Angstmann, Kurt 

Geburtsdatum/-ort: 30.6.1915;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 12.2.1978;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Lehrer, Politiker (SPD) und Finanzminister von Baden-Württemberg
Kurzbiografie:

1921 – 1926 Volksschule in Mannheim

1926 – 1935 Oberrealschule mit Handelsrealschule, später Tulla-Oberrealschule in Mannheim, Abschluss Abitur

1935 – 1938 Höhere Handelsschule und kaufmännische Lehre bei der Zellstoff-Fabrik Waldhof, Kaufmannsgehilfenbrief

1938 – 1940 Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht

1941 – 1944 Leiter einer Kontingentabteilung bei der Hauptverwaltung der Zellstoff-Fabrik Waldhof in Berlin

1945/1946 Ausbildungslehrgang an der Hochschule für Lehrerbildung in Mannheim

1946 – 1956 Volksschullehrer in Mannheim

1946 – 1972 MdL-SPD in Württemberg-Baden, anschließend Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung, dann MdL in Baden-Württemberg

1947 – 1956 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im württemberg-badischen bzw. baden-württembergischen Landtag

1956 – 1978 Dozent an der Städtischen, später Staatlichen Ingenieurschule Mannheim für die Fächer Gemeinschafts- und Kulturkunde (seit 1969 dort Professor)

1956 – 1960 Vorsitzender des Landwirtschafts- und Ernährungsausschusses des Landtags von Baden-Württemberg

1961 – 1966 Vorsitzender des Finanzausschusses des Landtags von Baden-Württemberg

1966 – 1968 Finanzminister von Baden-Württemberg

1967 – 1977 Mitglied im Aufsichtsrat der Badischen Staatsbrauerei Rothaus (von 1969 – 1977 als Vorsitzender)

1971 – 1975 Stadtrat in Mannheim

Weitere Angaben zur Person: Religion: römisch-katholisch (seit 3. 7. 1975 konfessionslos)
Auszeichnungen: Ehrungen: Ehrensenator der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim (1959); Ehrensenator der Wirtschaftshochschule Mannheim (1962); Großes Verdienstkreuz der BRD (1965); Ehrenring der Stadt Mannheim (1976).
Verheiratet:

1945 (Mannheim) Anneliese, geb. Trumpfheller (1916 – 1982)


Eltern:

Vater: Dr. phil. Hans Albert Ebbecke, evangelisch, (1893 – 1973), Musiker

Mutter: Rosa Oestreicher (auch: Ostreicher/Östreicher), israelitisch, Modistin (1891 – um 1970)


Geschwister:

zwei Stiefgeschwister (ein Bruder, eine Schwester), drei Halbgeschwister (zwei Brüder, eine Schwester)


Kinder:

zwei Söhne, eine Tochter

GND-ID: GND/11775255X

Biografie: Markus Enzenauer (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 8 (2022), 6-9

Angstmann galt nicht nur als „Mann der ersten Stunde, der sich um den Wiederaufbau im Südwesten und um das Land Baden-Württemberg verdient gemacht hat“ (N. N., Nachruf, 1), sondern war ein Parlamentarier, der das Politikhandwerk von der Pike auf erlernt und sich dabei tiefe Sachkenntnis auf verschiedenen Gebieten erworben hatte.

Dass Angstmann in eine Mannheimer Arbeiterfamilie hineingeboren worden sei, war indes ein von ihm selbst lebenslang gegenüber der Öffentlichkeit aufrechterhaltenes Konstrukt, das auf Halbwahrheiten gründete. Geboren wurde Angstmann nämlich als Kurt Oestreicher. Seine Mutter war die ledige Kaufmannstochter Rosa Oestreicher, eine Jüdin, die gemeinsam mit ihrer Schwester in der Garnisonstadt Bruchsal ein Nähgeschäft betrieb. Dort war sie kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges von dem jungen Offizier Hans Ebbecke, einem Pfarrerssohn, schwanger geworden – aus der Sicht ihrer in religiösen Dingen sehr konservativen Familie eine doppelte Schande. Ihr Kind brachte sie in Mannheim zur Welt und gab es bereits einen Tag nach der Geburt in die Obhut des Arbeiters Wilhelm Angstmann und dessen Ehefrau Anna. Anfang der 1920er Jahre heiratete sie und wanderte mit ihrem Mann nach Argentinien aus. Ihr Kind sah sie nach der Geburt nie wieder. Angstmanns leiblicher Vater erfuhr erst später von der Existenz seines Sohnes, erkannte 1941 seine Vaterschaft jedoch an, wohl auch um Angstmann vor der Verfolgung durch das NS-Regime zu schützen und diesem wenigstens den Status eines „Halbjuden“ zu sichern.

Angstmann wusste lange Zeit selbst nichts von seiner unehelichen Herkunft, zumal seine Adoptiveltern schon im November 1921 ihren Nachnamen in seine Geburtsurkunde eintragen ließen. Nach dem Besuch der Volksschule belegte der Knabe zunächst eine Sprach- und Übergangsklasse, ehe er schließlich auf die Tulla-Oberrealschule wechselte, wo er 1935 sein Abitur machte. Dass Angstmann im Gegensatz zu seinen beiden Stiefgeschwistern eine höhere Schule besuchen konnte, deutet auf ein finanzielles Arrangement im Zuge seiner Übergabe an die Adoptiveltern hin.

Als sicher kann gelten, dass die Sozialisation in der fest im Arbeitermilieu verwurzelten Familie Angstmanns politische Haltung formte. Ab 1932 engagierte er sich in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend. Seit 1933 freilich musste er sich bedeckt und von der Partei und ihren Gliederungen Abstand halten. Angeblich habe er – so Angstmann später – aus politischen Gründen nicht studieren dürfen und musste sich mit einer Kaufmanns-Ausbildung begnügen, die er 1935 bei der Zellstoff-Fabrik Waldhof begann. Im Anschluss besuchte er für ein Jahr die Höhere Handelsschule und legte 1938 die kaufmännische Gehilfenprüfung ab.

Ob Angstmann während der NS-Zeit wirklich aus politischen Gründen verfolgt wurde, wie in zahlreichen Presseartikeln und in seinen Nachrufen kolportiert wurde, ist unklar, die diesbezüglichen Angaben sind widersprüchlich.

Als gesichert kann gelten, dass Angstmann von April bis Oktober 1938 zunächst beim Reichsarbeitsdienst in Saarlautern, anschließend als Wehrmachtssoldat beim Infanterieregiment 104 in Landau war. Womöglich ging der Abbruch seines Kriegsdienstes 1940 auf den Erlass vom 8. April 1940 zurück, wonach „Mischlinge ersten Grades“ grundsätzlich aus der Wehrmacht zu entlassen waren. Von November 1940 an war Angstmann jedenfalls ein Jahr wieder in Mannheim gemeldet. Ob er danach, wie er selbst angab, als Leiter einer Kontingentabteilung der Zellstoff-Fabrik Waldhof bis 1944 in Berlin tätig war und dann dort als Hilfsarbeiter in deren Werk Johannismühle bei Niederwutzen dienstverpflichtet wurde und man ihn schließlich aufgrund von Denunziation im März 1945 im Lager Rossau in Sachsen (kein KZ) festhielt, oder ob er von seinen Eltern während der Kriegszeit in einem Dorf im Odenwald versteckt wurde, ist offen. Einiges spricht jedoch für Letzteres.

Warum Angstmann wesentliche Teile seiner Biografie nach den Jahren der Verfolgung nicht offenbarte, bleibt ein Geheimnis. Das Kriegsende bedeutete für ihn jedenfalls nicht nur Befreiung, sondern bot die Chance für einen beruflichen und politischen Neuanfang. Noch vor der deutschen Kapitulation heiratete Angstmann am 28. April 1945 in Mannheim Annemarie Trumpfheller, Tochter des ehemaligen badischen SPD Landtagsabgeordneten Jakob Trumpfheller, der gerade dabei war, die Parteiorganisation der Mannheimer SPD wiederaufzubauen und bald zum Ersten Bürgermeister Mannheims avancierte. Man darf vermuten, dass der Schwiegervater Angstmanns Ambitionen wohlwollend unterstützte. Jedenfalls folgten nun die Weichenstellungen für dessen berufliche und politische Karriere.

Nach dem Krieg belegte Angstmann sogleich einen Ausbildungslehrgang an der Hochschule für Lehrerbildung und wurde schon 1946 Lehrer an der Volksschule Mannheim. Parallel dazu erfolgte der Eintritt in die SPD und knapp zwei Jahre darauf in die neu gegründete GEW. Im November 1946 wurde er zudem als jüngster Abgeordneter in den württemberg-badischen Landtag gewählt.

Im September 1948 fuhr er auf Einladung dorthin emigrierter Freunde nach England – eine Bildungsreise, die es ihm ermöglichte, das dortige Gesellschaftsmodell und politische System zu studieren. Insbesondere faszinierte ihn das angelsächsische Wahlrecht. Noch 20 Jahre später offenbarte er sich als Anhänger des Mehrheitswahlsystems. Er sah es als unabdingbar für die politische Willensbildung an, da mit ihm „der Wähler zu klaren Entscheidungen gezwungen“ werde. Dadurch würden eine handlungsfähige Regierungsmehrheit und eine starke, einheitliche Opposition ermöglicht, während das Verhältniswahlrecht „zur Zersplitterung und zur Bildung radikaler Kräfte geradezu anreizt“. (Beide Zitate nach: Mannheimer Morgen, Abschiedsgespräch, 15. 6. 1968).

Angstmann verstand sich als Pädagoge und Politiker und versuchte beides immer wieder zu verbinden. Leidenschaftlich warb er für den Demokratiegedanken, der sich nach den Jahren der NS-Diktatur erst festigen musste. Im Landtag machte Angstmann schnell von sich reden. Bereits 1947 übernahm er den Posten des parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion und spätestens 1950 war er im Politikbetrieb arriviert. Als Mitglied des Fraktionsvorstandes und verschiedener Ausschüsse konnte er sich auf den Gebieten Finanzen, Bildung, Kultur, Landwirtschaft und Umweltschutz ein sehr breites Erfahrungswissen erarbeiten.

Angstmanns politische Karriere erreichte im Dezember 1966 ihren Höhepunkt: Er wurde Finanzminister in der von CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger (1913 – 2007) geführten Großen Koalition. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörten die Hochschulprojekte in Konstanz und Mannheim, die Abbremsung der Neuverschuldung oder der Steuerstreit zwischen Bund und Ländern. Als Angstmann das Finanzministerium übernahm, waren die Rahmenbedingungen nicht einfach, allerdings war die bestehende Wirtschafts- und Finanzkrise bereits im Abflauen. In der Folge konnte die Neuverschuldung des Landes wesentlich verringert werden. Verschiedentlich wurde von Zeitgenossen geäußert, Angstmann sei unter Ministerpräsident Filbinger nur der „erste Prokurist des Landes“ (Zitat nach: Mannheimer Morgen, Abschiedsgespräch, 15. 6. 1968) gewesen. Tatsächlich ist seinerzeit im Kabinett sehr frei und offen über die Finanzpolitik diskutiert und die mittelfristige Finanzplanung erstmals unter Einbeziehung aller Ressorts erstellt worden, so dass sich für Außenstehende der Eindruck ergeben mochte, dass nicht der Finanzminister die Finanzpolitik machte. Gegen diese Darstellung verwahrte sich Angstmann stets. Die positive Zuschreibung als „Sparminister“ hingegen ließ er für sich gelten, hatte er doch das Finanzministerium in ein sparsam arbeitendes Ressort umgewandelt.

Im zweiten Kabinett Filbinger war Angstmann nicht mehr vertreten. Das schlechte Abschneiden der SPD bei der Landtagswahl vom April 1968, zog heftige parteiinterne Diskussionen u. a. darüber nach sich, ob die Große Koalition fortgesetzt werden sollte. Angstmann sprach sich dafür aus, da er überzeugt war, dass die von ihm und seiner Partei eingeleiteten Programme sich segensreich auswirken würden. Jedoch bedrängte der mächtige DGB die Landes-SPD, das Arbeits- und Sozialministerium mit dem Finanzressort zu tauschen, was letztlich für Angstmann den Verlust seines Ministerpostens bedeutete. Von nun an widmete er sich als Landtagsabgeordneter finanzpolitischen Fragen, beschäftigte sich aber verstärkt mit den Problemen und Anliegen Mannheims bzw. des Rhein-Neckar-Raumes.

Die Verbundenheit mit seiner Heimatstadt drückte sich nicht zuletzt darin aus, dass er hier in rund 30 Vereinen Mitglied war. Privat interessierte sich Angstmann für Kunstgeschichte und klassische Literatur, besonders ausgeprägt aber war seine Naturverbundenheit. So war er u. a. Mitglied im Alpenverein und bei den Naturfreunden. Im Oktober 1971 wurde Angstmann mit den drittmeisten Stimmen aller SPD-Kandidaten in den Mannheimer Gemeinderat gewählt. Dies war ein beachtlicher Erfolg, ließ er doch damit sehr populäre Parteifreunde hinter sich. Kommunalpolitische Herausforderungen stellten für Angstmann nichts gänzlich Neues dar, war er doch bereits in den frühen 1960er Jahren beispielsweise in den Theaterausschuss Mannheims berufen worden.

Einen herben Dämpfer erhielt Angstmann im September 1972 bei der Delegierten-Hauptversammlung der Mannheimer SPD, bei der er nicht in den erweiterten Kreisvorstand wiedergewählt wurde. Hintergrund für diese Abstrafung war, dass er kurz zuvor im Landtag bei der Frage über die Ausgliederung der Unikliniken aus dem Hochschulbereich gegen seine Fraktion und mit der mittlerweile allein regierenden CDU votiert hatte. Diese Gewissensentscheidung verziehen ihm die Genossen nicht, die Angstmann eine Verletzung der Solidarität vorwarfen. Dieser Vertrauensentzug traf ihn hart, weshalb die letzten Jahre seines Wirkens in der Mannheimer SPD von einer gewissen Verbitterung begleitet waren. Bei der kommenden Gemeinderatswahl trat Angstmann denn auch nicht wieder an und schied im Frühjahr 1975 aus.

Politische Weggefährten in- und außerhalb seiner eigenen Partei hoben genauso wie außenstehende Beobachter, Berufskollegen und Freunde die unbedingte Redlichkeit und geradlinige Bescheidenheit als herausragende Charaktereigenschaften des Menschen und Politikers Angstmann hervor. Standhaft für seine Überzeugungen zu kämpfen, sich aber selbst nicht in den Vordergrund zu spielen, sondern sich der Sache wenn nötig unterzuordnen, war der Maßstab, den Angstmann an sich selbst anlegte, und in dieser Hinsicht war er ein Solitär im Politikbetrieb.

Quellen:

HStAS EA 3/150 Bü 2615, EA 5/150 Bü 1, J 191 Angstmann, Kurt; MARCHIVUM Zugang 10/1980 (NL Kurt Angstmann); Zugang 49/1991 Nr. 32; Zugang 68/1993 Nr. 258; ZGS S1/0005, Standes- und Melderegisterunterlagen; Mannheimer Morgen vom 15. 6. 1968, Abschiedsgespräch mit Kurt Angstmann.

Nachweis: Bildnachweise: MARCHIVUM, Bildsammlung, KF018318; weitere Abb.: Gemeinderat 1945 – 1984, 137 (vgl. Literatur), darüber hinaus findet sich reichliches Bildmaterial in Angstmanns Nachlass (vgl. Quellen); sowie MARCHIVUM Bildsammlung AB01452.

Literatur:

N. N., Nachruf, in: Mannheimer Hefte 1/1978, 1; Der Mannheimer Gemeinderat 1945 – 1984, hg. vom Stadtarchiv Mannheim, 1984, 19; W. Messmer, Juden unserer Heimat. Geschichte der Juden aus den Orten Mingolsheim, Langenbrücken und Malsch, 1986, 75 – 80.

Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)