen Zweiges der organischen Chemie, die Wittig „organische Anionochemie“ nannte und heute als „Chemie der Carbanionen“ bezeichnet wird. Hier entdeckte Wittig einen überraschenden Halogen-Metall-Austausch von Lithium gegen Brom und danach gegen Jod und gegen Chlor bei der Wechselwirkung des Phenyllithiums mit aromatischen Halogenderivaten. Gleichzeitig und unabhängig davon wurde eine gleiche Reaktion in den USA entdeckt. Diese Austauschreaktion wurde rasch zu einer wichtigen präparativen Methode. Aus der organischen Anionochemie stammte auch die grundlegende Entdeckung von „Yliden“, einer neuen Klasse der organischen Verbindungen insbesondere der von Phosphor und Stickstoff, die gleichzeitig zwei verschiedene Typen der chemischen Bindung, homeopolare und ionische, besitzen. Auch der Terminus „Ylid“ wurde durch Wittig vorgeschlagen. Mit den Yliden des Phosphors entdeckte Wittig 1953 seine berühmteste, nach ihm benannte Reaktion: die Olefinierung von Verbindungen, die eine CO-Gruppe enthalten, wie Aldehyde, Ketone, Ketene usw. Ein weiteres wichtiges Arbeitsgebiet bildeten neuartige metallorganische Komplex-Verbindungen, die Wittig „at-Komplexe“ nannte. Unter diesen errang Tetraphenylbornatrium unter dem Handelsnamen „Kalignost“ eine weltweite Bedeutung als Reagenz zur quantitativen Bestimmung von Kalium- und Ammonium-Ionen.
1956 nannte K. Freudenberg Wittig seinen einzigen passenden Nachfolger in Heidelberg. Wittig nahm den Ruf an. Er konnte das lang anstehende Problem der Institutstrennung in ein „Organisch-chemisches“ und ein „Anorganisch-chemisches“ lösen und stand ab 1959 an der Spitze des ersteren. In Heidelberg kam für Wittig die Zeit der Ernte, er entwickelte seine früheren Ideen und Ergebnisse mit zahlreichen Mitarbeitern und unternahm auch viele Vortragsreisen.
Wittig erzog mehr als 300 Doktoren der Chemie. Bemerkenswert ist dabei der für die damalige Zeit ungewöhnlich hohe Anteil von Studentinnen, die unter Wittig promovierten. Mit Dankbarkeit erinnerten sich seine Schüler, dass Wittig immer mit jedem einzelnen ausführlich arbeitete und bereit war, auch bei außerwissenschaftlichen Problemen hilfreich zu sein: „Wittig regierte mit strenger Hand, er war jedoch stets auf Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit bedacht“, so eine seiner Schülerinnen.
Das Besondere an der ganzen chemischen Tätigkeit Wittigs war, dass er sich außergewöhnlich klar die Moleküle im Raum vorstellte und daraus die möglichen Reaktionswege dieser Moleküle entwickelte, wobei er auch die Lehre über chemische Bindungen heranzog. Wittig formulierte eine ganze Reihe fruchtbarer strukturchemischer und reaktionsmechanistischer Konzepte. Er unterwarf seine Hypothesen über Reaktionsmechanismen der experimentellen Prüfung und konnte sie so bestätigen oder weiter entwickeln. In seiner außerordentlichen Kunst – und dieses Kennzeichen zieht sich durch alle seine Forschungen – mit empfindlichen und instabilen Stoffen zu experimentieren und in seiner Fähigkeit, die feinsten Besonderheiten der Reaktion zu beobachten, lag etwas vom Stil des Künstlers. Er war immer bereit, dem Anspruch des Neuen in seinen Veruchsergebnissen zu folgen. Als unerwartetes Ergebnis einer solchen Überprüfung entstand insbesondere die erwähnte „Wittig-Reaktion“. Als eine der wichtigsten Methoden der synthetischen organischen Chemie fand diese Reaktion bald ihre industriellen Anwendungen insbesondere für die Herstellung des Vitamins A und vieler anderer Naturstoffe, allerdings ohne Wittigs Teilnahme.
Für die Entwicklung von Phosphorverbindungen „in wichtigen Reagenzien innerhalb organischer Synthesen“ wurde Wittig mit dem Nobelpreis gekrönt, einer Ehrung, die ihm wohl spät zu kommen schien; denn Wittig gab seinem Nobelvortrag den Titel „Von Diylen über Ylide zu meinem Idyll“, worunter dieser Klassiker der organischen Chemie nichts anderes als den Abschluss seiner Forschertätigkeit als Emeritus verstand, der es ihm gestattete, frei von den Verpflichtungen der Lehre weiter als Chemiker zu arbeiten, um sich schließlich ganz den musischen Neigungen zu widmen.
Quellen: UA Freiburg B 133/206, B 24/4165, B 15/131; UA Tübingen 126a/534, 149/36, 149/38, 149/39; StadtA Heidelberg ZGS2-246; UA Heidelberg PA 1254, 3076, Rep. 14, Nr.308, 441, 797; A d. Heidelberger Akad. d. Wiss. Personalakten Wittig; Auskünfte des StadtA Kassel (u. a. aus d. Meldekartei), des StadtA Heidelberg u. des A d. TU Braunschweig.
Werke: Über einfache Chromon- u. Cumarin-Synthesen, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 57, 1924, 88-95; Stereochemie, 1930; (mit U. Pockels u. H. Dröge), Über die Austauschbarkeit von aromatisch gebundenem Wasserstoff gegen Lithium mittels Phenyl-lithiums, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 71, 1938, 1903-1912 u. 72, 1939, 89-92; Synthesen mit lithiumorgan. Verbindungen, in: Angew. Chem. 53, 1940, 241-247; Phenyl-lithium, d. Schlüssel zu einer neuen Chemie metallorgan. Verbindungen, in: Naturwissenschaften 30, 1942, 696-703; (mit G. Felletschin), Über Fluorenylide u. die Stevonssche Umlagerung, in: Liebigs Ann. d. Chemie 555, 1944, 133-145; Alkalimetall-organ. Verbindungen, in: Präparative organ. Chemie; in: FIAT Review of German Science Bd. 37, 1939-1946, 2-12; Über metallorgan. Komplexverbindungen, in: Angew. Chem. 62, 1950, 231-236; Über Ylide u. Ylid-Reaktionen, ebd. 63, 1951, 15-18; (mit P. Davis u. G. Koenig), Phenantrensynthesen über intraionische Isomerisationen, in: Chem. Berr. 84, 1951, 627-632; (mit G. Geissler), Zur Reaktionsweise d. Pentaphenyl-phosphors u. einiger Derivate, in: Liebigs Ann. d. Chemie 580, 1953, 44-57; Fortschritte auf dem Gebiet d. organ. Aniono-Chemie, in: Angew. Chemie 66, 1954, 10-17; (mit L. Pohmer), Über das intermediäre Auftreten von Dehydrobenzol, in: Chem. Berr. 89, 1956, 1334-1351; Komplexbildung u. Reaktivität in d. metallorgan. Chemie, in: Angew. Chem. 70, 1958, 65-71; Old and new in the field of direkted aldol condensations, in: Topics in Current Chemistry 67, 1976, 1-14; (mit U. Schoch-Grübler), Kombination von Carbonyl-Olefinierungsreaktion u. gezielter Aldolkondensation, in: Liebigs Ann. d. Chemie, 1978, 362-375; Von Diyliden über Ylide zu meinem Idyll (Nobelvortrag), in: Les Prix Nobel en 1979, 157-167.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg; Alma mater philippina, SS 1965, 3; Ärzteblatt Rheinland-Pfalz 37, 1984, 695-697; Hessische Allgemeine vom 18.10.1979.

Literatur: R. E. Oesper, G. Wittig, in: Journal of Chemical Education 31, 1954, 387 f.; H. Plieninger, G. Wittig 80 Jahre, in: Ruperto Carola 29, H. 60, 1978, 106 f.; D. Hellwinkel, Persönlichkeit u. wiss. Werk des Nobelpreisträgers G. Wittig, ebd. 33, H. 65-66, 1981, 88-90; R. Huisgen, G. Wittig †, in: Jb. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1987, 275-278 (mit Bild); J. J. Eisch, G. Wittig: A life of chemical fantasy become reality, in: Journal of Organometallic Chemistry 356, 1988, 271-283 (mit Bild).
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